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Der sonntaz-Streit„Märchen sind von gestern"

Für CDU-Politikerin Annette Schavan gehören Märchen zum kulturellen Gedächtnis. Andere hingegen finden sie nicht mehr zeitgemäß.

Sieht ganz schön alt aus: Froschkönig. Bild: dpa

Die Erziehungswissenschaftlerin und FAZ-Bloggerin Katrin Rönicke sagt im aktuellen sonntaz-Streit, dass Eltern ihren Kindern nicht leichtfertig Märchen vorlesen sollten: „Vor jedem Vorlesen steht das Selberlesen und die Frage: Ist das eine Moral von der Geschicht, die ich gut finde? Will ich das vermitteln?“

Auch Kristin Wardetzky merkt an, dass es nach der Erstveröffentlichung der Grimmschen Märchen massive Vorwürfe gab. Die Erzählforscherin erinnert aber auch daran, dass die Geschichten 200 Jahre später ins Weltdokumenterbe der Unesco aufgenommen wurden. „Eine legendäre Erfolgsgeschichte, die gute Gründe hat. Denn mit diesen Geschichten lösen wir uns von den Fesseln der Realität und richten die Welt so ein, wie sie nach unserem Gutdünken auszusehen hätte.“

CDU-Politikerin Annette Schavan weist unter anderem darauf hin, dass Märchen zum kulturellen Gedächtnis gehören: „Sie haben Spuren hinterlassen – in Bildern, Redensarten, in der Musik und auf der Bühne.“ taz-Leser Mirco Lux sieht das ähnlich: „Greuel wie Schönheit der Volksmärchen gehören zum kollektiven Wissensschatz. Den jemandem vorzuenthalten, wäre ein noch widerlicheres Vergehen als Steine in den Bauch des bösen Wolfs zu füllen.“

Oliver Geister ist Autor und Pädagoge. Im Bezug auf die Kritik an Märchen gibt er zu bedenken: „Die viel gescholtene Grausamkeit im Märchen scheint uns mehr zu beunruhigen als die Kinder. Sie verstehen die Symbolik: Da wird in 'Hänsel und Gretel' nicht eine lebende Hexe verbrannt, sondern das Böse vernichtet. Sicherlich kann man einige Märchen auch kritisch sehen, insofern kann eine Auswahl sinnvoll sein.“

taz.am wochenende

Ein afrikanischer Flüchtling wagt erneut die gefährliche Überfahrt von Marokko nach Spanien. Dieses Mal will er es professioneller angehen. Ob er so die Angst und das Risiko überwinden kann, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. Oktober 2013 . Außerdem: Wird man da irre? Ein Schriftsteller über seinen freiwilligen Aufenthalt in der Psychiatrie. Und: Vater und Sohn – Peter Brandt über Willy Brandt, den Kanzler-Vater. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Seltsam und realitätsfern

Burkhard Meyer-Sickendiek, Literaturwissenschaftler an der FU Berlin, findet, die Märchen unserer Kindheit seien von gestern. „Die Kinderbücher von heute thematisieren etwa den adäquaten Umgang mit Mobbing im Kindergarten, die Angst im Dunkeln oder dass Kinder nicht mit Fremden mitgehen sollen.“ Diese Geschichten machten Kinder selbstbewusst, lösten sich von Stereotypen und thematisierten auch Konflikte zwischen Kindern.

Auch taz-Leserin Christina Mohr hält die Märchen von früher für bedenklich. Sie habe zwar ebenfalls welche gelesen, aber Froschkönig und Co. seien ihr schon damals realitätsfern und seltsam vorgekommen. „Gerade die einfältigen Gut/Böse-Kontraste und die angeblich positive Moral am Schluss lässt sich kaum auf kindliche Lebenswelten übertragen. Die Märchen stammen aus einer Zeit, in der Erzählungen noch als Machtinstrumente eingesetzt werden konnten – wir sollten froh sein, dass es heute nicht mehr so ist.“

Märchen sind aber offenbar nicht nur Kindersache. Silke Fischer, Direktorin des Deutschen Zentrums für Märchenkultur, erklärt: „Wir arbeiten seit dem vergangenen Jahr sehr erfolgreich mit Demenzpatienten. Die vertrauten Inhalte der Märchen sprechen ihr Langzeitgedächtnis auf emotionaler Ebene an. Die Patienten hören aufmerksam zu und fühlen sich deutlich wohler. Hier sind Märchen Erinnerungsanker, denn wer die Märchen einmal gehört hat, vergisst sie sein Leben lang nicht“.

Auch für Ursula Goldmann-Posch, Gründerin des Vereins mamazone, können Märchen einen therapeutischen Nutzen haben: „Wir haben das Projekt 'Mutmachmärchen für Frauen mit Brustkrebs' ins Leben gerufen. In ihrer einfachen Symbolik sprechen Märchen die verborgenen Bilder der menschlichen Seele an und können uns somit helfen, brachliegende Lebensthemen anzuschauen, zu bearbeiten und daraus sogar ein Stück Hoffnung zu schöpfen.“

Die sonntaz-Frage in der aktuellen sonntaz von 19./20. Oktober beantworten außerdem Heinz Rölleke, emeritierter Professor der Bergischen Universität Wuppertal und Maisha Eggers, Erziehungswissenschaftlerin und Geschlechterforscherin.

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9 Kommentare

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  • P
    Picho

    Schon mal was von Archetypen gehört? Ihr werdet sie nicht los,auch wenn noch so viel an den Stellschrauben des Gesellschaft zu drehen versucht wird.

  • S
    Sternbald

    Finde die Debatte ein wenig befremdlich. Sicherlich ist es gut, Kindern Geschichten zu geben, die ihre Lebenswelt widerspiegeln und ihnen zeigen, dass zwischen schwarz und weiß eine Menge Zwischentöne liegen.

    Für Märchen spricht aber, dass sie gerade aufgrund ihrer Skizzenhaftigkeit, Typisierung und aufgrund ihres stark metaphorischen Charakters die Phantasie und das Abstraktionsvermögen fördern.

     

    Was wäre Kindheit ohne Lustgruseln? "Kinderbücher, die "den adäquaten Umgang mit Mobbing im Kindergarten lehren", klingen im Gegensatz dazu für mich arg pädagogisch und erinnern mich auf ungute Art und Weise an die dtv-Pocket-Problembücher, die Jugendliche meiner Generation zu toleranten Menschen erziehen sollten.

     

    Was ein Novum an dem Umstand sein soll, dass heutige Kinderbücher "Angst im Dunkeln [thematisieren] oder dass Kinder nicht mit Fremden mitgehen sollen", ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Gerade erstere scheint mir ein zentrales Thema im Märchen zu sein. Und um was, wenn nicht um die Warnung vor dem bösen Onkel, der als harmloser Fremder des Weges kommt, geht es bitte in Rotkäppchen?

  • Über die Inhalte von Märchen kann und muss man streiten. Es gibt nicht umsonst auch "moderne" Märchen und Märchen für Erwachsene. Mir scheint die Bedeutung der Märchen weniger von ihrem Inhalt als von der Übermittlung geprägt zu sein. Die Situation des Märchenvorlesens ist von gesteigerter Aufmerksamkeit geprägt. Der Vorlesende schenkt dem Kind seine Aufmerksamkeit und das so angenommene Kind hört dem Märchen aufmerksam zu. Daran läßt sich immer wieder anknüpfen und das erklärt auch die Erinnerungsstärke.

  • L
    Lilli

    Wie traurig ist es, dass man mittlerweile selbst Märchen überpädagogisiert und politisiert.

     

    Kinde können auch mal Inhalte lesen, die sei nicht sofort verstehen und die sie überfordern. Daran wachsen sie.

     

    Ein europäisches Kind, dass weder europäische Märchen und Sagen noch christlich-jüdische Kultur vermittelt bekommt, versteht seine eigene Kultur nicht. Und das nur, um irgendwelchen Ideologen Raum zu geben. Furchtbar!

  • 7G
    738 (Profil gelöscht)

    Frau Schavan als Märchentante ist auch hier natürlich Fachfrau!

  • Die Grimmschen Märchen wurden doch schon längst von den Disney-Versionen abgelöst. Würde mich mal interessieren, wie viel Prozent der Deutschen noch das eigentliche Ende des Froschkönigs kennen. Dadurch wird aber auch die verbliebene Gewalt als Cartoongewalt wahrgenommen. Und um das "kulturelle Gedächtnis" vermittelt zu bekommen, muss man ja eben nicht die Originalgeschichten kennen, weil die Kernelemente wieder und wieder in anderen Werken auftauchen. Hänsel und Gretel? Brotkrumen, Lebkuchenhaus. Froschkönig? Goldene Kugel, Frosch mit Krone (auch wenn er die natürlich eigentlich gar nicht hatte).

  • L
    lowandorder

    Hübsch - conclusio: "was bitte ist unter dem Strich der Mehrwert?"

     

    Mit dieser Koofmich-Haltung(Kurt Tucholsky) wollen die - ja was eigentlich?

    Disputanten? der Frage beikommen; ob Märchen noch - auch und vor allem für Kinder zeitgemäß sind?

    drastischer:" aus den Kinderzimmern zu verbannen sind"?

     

    Geht´s noch? Ali Baba, Harun al Raschid, Scheherazade; Andersen,Hauff, Oskar Wilde, die Märchen aus aller Welt usw etc - die wollt ihr in die Tonne kloppen?

    weil darin mobbing nicht behandelt wird (ich wär da vorsichtig, aber sei´s mal angenommen)

    und morgen, übermorgen? - ja dann, wie wär´s mit Janosch (allein die fickenden Hasen, Vögel usw) und Asterix et al?

     

    Ich dreh´s mal zurück: Max und Moritz - standen mal auf dem Index;

    ok - nicht auf dem von der taz;

    nein - da hatte Rom noch das Zepter in der Hand;

    aber frauman darf gespannt sein.

     

    Phantasie to the front - und dem Nutzwertdenken voll übers Maul!

    und dann sehen wir mal weiter;

     

    Bologna via Bertelsmann als Rückschritt hinter Kant et al.

    das reicht euch wohl nicht!?

    da wollt ihr schon früher ansetzen, gellewelle!?

    - in eurem Blockwartwahn;

     

    und dann - voll peinlich - das Demenzmäntelchen als Nutzfahrzeug

    für`s Entsorgungsdepot.

     

    Mit Väterchen Franz."...merkt ihr eigentlich nicht, daß euch keiner mehr ernst nimmt?"

     

    Mit Oskar Wilde(?): "... durch die Flöte konnte man über die Welt und in ferne Länder sehen.." aber die taz: pfiff darauf!

  • G
    gerstenmeyer

    was heist hier zeitgemäss-bei der linken geisteskultur soll wohl

    alles traditionelle abgeschafft werden,oder?

  • KG
    kein Gast

    http://www.youtube.com/watch?v=7a_St9DTuO0

     

    Da freut man sich dann doch, wenn einem Schule und abendliches Vorlesen, ermöglichen aktuelles Entertainment zu genießen.

     

    Da entdecke ich mehr gemeinsame Werte zwischen mir hier im deutschen Walde und den Entwicklern im sonnigen Kalifornien, als mir für den Afghanistankrieg aufgetischt wurden.

     

    Wollen wir die Welt besser machen? Gerne, aber lasst an sinnvollerer Stelle, als denn an Grimms Märchen beginnen. Bitte!