Der Spesenskandal erschüttert das Parlament: Die britische Revolution
Mit den Skandalen um halbseidene Zweitwohnsitzabrechnungen verliert das britische Parlament seine Aura der Integrität. Als Folge geht eine ganze Epoche zu Ende.
Die Aura des britischen Parlamentssitzes im Palast von Westminster an der Londoner Themse offenbart sich am besten in der Abenddämmerung, wenn die Uhr auf dem Turm "Big Ben" erleuchtet und die tiefe Glocke dahinter die volle Stunde schlägt. Das satte tiefe H der über 13 Tonnen schweren "Great Bell" übertönt den tosenden Berufsverkehr und lässt so manchen Passanten innehalten. Es eröffnet die Abendnachrichten des britischen Fernsehens, selbstverständlich live übertragen und nicht vom Tonband. Es symbolisiert die weltweite Autorität der "Houses of Parliament" als Modell der parlamentarischen Demokratie und als Schaltzentrum der britischen Politik.
Heute zeigt sich, dass dies Kulisse ist, wie so vieles im an Reliquien und Symbolen reichen britischen Staatswesen. Mit den Skandalen um halbseidene Zweitwohnsitzabrechnungen verliert das Parlament seine Aura, und als Folge davon endet eine Epoche: die der Selbstverwaltung Westminsters als souveräner Verein, der sich auf das Vertrauen in die moralische Integrität seiner Mitglieder stützt und Aufsicht als Anmaßung ablehnt.
Wenige Stunden nach dem Rücktritt des skandalumwitterten Parlamentspräsidenten Michael Martin am Dienstagnachmittag erklärte Großbritanniens Premierminister Gordon Brown: "Westminster kann nicht wie irgendein Gentlemens Club operieren, wo die Mitglieder die Regeln aufstellen und sie unter sich anwenden." Es gehe darum, "ein System zu schaffen, das die Souveränität und Geschichte des Parlaments respektiert, aber ins 21. Jahrhundert gehört". Was das heißt, sagte Labour-Fraktionsführerin Harriet Harman am Mittwoch dem Unterhaus: Es soll eine unabhängige "Parliamentary Standards Authority" entstehen, die das Verhalten der Abgeordneten beider Parlamentskammern überwacht.
Anfang 2005: Britisches Informationsfreiheitsgesetz, 2000 beschlossen, tritt in Kraft
April 2005: Parlament lehnt Journalistenanfrage ab, Spesenabrechnungen von Abgeordneten zu veröffentlichen
Juni 2007: Informationsfreiheitskommission ordnet Veröffentlichung der Gesamtsummen der Zweitwohnungskosten der Abgeordneten an. Erste Daten im Oktober veröffentlicht
März 2008: Veröffentlichung einer Richtlinie, die im Einzelnen die erlaubten Obergrenzen für Spesen aufführt. Parlament zieht vor Gericht, um Veröffentlichung der entsprechenden Abrechnungen zu verhindern. Parlamentspräsident Martin blockiert Debatte darüber
Juli 2008: Parlament stimmt gegen Reform des Spesensystems
Januar 2009: Regierung gibt Pläne auf, das Parlament insgesamt vom Informationsfreiheitsgesetz auszunehmen
Februar 2009: Erste peinliche Veröffentlichung über Innenministerin Jacqui Smith, die sich unter anderem die Kosten von Pornofilmen für ihren Mann erstatten ließ
April 2009: Veröffentlichung aller Abrechnungen, aber ohne zentrale Details, für Juli zugesagt
8. Mai 2009: Daily Telegraph beginnt mit der Veröffentlichung sämtlicher Details
15. Mai 2009: Justizstaatssekretär Shahid Malik tritt zurück
19. Mai 2009: Parlamentspräsident Michael Martin tritt zurück
20. Mai 2009: Regierung kündigt grundlegende Reformen an
Darüber gibt es nun Konsultationen unter Leitung von Justizminister Jack Straw. Weil das dauert, führt das bestehende Selbstregulierungskomitee des Unterhauses sofortige Reformen im Abrechnungswesen ein, unter anderem Prüfungen durch den nationalen Rechnungshof und ein Verbot gewisser besonders peinlicher Spesen. Darauf hatten sich alle Parlamentsfraktionen am Dienstagabend geeinigt.
Der neue Vorschlag kommt in allerhöchster Not. Wohl niemandem im ganzen Land ist entgangen, in welchem Ausmaß die 646 Unterhausabgeordneten ihren Job als Selbstbedienungsladen benutzt haben, mit Spesenabrechnungen von insgesamt 490 Millionen Pfund (600 Millionen Euro) in den vergangenen acht Jahren. Es passt ins Klischee, wenn ein englischer Konservativer der Staatskasse 2.200 Pfund zur Reinigung des Wassergrabens rund um seinen Landsitz in Rechnung stellt und ein Labour-Schotte eine Aldi-Plastiktüte für fünf Pence. Aber es geht auch um systematischen Betrug, beispielsweise mit Modernisierungskosten für Häuser, die dann gewinnbringend verkauft wurden. Kein Tag vergeht, ohne dass irgendein Beschuldigter kleinlaut Geld zurückzahlt, seinen Posten verliert oder auf die Wiederaufstellung zu den nächsten Wahlen verzichtet.
Bei den Kommunal- und Europawahlen am 4. Juni könnte sich der öffentliche Unmut in einen beispiellosen Denkzettel verwandeln. Von zweistelligen Ergebnissen für rechtsradikale Protestparteien, einem Absturz Labours unter 20 Prozent bis zu einer massiven Wahlenthaltung reichen die Spekulationen, eventuell auch alles zusammen. Für den Zustand der Politik werden Vergleiche mit der Weimarer Republik vor dem Aufstieg der Nazis gezogen, für den Zustand der Öffentlichkeit Vergleiche mit dem Volkszorn gegenüber der Queen nach dem Tod Prinzessin Dianas 1997. Es scheint, als durchlebe das Land eine seiner periodisch wiederkehrenden Selbstzweifel, wo alles Bestehende und Beständige plötzlich aussieht wie Schall und Rauch und zu verschwinden droht.
Ohnehin haben die Unbeliebtheit der Labour-Regierung und die Finanz- und Wirtschaftskrise das öffentliche Vertrauen in die Institutionen schon vorher schwinden lassen. Der Volkszorn, der sich heute gegen Parlamentarier richtet, zielte noch vor wenigen Monaten auf Banker als Symbole ruinöser Arroganz auf Kosten der anderen. Das Gefühl, ein grundsätzlicher politischer Wandel sei überfällig, ist in dem Maße gewachsen, wie die Politik sich gegenüber der Krise als nur bedingt handlungsfähig erwiesen hat. Wenn sich dann noch die Politiker so raffgierig zu benehmen scheinen wie die Banker, ist das Bild komplett, und zwar komplett düster.
Die Krise des Parlaments ist dabei mehr als die Krise einer Institution. Es ist eine Krise der politischen Repräsentation. Historisch ist Westminster immer etwas mehr gewesen als eine reine Legislative, die Gesetze verabschiedet und Regierungen kontrolliert. Seit 1688 bei der "Glorious Revolution" der Absolutismus des Monarchen an das damals noch nicht gewählte Parlament übertragen wurde, sahen sich die Herren im Palast an der Themse als Verkörperung des Souveräns, sozusagen als Arbeitsversion des Königs für den politischen Alltag. Die Mär von der "parlamentarischen Souveränität", vom Parlament als allentscheidender Legislative über der Regierung als lediglich ausführende Exekutive, prägt noch heute das Selbstverständnis so mancher Abgeordneter und so mancher ihrer Wähler: Für viele Briten stellt das unmittelbare Gespräch mit ihrem Wahlkreisabgeordneten einen Einblick hinter die Kulissen in den sakralen Bereich der Politik dar, während ein Treffen mit einem Minister eher profan ist, auf jeden Fall weniger aufregend.
Der große Verfassungstheoretiker Walter Bagehot aus dem 19. Jahrhundert nannte als erste Funktion des Parlaments, eine Bühne zu sein für die öffentliche Meinung. Ferner sei das Parlament eine Lehranstalt der "Großen und Guten" für das unwissende Volk. Eine Arbeitsgruppe in den 1950er-Jahren drückte das moderner aus: Das britische Parlament sei ein "natürlicher Treffpunkt von Abgeordneten zum Ideenaustausch", hieß es, und "ein Ort, wo der menschlichen Natur freier Lauf gewährt wird und diese sich selbst Grenzen setzt". Damals war das positiv gemeint, heute klingt es wie Hohn.
Gemein ist all diesen Definitionen, dass das Parlament ein Spiegel der Gesellschaft sein soll, und zwar am besten einer, der beim Reflektieren die Falten verschwinden lässt. In der unaufgeregten Pracht von Westminster will die britische Öffentlichkeit sich selbst so wiedererkennen können, wie sie gerne wäre. Jetzt ist der Spiegel zersprungen.
Schon vor dem jüngsten Skandal ergab eine Umfrage der parlamentarischen "Hansard Society", dass nur 19 Prozent der Befragten die Arbeit des Parlaments gut fanden. Weniger als die Hälfte aller Briten unter 45 Jahren gehen noch zur Wahl. Auf einen Systemwechsel durch Regierungswechsel hofft kaum noch jemand, anders als bei der Wahl Margaret Thatchers 1979 oder der Wahl Tony Blairs 1997. Ein Grund dafür ist, dass vor allem Thatcher und Blair das Parlament immer weiter entmachtet haben - erst zugunsten ernannter Gremien, dann zugunsten der Berater des Premiers.
Der Eindruck hat sich verfestigt, dass in Westminster größtenteils nur noch Symbolpolitik gemacht wird. Viel Detailarbeit ist in Ausschüsse verlegt worden, herausragende Persönlichkeiten sind seltener als zweitrangige Existenzen am Beginn ihrer Karriere, Stimmvieh für die Regierungen. Unter Verweis auf diese Umstände verwahrt sich der konservative Historiker Andrew Roberts gegen die Unterstellung, das Parlament sei leider noch ein "Gentlemens Club", und schreibt: "Jeder kann Parlamentsmitglied werden, wenn er ein forsches Temperament hat, meinungsstark ist, uns gerne herumkommandiert, Selbstdarstellung braucht und ziemlich oft an einem nagenden Minderwertigkeitskomplex und Mutterfixierung leidet. Wer würde einem Club voller solcher Menschen angehören wollen?"
Sollte die Reform Westminster zu Ende gedacht werden, müsste sie unweigerlich in eine Reform der gesamten, noch immer weitgehend auf stillschweigendem gegenseitigem Vertrauen basierenden britischen Verfassung münden. Es gibt viele Ideen: ein gewähltes Oberhaus; ein neues Wahlsystem; eine Föderalisierung mit Stärkung der kommunalen Ebene; die Rücknahme von an die EU übertragenen Kompetenzen; mehr Volksabstimmungen, einschließlich einer über solche Vorschläge.
Aber so schnell wird daraus nichts. Nächste Woche hat das Parlament eine bitter nötige Sitzungspause, dann sind Europa- und Kommunalwahlen, dann geht es an die Neuwahl eines Parlamentspräsidenten und danach wird das restliche Programm der Sitzungsperiode abgearbeitet. Am 21. Juli beginnen die Parlamentsferien, die bis zum 12. Oktober dauern. Selbstverständlich wird Großbritannien auch in der Zwischenzeit regiert. Vielleicht sogar besser.
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