Der sonntaz-Streit: „Der BH deformiert die Brust“
Ohne BH ist die Haltung besser, sagt der Sportmediziner Roullion. Auch eine Dessousdesignerin plädiert für Oben Ohne. Ein Orthopäde widerspricht.
Frauen brauchen keinen BH. Zu diesem Ergebnis kommt der französische Sportmediziner Jean-Denis Rouillon in einer Studie, die er vor kurzem in Frankreich vorstellte. Im sonntaz-Streit schreibt er: „Meine Ergebnisse sprechen deutlich dafür, dass BHs schlechte Auswirkungen auf die Brust haben.“
Da die Teilnahme an der Studie freiwillig war, könne sie nicht repräsentativ für französische Frauen sein, räumt er ein. Allerdings habe er bei allen Probandinnen ohne BH deutliche Verbesserungen in der Haltung und der Form der Brust feststellen können: „Einerseits soll der BH die Brust in eine schöne, einheitliche Form bringen, andererseits deformiert er sie dauerhaft und macht sie abhängig von seiner Stützfunktion.“
Rouillon will allerdings nicht generell Nein zu BHs sagen: „Die Entscheidung sollte Frauen selbst überlassen werden“. Am meisten freue ihn, dass das BH-Thema nun wieder breite Resonanz in den Medien finde: „Heute kann über solch ein Thema offener gesprochen werden als vor ein paar Jahren, der BH ist kein Politikum mehr.“
Geneviève Belot hat an der Studie teilgenommen. Sie trägt seit fünf Jahren keinen BH mehr: „Dank Rouillons Studie lernte ich die Bedeutung einer ausgeprägten Brustmuskulatur schätzen. Ich verstehe nun, welchen Nutzen sie für die Brust hat und wie man sie trainieren kann.“ Sie arbeite selbst als Osteopathin und habe „jeden Tag mit Patientinnen zu tun, die aufgrund verschiedener Ursachen unter Rücken- und Schulterschmerzen leiden oder Atemprobleme haben, auch wegen ihres BHs.“
Der BH macht abhängig
Auch die Dessousdesignerin Stephanie Bebenroth sieht das Tragen des BHs kritisch. Sie schreibt: „Wie viele Maßnahmen der täglichen Hygiene und Pflege kann auch das Tragen von BHs zu einer Gewöhnung führen. Nehmen wir das Beispiel des Lippenpflegestifts: Benutzt man ihn dauerhaft, macht das die Haut abhängig.“ Warum sollte es sich mit dem BH nicht ähnlich verhalten? „Wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der Frauen keine passenden BHs trägt, kann das Weglassen des BHs in der Konsequenz doch nur gut sein.“
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Der Orthopäde Ulf Marnitz zweifelt jedoch an Rouillons Studie. Gerade bei Sportarten wie Trampolinspringen oder Tennis komme es „durch die Trägheit der Brust zu erheblichen Zugkräften, die nicht nur bindegewebsschädlich sind, sondern die Patientin auch aus dem Gleichgewicht bringen können“, so der Mediziner. Ab Körbchengröße C benötigten Frauen auch bei der Büroarbeit einen gut sitzenden BH, um „von den Brüsten nicht nach vorne gezogen“ und in eine „gebeugte Zwangshaltung“ zu verfallen, schreibt Marnitz.
Die taz-Leserin Anne-Luise Lübbe arbeitet als Dessousverkäuferin und hält die Studie für mangelhaft, da Frauen mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit ihre richtige BH-Größe nicht kennen. „Als Bra-Fitterin habe ich schon viele Frauen bei ihrer persönlichen BH-Geschichte begleitet. Ich habe gesehen, in welchem Maße ein passender BH die Brust sogar bei älteren Frauen dauerhaft festigen und Rückenschmerzen lindern oder verhindern kann.“
Die meisten Frauen trügen jedoch BH-Größen und -Schnitte, die ihre Brust dauerhaft verformen können. Ein zu weites Unterbrustband und ein zu kleines Cup kommen am häufigsten vor. Das führe zu Rückenschmerzen und hängenden Brüsten, da das Gewebe durch die zu kleinen Cups in Richtung Achsel verdrängt werde. Die Haut bleibe jedoch am Platz und wird leerer.
Der Muskel reicht nicht in die Brustspitze
„Bei sehr schweren Brüsten kann der Brustmuskel das Gewicht der Brust nicht halten, da der Muskel nicht bis in die Brustspitze reicht“, schreibt Lübbe. „Mit altersbedingt schwindender Elastizität der Haut und durch die Schwerkraft wird die Haut ohne BH stärker gedehnt. Sie ist stärkeren Bewegungen ausgesetzt, die zu feinen Rissen führen, ähnlich wie bei Schwangerschaftsstreifen. Nicht BHs an sich, sondern unpassende BHs sind ungesund.“
Auf unserer Facebook-Seite vergleicht ein taz-Leser den BH mit dem Kopftuch: „In Deutschland ärgert Mensch sich über Frauen, welche sich von den Männern zwingen lassen, ein Kopftuch zu tragen. Und bemerken dabei nicht, wie sehr wir uns an eigene Kleiderzwänge gebunden haben, die uns gar nicht mehr auffallen.“ Das Tragen von BHs sei „eine gesellschaftlich gegebene Norm“. Man betrachte Brüste „als zwei Objekte, die hinter möglichst viel Stoff gehören.“
Die sonntaz-Frage beantworten außerdem Eustache Deschamps, französischer Poet aus dem 14. Jahrhundert, Angela Diwisch, Sexualtherapeutin, Catherine Hakim, Soziologin und taz-Leserin Elena Frense – in der aktuellen sonntaz vom 20./21. April 2013.
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