Der Wechsel zur Sommerzeit: Wer an der Uhr gedreht hat
Die Sommerzeit wird 100 Jahre alt. Die Zeitumstellung ist kriegerisch, ungesund und unsinnig. Warum gibt es sie eigentlich noch?
Jeder schätzt lange, helle Abende. Jeder jammert über die kürzer werdenden Tage und nahezu jeder äußert sein Bedauern darüber, dass das Licht des frühen Morgens im Frühjahr und in den Sommermonaten so selten gesehen oder verwendet wird.“
So beginnt das Pamphlet „The Waste of Daylight“ von William Willet, das der englische Unternehmer im Jahr 1907 veröffentlichte. Willet setzte sich für eine Einführung der Sommerzeit ein. Er hatte bei einem frühmorgendlichen Ausritt bemerkt, dass die Menschen ihre Fenster immer noch verdunkelt hielten. Willet schlug vor, die Uhren im Frühling um 80 Minuten vorzustellen, um die gewonnene Zeit sinnvoll zu nutzen. Trotz Zuspruchs von Winston Churchill setzte sich die Sommerzeit jedoch erst 1916 in Großbritannien, Frankreich und Deutschland durch.
Zwei Jahre zuvor hatte der erste Weltkrieg begonnen. Die Uhrenumstellung sollte den Kriegsparteien einen Vorteil verschaffen. Die Menschen sollten früher ihre Felder bestellen und an Kohlen und Petroleum sparen. Damals entschied man sich für die bis heute gültige Uhrzeit, da gegen zwei Uhr nachts die wenigsten Züge fahren.
Als Deutschland den Krieg verloren hatte, wurden alle Notmaßnahmen der Kriegszeit aufgehoben, darunter auch die Sommerzeit. Bei der Nationalversammlung im Jahr 1919 hatten die Mitglieder die überwiegenden Nachteile kritisiert: Felder könnten erst nach Verdunsten des Morgentaus bewirtschaftet werden, Bauern müssten sich nach der Milchabgabe ihrer Kühe richten und Bergarbeiter hätten vom früheren Schichtbeginn keine Vorteile. Ein Großteil der Bevölkerung empfand den Eingriff in ihren Tagesablauf als Schikane.
Kriegswaffe Zeitumstellung
Als die Sommerzeit 1940 erneut eingeführt wurde, hoffte die NSDAP auf einen Beitrag zur Wehr- und Volkskraft: Als deutsches Produkt sei die Sommerzeit so überzeugend und zielführend, dass sich auch Feinde danach richten würden. Tatsächlich hatten Großbritannien und Frankreich die Sommerzeit aber nie abgeschafft.
Nach dem Fall Hitlerdeutschlands wurden in den vier Besatzungszonen unterschiedliche Zeitzonen eingerichtet, in denen eigene Sommerzeiten galten: Die sowjetische Besatzungsmacht richtete sich nach der Moskauer Zeit, weswegen Ost- und Westdeutschland zwei Stunden voneinander getrennt waren. Erst ein paar Monate später wurde die einheitliche Mitteleuropäische Zeit eingeführt und die Sommerzeit wieder abgeschafft.
Nach der Teilung Deutschlands waren beide Staaten zunächst gegen eine erneute Einführung. Da jedoch Großbritannien, Irland, Italien und Frankreich die Sommerzeit behielten und weitere Länder die Einführung planten, sah sich die BRD gezwungen, in der Europäischen Gemeinschaft 1976 für eine Gleichschaltung der Uhren zu stimmen. Doch Bonn zögerte: Man befürchtete, dass die Teilung Deutschlands durch verschiedene Zeitzonen noch größer werden würde.
Im Jahr 1980 einigten sich West- und Ostdeutschland auf eine einheitliche Uhrenumstellung. Doch obwohl die DDR sie direkt wieder abschaffen wollte, da sich kein wirtschaftlicher Vorteil daraus ergeben hätte, überlebte die Sommerzeit die DDR – bis heute.
Seit 1991 liefert die Atomuhr das „Zeitnormal“, die Vorgabe der Zeiteinstellung für jede Küchenuhr. Fünf Jahre später wurden sämtliche Sommerzeiten Europas vereinheitlicht. Das letzte Argument, das nun jedes Jahr wieder zu hören ist: Energie sparen.
Hauptsache produktiv
Es ist „eher nicht mit einer Energieeinsparung zu rechnen“, steht in einer Stellungnahme des Umweltbundesamts vom März 2007. „Durch das Vor- und Zurückstellen der Uhren sparen wir keine Energie: Zwar knipsen die Bürgerinnen und Bürger im Sommer abends weniger häufig das Licht an, allerdings heizen sie im Frühjahr und im Herbst in den Morgenstunden auch mehr – das hebt sich gegenseitig auf.“
Doch nicht nur der wirtschaftliche Vorteil ist fraglich, die Zeitumstellung hat auch gesundheitliche Konsequenzen: Laut einer Untersuchung der Krankenkasse DAK im Jahre 2013 sterben in den ersten drei Tagen nach der Zeitumstellung ein Viertel mehr Menschen durch Herzinfarkt im Krankenhaus. Wenig überraschend ist es daher, dass sich in einer aktuellen Umfrage 74 Prozent der Deutschen gegen die Sommerzeit aussprechen.
Heute steht die Umstellung auf Sommerzeit vor allem für eine Unterwerfung des Einzelnen unter den Takt, den ihm der Kapitalismus vorgibt. Der Kulturkritiker Jonathan Crary spricht sogar von einer Abschaffung des Schlafes zur Gewinnmaximierung.
„Zeit ist Geld“ oder „Morgenstund hat Gold im Mund“, diese Sprichworte geben das Motiv für die Zeitumstellung. Kein Wunder, dass es ein Unternehmer war, jener William Willet aus England, der vor über 100 Jahren das erste Mal die Sommerzeit einführen wollte. Er wünschte sich produktivere Arbeitskräfte. Doch wer seine wenige freie Zeit mit Konsum verbringt, will wenigstens seine Ruhepausen frei einteilen können. Uhrenträger aller Länder, vereinigt euch!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten