Der Wald in Sachsen-Anhalt: Nadellose Fichten, blätternde Borke
Der Harz bildet die Avantgarde des ökologischen und ökonomischen Zusammenbruchs. Aber auch die der Wiederauferstehung.
K ein Volk ist so tief mit dem Wald verwachsen wie das deutsche. Als edle Wilde kamen sie laut Legende aus dem Walde, stillen seit der Romantik ihre Sehnsucht im Tannengrün, erblicken in den Kathedralen der Buchenwälder das Erhabene. Und weil Legenden einen wahren Kern haben und nur darauf warten, ihre Wahrheit zu entfalten, fahren wir in den Harz und schauen, was uns der Wald über Sachsen-Anhalt erzählt.
Der Harz liegt als ruhender Granit in Sachsen-Anhalt und in Niedersachsen. Die beiden Bundesländer betreiben seit 2006 den Nationalpark Harz, was gleichzeitig Wunder einer geglückten Ost-West-Beziehung ist wie einer Bundesländer übergreifenden Zusammenarbeit über sämtliche Verwaltungsgrenzen hinweg. Bis 2022 ist der Harz laut Nationalparkgesetz ein „Entwicklungsnationalpark“, weil der Harz zu wenig Natur und zu viele Fichtenmonokulturen hat.
24.732 Hektar groß, ist der Nationalpark deswegen in Naturdynamikzone, Naturentwicklungszone und Nutzungszone eingeteilt. Förster, Ranger, Nationalparkdirektor müssen bis 2022 laut Nationalparkgesetz auf 75 Prozent der Fläche erst beweisen, dass sie aus den angebauten Fichtenforsten Wälder machen. Dass wieder Rotbuchen an den Hängen wachsen, so wie es nach der letzten Eiszeit eingerichtet war. Eichen sollen sich am Saum ausbreiten, Ulmen, Eschen und Erlen an den Flüssen gedeihen, Eiben, Ahorne, Tannen und Bäume und Kräuter sprießen, die die Waldökosysteme in wärmeren Zeiten des Klimawandels formen werden.
Noch stehen Millionen von Fichten im Harz. Seit dem 19. Jahrhundert haben sie den Eindruck vermittelt, dass der Harz ein dunkler Fichtenwald sei. Dabei würden im Frühling die Hänge in zartem Grün leuchten, wenn Millionen Buchen ihre Blätter austreiben. Sonnenlicht würde auf den Boden fallen, Hainsimsen, Bärlauch, zuvor Märzenbecher und Buschwindröschen blühen.
Dicht an dicht liegen die Fichten entlang der Straße durch den Nationalpark von Schierke hinauf auf den Brocken. Die Wurzelteller ragen zur Straße, Waldboden und Moos zeugen davon, dass hier vor Kurzem noch Bäume standen. Bröselnde Borke klebt an den weißlichen Stämmen, braune Nadeln hängen an den Zweigen und den 20 Meter hinter dem Wurzelteller liegenden Kronen. Kilometerlang liegen die Fichten im Spalier, drei, fünf, acht Reihen aufeinandergefächert, wie Spargel in der Kiste.
Die Nationalparkverwaltung hat sie entlang der Straße umlegen lassen, damit die toten Fichten nicht auf die Straße krachen. Hundertschaften von kahlen Fichten stehen in Reihen bis in den Talgrund zur Kalten Bode und die Hänge hinauf zum Brocken. Da oben, so ab 700 Metern N. N., beginnt ihr natürliches Gebiet, das sie sich bis 800 Meter N. N. die vergangenen paar tausend Jahre mit Buchen geteilt haben. Darüber ist Fichtenland. Nass, kalt, an 320 Tagen von Nebelschwaden durchwabert. Dort liegt die Kernzone des Nationalparks, die ökologische Schatzkammer. Im Mai laufen die Hufabdrücke von Rothirschen über den Waldboden und die wilden Wiesen. Ein Schwarzstorch fliegt plötzlich aus den Wäldern und segelt über die Hermannsklippe gen Westen.
Ost und West kamen zusammen
Kein Buntspecht lacht, kein Fichtenkreuzschnabel tschirpt und trillert, kein Schwarzspecht hämmert die Rinde der toten Fichtenarmee. Hinter der Rinde sitzen keine Larven für den Specht, die daraus erwachsenen Borkenkäfer sind lange ausgeflogen. „Vor drei Jahren war hier ein dichter Fichtenwald“, sagt Friedbert Knolle in die Stille hinein. Knolle ist seit 1994 Sprecher des Nationalparks auf niedersächsischer Seite und vertritt seit 2006 auch den vereinten länderübergreifenden Entwicklungsnationalpark. Er hat seit Anfang der 1990er für einen Nationalpark Harz gestritten. An die politischen Verwicklungen von Grünen und SPD in der ersten Landesregierung unter Gerhard Schröder erinnert er sich, als wenn es gestern gewesen wäre.
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Auf der Ostseite hatte Uwe Wegener mit dem Fall der Mauer dieselbe Idee. Zu DDR-Zeiten war Wegener für den Naturschutz im Forstbetrieb Wernigerode verantwortlich. 46.000 Hektar Forst, fast nur Fichte. Mehr als 1.000 Mitarbeiter in Baumzucht Forst, Sägewerk, Betriebskantine. 1989 im Herbst sei er zum Forstbetriebsleiter gegangen und habe vorgeschlagen, einen Nationalpark einzurichten, erzählt er am Telefon. „Die DDR-Förster waren verunsichert, was mit ihnen wird“, erinnert sich Wegener, „ich war der Hoffnungsträger“. „Du musst die Arbeitsplätze mitnehmen“, hätten sie zu ihm gesagt. Mit den Granden des DDR-Naturschutzes Michael Succow und Hannes Knapp sei er sich einig gewesen, dass sie jetzt oder nie die Chance hätten, die letzten Naturreste in den Hochlagen des Harzes zu retten.
„Die Reifen haben sie mir in Schierke zerstochen“, erzählt Wegener. 1990 sei das gewesen, damals habe er ganz stolz einen Aufkleber „Nationalpark Hochharz“ am Wartburg kleben gehabt und offensichtlich damit provoziert. In Schierke wollten sie Ski-Zirkus und Sprungschanzen und konnten sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages mit einem Nationalpark Geld verdienen könnten. 2020 war bislang das Megajahr, nicht nur im „Feriendorf Schierke“, wo bunte Holzhäuser wie in Schweden die Touristen anziehen. Im Bodetal können sie mit einer Seilbahn gondeln, auch Thale hat ein Feriendorf mit grünen, blauen, roten Holzhäusern, daneben wirbt der Freizeitpark mit Bowlingbahn und Sommerrodelbahn auf Deutsch, Englisch und Niederländisch für Gäste.
Der Buchdrucker ist eine Plage
„Seit 2018 ist der Turbo drin“, sagt Knolle über die sterbenden Fichten. Seit dem ersten der drei aufeinander folgenden Dürrejahre vertrocknen, verhungern, vergehen die Fichten zu Tausenden. Den Todesstoß versetzt ihnen meistens der Buchdrucker, ein fünf Millimeter langer, U-Boot-förmiger Borkenkäfer, der sich mit scharfen Zähnen unter der Rinde hervorbeißt.
Als Larve frisst sich der Buchdrucker durch das Phloem, die nährstoffhaltige Schicht zwischen Baum und Borke. Ein paar Borkenkäfer machen einem gesunden Baum nichts aus. Fichten, Kiefern und andere Nadelbäume verstopfen einfach das Loch mit Harz. Doch wenn die Bäume geschwächt sind und zu wenig Wasser haben, können sie kein Harz produzieren. Die Käfereier wachsen zu Larven heran und schädigen den Versorgungsweg. Keine Nährstoffe, kein Wasser gelangt von den Wurzeln bis in die äußersten Nadeln. Der Baum stirbt.
2018 war das erste von drei Jahren, die auf den Karten des Deutschen Wetterdienstes erst dunkelrot, dann rotbraun eingezeichnet sind. Absolute Trockenheit, mehrere Meter in den Boden hinein. Drei Jahre lang fiel kaum Regen, die Sonne brannte wochenlang aus wolkenlosem Himmel. In Sachsen-Anhalt waren die Jahre die wärmsten seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen 1881. Die Natur in ganz Deutschland darbte, besonders betroffen war die Mitte. 277.000 Hektar Forst sind in den Jahren vertrocknet.
Im Nationalpark Harz sind 5.000 Hektar tote Fichten gewöhnungsbedürftig, aber keine Katastrophe. „Natur Natur sein lassen“ lautet das Credo; die Natur kennt keine Katastrophen. Nur Veränderungen. „Wir haben keinen wirtschaftlichen Schaden“, sagt Knolle. Er beobachtet vielmehr eine Art „Katastrophentourismus“. Als wollten die Leute teilhaben am Verfall und Zeuge einer entstehenden Wildnis sein. Wobei Besucherinnen die neue Wildnis aus den von selbst wachsenden Ebereschen, Birken und Fichten noch auf den Knien suchen müssen.
„Der Silberrückenwald hat einen ganz eigenen Charme“, sagt Knolle und meint die silbrig glänzenden kahlen Fichtenstämme. Ist die Borke erst mal abgebröselt oder von Schwarzspechten weggehämmert, trocknen die Stämme und werden silberweiß. „Wenn man es gut erklärt, gibt es keinen touristischen Abbruch“, sagt Knolle. Als er nach dem ersten Dürresommer 2018 mit anderen Verantwortlichen durch die Fichten bei Schierke ging, rieselten ihm die trockenen Fichtennadeln in den offenen Hemdkragen. Da sei ihm klar gewesen, dass der Sommer das Ende der Fichtenforste im Harz markieren würde.
Den Wald beerdigen
8.000 Hektar Fichtenforst hat Forstbetriebsleiter Eberhard Reckleben im Forstbetrieb Oberharz verloren. Das ist gut die Hälfte seiner Fichtenfläche, insgesamt bewirtschaftet er 19.720 Hektar für den Landesforst Sachsen-Anhalt in mehreren Revieren. 80 Prozent Fichte, der Rest ein paar Tannen, Eichen, mal eine Ulme, Hainbuchen und Rotbuchen. „Das größte Problem ist, den Wald wegzuräumen und zu beerdigen“, sagt Reckleben am Telefon. Was er noch verkaufen kann, verkauft er.
Glücklicherweise schießen die Preise für Holz durch die Decke, doch müssen eben Tausende Laster Zehntausende Stämme abtransportieren. Und das dauert, wenngleich Reckleben froh ist, den Borkenkäfer gestoppt zu haben. Alle Flächen mit Käfern seien geräumt, damit sich die Insekten nicht weiter verbreiten. Auch der Nationalpark räumt in einem Streifen von 500 Metern die toten Fichten ab, damit die Käfer nicht ausfliegen und im schlimmsten Fall Wirtschaftswälder befallen.
Nationalpark und Landesforst stoßen aneinander. Die Fichtenflächen gehörten vor 30 Jahren zusammen, sie wurden im selben Zeitraum gepflanzt, nun knicken sie zur selben Zeit ein. Entlang der Forststraßen haben Waldarbeiter entrindete Fichtenstämme gestapelt. Kilometer um Kilometer geschnittene Stämme, auf Sägewerksmaß portioniert, zu haushohen Stapeln getürmt. Bagger räumen auf den Flächen südlich von Schierke den Waldboden, schieben Äste, Zweige, Rinden zusammen, die die Harvester von den Fichten gerissen haben. Hügelauf, hügelab hinterlassen sie kahles Land.
Ein paar Fichten haben überlebt. Reckleben hofft, sie noch drei, vier Jahre hinhalten zu können. „Um Spielraum für den Umbau zu haben“, wie er sagt. Das sei einfacher, als Tausende Hektar Kahlfläche zu bepflanzen. 350 Hektar hat Reckleben schon aufgeforstet, bezahlt aus Steuergeldern des Landes Sachsen-Anhalt. 120 Hektar Laubbäume, 230 Hektar Nadelbäume. Er probiert es mit Lärchen und Douglasien, zwei Nadelbaumarten aus kalten und nassen Weltregionen. Auf die Fichte in den unteren Höhenlagen setzen Förster seit Ende des 18. Jahrhunderts. Damals begannen sie Fichten in den unteren Lagen zu pflanzen, wo Rotbuchen und noch tiefer Eichen-Hainbuchen-Wälder gediehen.
Der Brotbaum
Doch seit dem Mittelalter hatten Menschen die Laubbäume im Harz für den Bergbau abgehackt. Im 18. Jahrhundert war der Laubwald verbrannt oder in Bergwerksstollen verbaut. Schnell wachsende Fichten schienen die Lösung zu sein. Und so pflanzten sie 200 Jahre lang Fichten im Harz, unbelastet von politischen Systemen in Ost und West. Fichten waren 200 Jahre „der Brotbaum“ der deutschen Forstwirtschaft. Damit haben sich Förster und Waldbesitzer Probleme gezüchtet, die nun in den Zeiten des Klimawandels zur Krise werden.
Fichten pflanzt Reckleben noch als Beimischung. Von den nordamerikanischen Douglasien verspricht er sich viel, denn sie „gehen gut mit den Auswirkungen des Klimawandels um“. „Trockenresistent“ seien die Douglasien, sagt Reckleben, als spräche er vom Anbau in einer Wüstenregion. Douglasien leiden wie alle Bäume unter Wassermangel, doch in ihrer geografischen Heimat an der nordamerikanischen Pazifikküste haben sie gelernt, das Wasser zu speichern. Hitzebeständig. Trockenresistent.
Jahrzehntelang wollten Förster Bäume, die schnell und gerade wachsen. Die Sägeindustrie hat ihre Maschinen auf Nadelbäume ausgerichtet, schon Buchen bereiten den meisten Sägewerken Probleme. Daher wollen sie Fichten und Kiefern. Bisher dachten Förster in Kategorien von Zuwachs, Einschlag, Vorrat. „Vorrat“ nennen sie die Bäume. Um das Credo der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit zu erfüllen, mussten sie bislang nur weniger absägen, als nachwachsen kann. Der Klimawandel aber macht dieses Prinzip zunichte. Nur Menschen jenseits der geschlossenen Forstwelt glauben, dass es im Wald um Natur geht. Nein, es geht um Zuwachs, Einschlag, Vorrat.
Eine Katastrophe
8.000 Hektar tote Fichten übersteigen jeden Forstwirtschaftsplan, jede Erwartung und jede Erfahrung der Förster. „Ich habe mir nicht vorgestellt, dass das mit solcher Brutalität und Geschwindigkeit kommt“, sagt Reckleben, „dass so eine Katastrophe über den Harz kommt.“
Im Wahlkampf kommen die Wälder, besser: die Wirtschaftswälder durchaus vor, bestimmen aber nicht die Debatte. Sachsen-Anhalt ist ländlicher Raum und hat eine stark alternde Gesellschaft. Beigegraue Häuser, von Holunder und Schuppen umrankt, stehen in und zwischen den Dörfern. Feldküchen bieten Erbsensuppe direkt aus dem NVA-Kesselwagen an. Auf den Landstraßen fahren Pick-ups in Tarnfleck, Fahrräder dienen als Transportmittel, nicht als Sportgerät oder Statement für den Klimaschutz. Die meisten Menschen haben andere Sorgen als die toten Wälder.
Die Spitzenkandidat*innen in Sachsen-Anhalt
Die Linke fordert Krankenhäuser in kommunaler Hand, will die Digitalisierung voranbringen und moderne Arbeitsplätze auf dem Land ermöglichen. Die SPD will mehr Lehrkräfte einstellen, die CDU-Kandidatin im Wahlkreis Wernigerode hat den Slogan „Herzenssache Harz“ gewählt und tritt für mehr Bildung und eine bessere Mobilität und Gesundheitsversorgung für Ältere an. Die Grünen setzen auch im Harz auf mehr Klimaschutz. Einzig der AfD-Kandidat versucht es mit Polemik: „Der Harz ist nun mal kein Urwald.“
„Das Thema ist durch“, sagt Uwe Wegener. „Damit gewinnen sie hier keine Wahlen mehr.“ Der Wald ist nicht nur Seelenort und Sehnsuchtsort, sondern spiegelt in seiner industrialisierten Form den Zustand der Gesellschaft. Der Harz ist die Avantgarde des ökologischen und ökonomischen Zusammenbruchs. Und die der Wiederauferstehung.
Noch sind die Kronen licht
Zwischen Buchenlaub im Kerbtal der Ilse streichen Feuersalamander herum, Amseln keckern, Kohlmeisen ziepen und für einen Moment sitzt ein Vogel im Flussbett, der in den Alpen als Ringdrossel durchgehen würde. „Ein paar Ringdrosseln sind hängen geblieben“, hatte Uwe Wegener über die Zugvögel gesagt, die in früheren Zeiten nicht im Harz bekannt waren. Die Rotbuchen, Erlen, Bergahorne am Ufer der Ilse treiben zartgrüne Blätter, die in diesem kalten Mai schon fast ihre volle Größe erreicht haben.
Von einer nadellosen Fichte blättert die Borke. Von einer anderen hat ein Schwarzspecht plattenweise Rinde gemeißelt, um Larven, Asseln und anderes Getier zu finden. Wie Laufstege liegen gestürzte, abgebrochene und abgesägte Fichtenstämme über der Ilse, die so plätschert wie zu den Zeiten, als Heinrich Heine hier vom Brocken herabstieg. Noch sind die Kronen der Buchen, Schwarzerlen und Hainbuchen licht und lassen einen Blick auf den Hang des Tiefenbachskopfs zu. Silbrigweiß glänzen die kreuz und quer liegenden Fichtenstämme in der Sonne. Hier und da steht noch eine kahle Fichte wie ein bröckelnder Schornstein auf einer Industriebrache. Birken und anderes Grünzeug wachsen zwischen den liegenden Fichten hindurch.
Birkensamen wehen heran, keimen zwischen den modernden Fichten und finden auf dem versauerten Boden ausreichend Nahrung. Die Samen aus den orangenen Beeren der Ebereschen landen mit Vogelschiss im alten Forst. Die orangenen Beeren der Eberesche sind sehr beliebt bei allen möglichen Vogelarten – daher ihr Name Vogelbeerbaum. Sie und die Birken sind die Pioniergehölze, die den absterbenden Fichtenforst natürlich und wild bewachsen. Wald eben.
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