Martin Heidegger nach dem NS: Seine Katastrophe

Voller Selbstmitleid und Ressentiments: In den „Schwarzen Heften“ (1942-1948) wettert der Philosoph gegen Juden, Christentum und Demokratie.

Wenn man auf seinen Pfaden wandelt, sollte man sich auch seiner Irrwege bewusst sein. Bild: dpa

Am 21. April 1945 wurde Freiburg im Breisgau durch den Einmarsch französischer Truppen vom Nationalsozialismus befreit. Der Freiburger Philosoph Martin Heidegger, er war nie aus der NSDAP ausgetreten, saß im Alter von 56 Jahren zu Hause und mochte weder Freude noch Erleichterung empfinden. Für ihn begann die wahre Katastrophe erst jetzt.

Die Behörden der Besatzungsmacht und die von ihr eingesetzten „Reinigungskommissionen“ der Universität taten sich schwer mit dem weltberühmten Philosophen, der sich in einer beispiellosen Weise diskreditiert hatte. Nach einem unmittelbaren Lehrverbot, jahrelangem Hin und Her und unzähligen Gutachten wurde Heidegger fünf Jahre später, ohne dass das Lehrverbot aufgehoben wurde, emeritiert.

In dieser Zeit entstand die vierte Abteilung der „Schwarzen Hefte“, die den Philosophen als ressentimentgeladenen Antisemiten, Feind des Christentums, unbelehrbaren Zeitzeugen sowie überzeugten Verächter der Demokratie ausweisen. Mehr noch: Der Philosoph kritisierte alles, worauf die Bundesrepublik Deutschland gegründet werden sollte: von ihrem Drang nach Wohlstand bis hin zur moralischen Selbstvergewisserung angesichts des Holocaust.

So deutet er den Mord an den Juden „seinsgeschichtlich“: „Wenn erst das wesenhaft ’Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ’Jüdische‘ überall die Herrschaft an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung ’des Jüdischen‘ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt.“

Martin Heidegger: „Gesamtausgabe IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen“. Bd. 97, Anmerkungen I–IV (Schwarze Hefte 1942–1948). Vittorio Klostermann 2015, 58 Euro.

Sechs Millionen Juden sind – mit anderen Worten – jenen Strukturen zum Opfer gefallen, die ihr Glauben fordert. Derlei Hinweise seien, merkt Heidegger später an, kein Antisemitismus – sei dieser doch „töricht“ und „verwerflich“. Das gilt nicht für das Christentum: sofern es den Antisemitismus als „unchristlich“ brandmarke, stelle es damit nur die Raffinesse seiner Machttechnik unter Beweis.

Ob die salvierenden Anführungszeichen in der Passage über das Jüdische so im Manuskript stehen, ist allerdings ungewiss – erst kürzlich hat der Verlag einen Brief an die Herausgeber der jeweiligen Bände geschickt, sich noch einmal der Textbasis zu vergewissern, sind doch die vorliegenden Ausgaben von Heideggers Schriften keine historisch-kritische Ausgabe.

„Ratloses Kriechen“

Bei alledem scheint Heidegger das Christentum noch stärker abzulehnen als das Judentum; sei doch das Christentum nichts als „Metaphysik“ und damit herrschaftliches Denken und Sein. Was den Denker daher vor allem erregt, sind Versuche einer Wiederbelebung demokratischer Kultur: „Wie erbärmlich“ – so Heidegger in Reaktion auf die von nachnationalsozialistischen Intellektuellen wie Dolf Sternberger und Karl Jaspers gegründete Zeitschrift Die Wandlung – „ist dies ratlose Kriechen unter der Beschattung durch den planetarischen Terror einer Weltöffentlichkeit, mit dem verglichen die massive Brutalität des geschichtslosen ’Nationalsozialismus‘ die reine Harmlosigkeit ist – trotz der unübersehbaren Handgreiflichkeit der mitangerichteten Verwüstung.“

Standen doch die Deutschen seiner festen Überzeugung nach nicht nur unter planetarischem Terror, sondern unterlagen einem geistigen Holocaust: Heidegger, der die „Atombombe“ zur Kenntnis genommen hat, schloss, dass demselben Ursprung ein Instrument entstamme, dass „eine Tötungsmaschinerie an den Deutschen angesetzt (…), die, statt in einem Nu auszurotten, Elend und Qual dosiert und alles im Unauffälligen und Schleichenden hält und noch mit christlichen Phrasen und demokratischen Tiraden alles umschleiert“.

Er will erkannt haben, warum sich das politische Christentum für die Demokratie einsetzt: „Weil das Demokratische das Flache schützt und befördert und weil das Christentum mit seiner Flachheit innerhalb der demokratischen Verflachung noch am besten als etwas höheres Geistiges obsiegen und fesseln kann.“ Auch dieses Urteil beruht, wie stets bei dem grollenden Philosophen, auf einer vermeintlichen Einsicht, die er dem griechischen Denken entnommen haben will.

Nationalsozialismus als Massenphänomen

„Demokratie“, da ist Heidegger sicher, „ist Anarchie; denn ihr fehlt die ’Arche‘ im Sein der Herrschaft des Anfänglichen, das faßliche Weiten öffnet und in sie geleitet.“ Der griechische Ausdruck verweist auf einen Urgrund, der – so muss man den Meisterdenker verstehen – von allen, die durch offenes, mehrheitliches Beraten und Abstimmen ihr Leben selbst bestimmen wollen, verkannt wird und daher in die Irre führen muss.

Bei alledem könnte man Heidegger als Philosophen rechts liegen lassen, freilich: Nicht einmal Heidegger kam daran vorbei, dass der Nationalsozialismus ein Massenphänomen war. Daher ging es diesem Nationalsozialisten keineswegs um eine geistesaristokratische Kritik der modernen Massengesellschaft, sondern um ihre Massenmenschen und deren Sehnsucht nach Frieden und Fortschritt, eine Sehnsucht, die jeden wahren Glauben überlagere: „Der Unglaube ist das Bollwerk der Metaphysik. Die Fortschritts- und Wohlstands- und Friedensmoral ist die tägliche Gebrauchsform dieses Unglaubens. Der ’Friede‘ ist die ungestörte Gelegenheit zur wirtschaftlichen und arbeitsmäßigen Ausbeutung der Niedergehaltenen. Der ’Wohlstand‘ ist der Anschein der Harmlosigkeit der sich vollziehenden Ausbeutung. Der ’Fortschritt‘ ist das ’Ideal‘, das denen vorgehalten wird, denen alle Möglichkeiten zum ’Schreiten‘ genommen sind.“

Gemessen daran, dessen versichert sich Heidegger in diesen „Schwarzen Heften“ immer wieder, war sein „Irrtum“ von 1933 ein nachsichtig zu behandelnder Schritt.

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