„Der Spiegel“ und Martin Heidegger: „Mitschnitt mit devoten Floskeln“
Der „Spiegel“ publizierte 1976 ein äußerst unkritisches Interview mit dem deutschen Philosophen. Medienforscher Lutz Hachmeister hat das nun untersucht.
taz: Herr Hachmeister, in dem Spiegel-Interview, dessen Geschichte Sie erzählen, bekommt der Philosoph Martin Heidegger die Gelegenheit, sein Engagement für das NS-Regime zu retuschieren und allerlei Halbwahrheiten zu fabrizieren. Wie ist das zu erklären?
Lutz Hachmeister: Man muss die Biografie der Beteiligten und die historischen Hintergründe kennen, um zu verstehen, was nicht gefragt und was nur abgehakt wird. Da interessiert besonders der zweite Interviewer, Georg Wolff, zum damaligen Zeitpunkt Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften und vormals SS-Hauptsturmführer sowie Offizier des NS-Geheimdienstes SD. Er hat das Interview konzipiert. Seine Biografie bedingt eine eigene Fragestrategie und auch das Lavieren bei heiklen Punkten.
Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein hatte Heidegger in den langen Vorverhandlungen unter anderem versprochen, „keine inquisitorischen Fragen“ zu stellen. Spiegel-like klingt das nicht.
Heidegger hatte die totale Kontrolle über das Interview, das war die Geschäftsgrundlage. Seine wichtigste Bedingung war, die Publikation bis zu seinem Tod zu „sekretieren“, wie er es genannt hat. Wenn man im Archiv nachschaut, was der Spiegel während der monatelangen Vorbereitung des Gesprächs recherchiert hat, fällt auf, dass Augstein und Wolff mehr wussten, als sie im Interview zu erkennen gegeben haben. Wahrscheinlich haben sie aus Angst, dass Heidegger das Interview abbrechen würde, bestimmte Fragen nicht gestellt.
Zum Beispiel?
Die Tatsache, dass Heidegger sich schon 1931 der NS-Bewegung freundlich annäherte, war dem Spiegel bekannt. Stattdessen kam die Frage „Herr Professor, wann sind Sie eigentlich politisiert worden?“ Es wird auch nicht gefragt, warum er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten ist. Der Tonbandmitschnitt enthält devote Zustimmungsfloskeln wie „Das ist schlagend, Herr Professor!“ Die hat man in der redaktionellen Fassung gestrichen. Ebenso Fragen, in denen Wolffs SS-Biografie für Eingeweihte erkennbar wird.
Das Interview: Der Philosoph Martin Heidegger hielt Journalisten bestenfalls für Intellektuelle zweiter Klasse. Dem Spiegel gab er im September 1966 das einzige längere Interview seines Lebens. Parliert wurde in Heideggers Freiburger Wohnung. Veröffentlicht wurde das Interview erst 1976. Heidegger hatte verlangt, dass das Gespräch erst nach seinem Tod erscheinen dürfe.
Die Beteiligten: Neben dem Ex-NSDAP-Mitglied Heidegger saß ein weiterer Mann mit brauner Vergangenheit am Tisch – der langjährige stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Georg Wolff, der das Gespräch gemeinsam mit Augstein führte. Die freie Spiegel-Fotografin Digne Meller Marcovicz stammt dagegen aus einer NS-Opferfamilie; ihre Halbschwester Cato wurde 1943 von den Nazis hingerichtet.
Das Buch: In „Heideggers Testament: Der Philosoph, der Spiegel und die SS“ rekapituliert der Medienforscher Lutz Hachmeister die Geschichte des „merkwürdigsten aller Spiegel-Gespräche“, wie der Autor es selbst formuliert.
Gibt es in der internationalen Zeitschriftengeschichte andere Interviews, die so lange zwischengelagert wurden?
Ich konnte die Geschichte etwa von US-Magazinen wie Time und Newsweek nicht vollständig erforschen, aber in der Prominenz ist es sicherlich ein singuläres Interview, zumal es ja – nach wiederum leichten Redigierungen durch Heideggers Sohn – Teil der offiziellen Heidegger-Gesamtausgabe geworden ist.
54, ist Medienforscher, Autor und Dokumentarfilmer. Seit 2005 ist er Direktor des wissenschaftlichen Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin. Das Institut finanziert sich durch Unternehmen der Medienbranche und öffentliche Gelder.
Inwiefern ist das Interview heute aktuell?
Ich konnte nicht wissen, dass der Veröffentlichungstermin des Buchs mit einer neuen Welle der Heidegger-Debatte zusammenfällt. In dieser Woche kommen die „Schwarzen Hefte“ heraus – Heidegger-Notizbücher, die die Diskussion über seinen Antisemitismus schon vorab neu angefacht haben. Eine gewisse Aktualität haben auf jeden Fall seine Reflexionen über die Kybernetik. Die führt er im zweiten Teil des Spiegel-Interviews prominent vor, indem er sagt: „Die Philosophie ist tot, sie ist durch die Kybernetik abgelöst worden.“
Was das „Riesenhafte“ angeht, wie Heidegger es nannte, diese allumfassende Kontrolle und Erfassung durch neue Technologien –, da ist er vielen konventionellen Medienkritikern voraus. In Zeiten von Facebook, Suchmaschinen und NSA-Überwachung ist das hyperaktuell. Da muss man ihm eine starke Intuition für Zukunftsthemen zubilligen.
Könnte Heideggers radikale Technikkritik ein Revival erleben bei den heutigen Digital-Skeptikern?
Auf jeden Fall. Das ist jetzt schon so.
Neben dem Heidegger-Interviewer Wolff gab es weitere Ex-NS-Kader unter den Spiegel-Redakteuren. Sie betonen aber, mit Blick auf die Geschichte des Spiegel sei nicht entscheidend, welche Funktionen diese Mitarbeiter in der NS-Zeit hatten, sondern inwiefern sie konkret Einfluss darauf nahmen, welche Ideologien der Spiegel transportierte, und welche Autoren und Informanten zum Zuge kamen. Wird es Zeit, den Spiegel umfassender wissenschaftlich zu erforschen?
Es wäre wahrscheinlich sinnvoll, im Rahmen einer Habilitation den gesamten Spiegel von den Anfängen bis zur Spiegel-Affäre systematisch auf mögliche Einflussvektoren zu untersuchen. Wer könnte bei welchem Artikel als Informant gedient haben? Welche politische Wirkung sollte er erzielen? Und vor allem: Wer sollte konkret abserviert werden? Es war ja lange Zeit eine Spezialität des Spiegels, Leute aus dem Amt zu schreiben.
Wer gehörte zu den Informanten des Spiegels?
Vor allem nationalsozialistische Geheimdienst- und Kripoleute, die auch nach 1945 in dem Milieu gearbeitet haben – sei es für den BND oder für den US-Militärgeheimdienst CIC. In den ersten zehn Jahren des Spiegels lesen sich viele Artikel wie Geheimdienstdossiers.
Die US-Autoren Kenneth Alford und Theodore Savas sagen, 1949 sei sogar Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, Informant für einen Spiegel-Artikel gewesen. Worum ging es?
In dem sollte 1949 ein gewisser Walter Hirschfeld, ein sogenannter Verräter aus den Reihen der SS, bloßgestellt werden, weil er alte Kameraden ans Messer geliefert hat. Es besteht kein Zweifel daran, dass nur Barbie und der an Massenmorden in der Sowjetunion beteiligte SD-Mann Emil Augsburg in ihrer Eigenschaft als CIC-Agenten an die Akten herankommen konnten, die der Spiegel in dem Hirschfeld-Artikel mit großer Akribie referiert.
2012 hat der Spiegel einen Kongress veranstaltet, bei dem es auch um die frühen Jahre ging und bei dem Sie referiert haben. Ist das ein Indiz für einen selbstkritischeren Umgang mit der eigenen Geschichte?
Der Spiegel hat eingesehen, dass man ihn wie jede andere mächtige politische Institution – die er in den 1950er und 1960er Jahren in einem viel größerem Maße als heute war – zeithistorisch erforschen kann und muss. Ich hatte für mein Buch jedenfalls uneingeschränkten Zugang zum Spiegel-Archiv.
Als der Heidegger-Interviewer Wolff, der Ex-Nazi, der beim Spiegel am höchsten aufstieg, 1996 starb, bekam er keinen Nachruf im Magazin. Warum?
Der Mann war in der Redaktion schlicht nicht mehr präsent. Was merkwürdig ist, weil er 1959/60 beinahe Chefredakteur geworden wäre. Außerdem hat er rund 80 Titelgeschichten geschrieben, er war einer der profiliertesten Autoren in der Geschichte des Spiegels überhaupt – und bis in die frühen 1960er Jahre neben Augstein auch der Denker und Stratege des Blatts. Dass kein Nachruf erschienen ist, ist nicht zuletzt deshalb merkwürdig, weil Augstein damals noch lebte. Zumindest ihm hätte ja auffallen können, dass sein Duzfreund Georg Wolff gestorben war.
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