Der lange Weg in die Bedeutungslosigkeit : Karriereverein ohne Idee
Die SPD regiert seit Jahrzehnten als Staatspartei vor sich hin, ohne Zugriff auf die großen Gegenwartsprobleme. Ein Vorschlag, um das zu ändern.
taz FUTURZWEI | Die SPD wurde 1863 aus den Allgemeinen Arbeitervereinen heraus gegründet und hat die „ Arbeiter“ zu einer wirkmächtigen Kraft geformt, mit der sie den ungezügelten Kapitalismus in harten Auseinandersetzungen und großem Erfolg zivilisiert hat.
Das erstmal zur Erinnerung. Soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie waren der Kern ihrer Erzählung an der sich Millionen auf- und ausgerichtet haben. Die politischen Versprechen der SPD, sozialer Aufstieg, soziale Sicherheit und Zugang zu Bildung für alle, hat sie eingelöst.
Jenseits aller aktuellen Defizite gilt: Ein gutes Leben in der Bundesrepublik ist für fast alle Bürger Wirklichkeit geworden. Die SPD war ein entscheidender Machtfaktor für die Entwicklung einer freiheitlichen Demokratie in der Weimarer Republik, sie war in klarer und bitter bezahlter Abgrenzung zu den Nazis und in einer konstruktiven Haltung beim demokratischen, rechtstaatlichen Neuanfang nach 1945.
■ Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
Von 1890 bis 1930 war die SPD bei allen Reichstagswahlen stärkste Partei. 1972 erzielte sie mit Kanzler Willy Brandts Parole „Mehr Demokratie wagen“ bei den Bundestagswahlen mit 45,8 Prozent Zustimmung ihr stärkstes Ergebnis.
Von 1966 bis 1982, 1998 bis 2009 und dann wieder seit 2013 war und ist die SPD Regierungs- oder Mitregierungspartei. Brandt, Schmidt, Schröder und auch Scholz waren SPD-Kanzler mit nachhaltigem politischen Erfolg. Nach der Studentenbewegung sind Anfang der siebziger Jahre fast 300.000 junge Leute in die SPD eingetreten.
Die SPD war für sie als Reformpartei der politische Ort, an dem sie ihre Hoffnungen auf einen Wandel der verfestigten gesellschaftlichen Strukturen in allen Lebensbereichen einlösen wollten. Das ist in vieler Hinsicht gelungen.
Eine Partei ohne Arbeiter, ohne Perspektive?
Die SPD von heute ist keine Arbeiterpartei mehr. Ihre traditionelle Klientel, die Industriearbeiter werden immer weniger gebraucht. Vom Wandel von der fossilen, Ressourcen ausbeutenden hin zu einer wissensbasierten, digitalisierten und von KI-Anwendungen bestimmten Industrie sind sie statusbedrohend betroffen und wählen die AfD.
Die SPD ist auch keine Reformpartei mehr. Für die Jungen bietet sie keine Identität und Gefolgschaft stiftende Erzählung und auch keine Einsatz lohnende Handlungsoptionen. Diesen Platz auf der politischen Agora haben der SPD die Grünen und heute auch noch die Linke abgenommen.
1990 hatte die SPD 943.402 Mitglieder, 2024 waren davon noch 352.116 übriggeblieben. Auch die Zustimmungsraten zur SPD sind seither stark zurückgegangen. Bei bei der jüngsten Umfrage zu den Stammwählern der Parteien sind für die SPD nur noch 9 Prozent gemessen worden.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Die Mehrheit ihrer Mitglieder sind heute eher links-aufgeklärt, sozial und rational denkende Akademiker, erfolgreiche Mittelschichtler, Beamte und Angestellte aus dem öffentlichen Dienst.
Man kann es auch so sagen: Auf ihrem Weg durch die letzten 150 Jahre hat sich die SPD von der berechtigterweise auf sich selbst stolzen Arbeiterpartei zu einer Staatspartei gewandelt, die nicht mehr primär die Interessen ihrer Mitglieder vertritt, sondern die Interessen des Staates.
Stabilität um jeden Preis
Der SPD geht es heute nicht mehr um das realpolitische Annähern an die Umsetzung strategischer Ziele, sondern darum, die gut funktionierende Institutionen der Exekutive auf allen Ebenen zu stabilisieren und den unausweichlichen Strukturwandelwandel von oben so auszubremsen, dass gesellschaftliche Friktionen vermieden werden.
Zwei Beispiele: Die SPD finanziert mit auf Pump beschafften Milliarden den Unternehmern das Umsteuern auf nichtfossile Produktionsmethoden, ohne es an nachvollziehbare Erfolgsnachweise zu binden.
Aber sie hat keine Konzepte, wie etwa die auf diesem Weg arbeitslos werdenden Autobauer neue Perspektiven finden können oder zumindest sozial so abgesichert werden, dass sie nicht einfach im Nicht-mehr-Gebrauchtwerden landen.
Es gibt auch keine Vorstellung der SPD, wie die sozialen Sicherungssysteme in einer defossilisierten, digitalisierten Industriegesellschaft unter Beachtung der demographischen Tatsachen funktionieren und finanziert werden könnten. Stattdessen beteiligt sich die SPD am Herumdoktern an den sozialen Sicherungssystemen mit Leistungskürzungen.
Dabei gibt es viele, wissenschaftlich gut begründete Vorschläge, zu einer Restrukturierung der sozialen Sicherungssysteme, die evidenzbasiert zu einer effektiveren und besseren Versorgung führen würden. Der einzige Politiker in den Reihen der SPD, der diese historische Aufgabe begriffen hat, heißt Karl Lauterbach. Den hat die Partei auf die Hinterbänke verbannt und beteiligt sich nun an der Demontage seiner Krankenhausreform.
Karriereverein für junge Leute
Politologen, Soziologen, Betriebs- oder Verwaltungswirte und Lehrer bilden heute die Mitgliedschaft und das Führungspersonal der SPD. Leute, die Politik im Sinne Max Webers als Beruf, als Lebensinhalt, als Pflicht vor sich selbst und der Geschichte betrachten würden und zugleich in ihren erlernten Berufen erfolgreich sind, gibt es unter ihnen nicht.
Die SPD ist zum Karriereverein für junge Leute geworden, die sich auf deren Ticket einen Zugang zu den öffentlichen Ämtern verschaffen. Der weitere Absturz der SPD in die Bedeutungslosigkeit stört sie erstmal nicht. Die letzten Jahre zeigen ihnen: Geht ja trotzdem irgendwie weiter mit Regieren und Jobs.
Das Tragische ist, dass die machtpolitischen Rahmenbedingungen für eine SPD mit einer erneuerten, zukunftsfähigen Erzählung bestens wären. CDU und Grüne sind im Bund weder allein und auch nicht zusammen in der Lage, Mehrheiten fürs Regieren jenseits der AfD zu gewinnen. Dazu wird die SPD gebraucht.
Damit SPD und Grüne mit der CDU mehr als ein nur defensives Abwehrbündnis gegen den Rechtspopulismus bilden, müsste die SPD eine zukunftsfähige Erzählung schreiben, mit der sie sich, ganz im Sinne ihrer Parteigründer, der Zivilisierung des digitalen Kapitalismus verschreibt, um digitale Diktaturen dauerhaft zu unterbinden.
Die SPD hat für 2027 ein neues Grundsatzprogramm angekündigt. Es ist eine Gelegenheit, das Versprechen ihrer Urväter mit einer erneuerten sozialdemokratischen Erzählung für die nächsten 100 Jahre einzulösen. Gelingt das nicht, war’s das wohl mit den Sozis in der Bundesrepublik.
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