piwik no script img

„Der Samen der Gewalt“

Cliquenbildung kann in Schulen zu Quälerei führen. Die vergiftete Atmosphäre muss abgebaut werden, meint der Sozialpsychologe Elliot Aronson. Sonst schlagen die Gedemütigten zurück

Interview SUSAN GILBERT

Sie kritisieren einige der in den USA gängigen Maßnahmen gegen Gewalt an der Schule, so etwa die Strategie der Null-Toleranz und das Aushängen der Zehn Gebote. Warum?

Aronson: Am Aushängen der Zehn Gebote ist nichts falsch. Völlig falsch ist es jedoch, wenn man davon eine Lösung des Problems erwartet.

Ich will nicht behaupten, ich sei völlig gegen Null-Toleranz, aber diese Strategie wirft durchaus auch ernsthafte Probleme auf. Sehr viele Kinder stoßen leere Drohungen aus, weil sie frustriert und unglücklich sind. Die Frage lautet: Wie trennt man die Jugendlichen, die es wirklich ernst meinen, von denen, bei denen das nicht so ist? Keine dieser Strategien dringt zu den Wurzeln des Problems der Gewalt an den Schulen vor: nämlich der vergifteten Atmosphäre.

Was verstehen Sie unter einer vergifteten Atmosphäre an Schulen?

Die cliquenbetonte Atmosphäre der Ablehnung und Demütigung, die eine ganz bedeutende Minderheit der Schüler, ich würde sie auf 30 und 40 Prozent schätzen, sehr, sehr unglücklich macht. Wenn die Jugendlichen an der Spitze der Pyramide anfangen, einen anderen Jugendlichen einen Penner zu nennen, dann übernehmen das auch die aus der zweiten Reihe der Cliquen, weil sie sich auf diese Weise mit der mächtigsten Gruppe identifizieren können. Und als Nächstes wird er von allen aufgezogen. Jeder in der Schule weiß, zu welcher Gruppe jeder gehört. Sie wissen, wen sie ungestraft quälen können.

Die meisten der gequälten Kinder leiden schweigend. Einige von ihnen denken ernsthaft an Selbstmord. Eine Hand voll – und in den nächsten Jahren wird das mehr als nur eine Hand voll sein – schlägt fast blindwütig zurück.

Viele Erwachsenen glauben, Cliquenbildung gehöre ganz natürlich zum Teenagerleben dazu. Stimmt das?

Ich glaube, es gibt eine Tendenz, abgeschlossene Gruppen zu bilden und andere auszuschließen. Für sich genommen wäre das noch nicht weiter schlimm. Aber wenn die Ausschließung die Form von Quälerei und Demütigung annimmt, dann streut man den Samen der Gewalt aus.

Wie kann Ihre Verschränkungsmethode dazu beitragen, die soziale Atmosphäre in den Schulen zu verbessern?

Die Jugendlichen können aus Erfahrung lernen, dass Jugendliche, die anders sind, trotzdem etwas Nützliches und Interessantes zu bieten haben könnten. Man kann einem Jugendlichen immer wieder erzählen, der kleine, dicke Junge mit den Pickeln sei in Wirklichkeit unheimlich nett. Aber das ist kein Ersatz dafür, in einer kleinen Gruppe diesen Jungen auch wirklich als warm, lustig und geschickt kennen zu lernen.

Haben Sie in Schulen, in denen Sie Ihre Lernmethode anwandten, weniger Quälerei und Terrorisieren erlebt?

Es gab auffallende Verhaltensänderungen. Einer meiner Doktoranden stieg auf die Dächer von einigen Schulen in Austin und fing an, die Schüler in den Pausen zu fotografieren. Nach sechs Wochen gab es an den Verschränkungsschulen eine stärkere ethnische Durchmischung als an den anderen Schulen. Außerdem erzählten Lehrer, die gar nicht wussten, dass ein besonderes Programm durchgeführt wurde, die Musiklehrerin zum Beispiel, den Klassenlehrern von einer Änderung: dass sie eine Atmosphäre der Freundlichkeit, Mitgefühl und Öffnung erlebten statt einer gespannten Atmosphäre.

Wie lange hielt das an?

Mir haben Lehrer berichtet – die diese Methode gar nicht anwandten –, dass Jugendliche, die vor fünf Jahren daran teilgenommen hatten, immer noch mehr Zuwendung und Mitgefühl in der Klasse zeigten als andere.

Wie viel verschränkter Unterricht täglich wäre notwendig, damit die sozialen Vorteile deutlich werden?

Wir haben das überprüft und herausgefunden, dass bereits bei nur einer Stunde am Tag bei den Schülern alle Vorteile deutlich wurden, wie zum Beispiel eine Abschwächung der Vorurteile oder dass ihnen die Schule mehr Spaß machte. Wenn Jugendliche nur eine Stunde am Tag in verschränkten Gruppen arbeiten, entwickeln sie Mitgefühl für Menschen, mit denen sie sonst wegen ihres Aussehens nichts zu tun haben wollten.

Offensichtlich wird das kooperative Lernen allein das Problem des feindseligen Cliquenverhaltens in der Schule oder das Problem der Gewalt nicht lösen. Was könnten Schulen sonst noch tun?

Sie können insbesondere versuchen, Kindern beizubringen, wie sie Konflikte friedlich lösen, und sie könnten eine Strategie gegen Quälereien entwickeln.

Es gibt ein sehr erfolgreiches Programm in Norwegen, das von einem Sozialpsychologen namens Dan Olweus eingeführt wurde. In diesem Programm werden Lehrer ausgebildet, terrorisierendes Verhalten zu erkennen und damit umzugehen; kooperatives Lernen wird eingesetzt, die Direktoren sorgen dafür, dass Pausenräume und Spielplätze angemessen überwacht werden, und Berater führen intensive Therapiemaßnahmen mit kleinen Tyrannen und ihren Eltern durch. Das Programm hat die Quälereien um etwa 50 Prozent reduziert.

Mehrere Staaten erwägen die Verabschiedung von Gesetzen, wonach jeder Schulbezirk eine Strategie gegen Quälereien entwickelt. Ist dies ein Schritt in die richtige Richtung?

Es ist eine Schande, dass es für so etwas ein Gesetz geben soll. Natürlich sollten die Schulen versuchen, dagegen einzuschreiten. Ich fürchte jedoch, dass das Gesetz wahrscheinlich eher reaktiv als proaktiv wirkt – das heißt, man wird auf Strafen setzen statt auf Prävention.

In Ihrem Buch empfehlen Sie auch die Einführung von „Freundschaftsbetreuung“ für unbeliebte Schüler. Wie funktioniert das?

Es gibt an jeder Schule eine kleine Gruppe von Jugendlichen, die unbeliebt sind, weil ihnen soziale Intelligenz fehlt – sie sind besonders scheu, sie wissen nicht, wie man ein Gespräch anfängt, ihr Verhalten gegenüber anderen ist seltsam oder unbeholfen. Ein Psychologe, Steven Asher von der Duke-Universität, entwarf eine Serie von sechs Betreuungsstunden, in denen unbeliebte Schüler der achten und neunten Klasse lernten, sich so zu verhalten wie beliebtere Schüler. Ein Jahr danach lagen die Schüler in der Beliebtheitsskala ihrer Klasse in der Mitte.

Wie kann „Freundschaftsbetreuung“ in der realen Schulwelt angewandt werden? Ich könnte mir vorstellen, dass manche Eltern etwas dagegen haben, wenn ihre Kinder auf diese Weise herausgehoben werden.

Ich bin kein Lehrer. Aber eine Möglichkeit wäre die Gründung eines Rhetorikclubs oder das Angebot von Sensitivitätstraining, offen für alle Schüler. Die Lehrer könnten dann die unbeliebten Schüler besonders dazu ermuntern.

Könnten Lehrer dazu beitragen, die soziale Atmosphäre an der Schule zu verbessern, wenn sie eingreifen, sobald sie mitbekommen, dass Schüler andere Schüler auf den Gängen quälen?

Absolut. Viele Eltern sagen, die Verwaltung und die Lehrer an den Schulen ihrer Kinder kümmerten sich nicht um verbale Angriffe. Sie greifen zwar ein, wenn es zu einer Schlägerei kommt, aber bei Quälereien halten sie sich zurück. Ich fände es gut, wenn sie eingreifen würden. Für alle Kinder ist es gut zu wissen, dass die Schule sich offen gegen Quälereien wendet.

Wie können Eltern dazu beitragen, dass es unter Schülern nicht mehr so oft zu Quälereien und Ausgrenzungen kommt?

Eltern können ihren Kindern die positiven Aspekte der Vielfalt nahe bringen, egal ob rassisch, ethnisch oder in Modefragen, oder ob sie klein, groß, fett oder dürr sind. Die Einstellung zu solchen Themen beginnt daheim.

© 2001 – The New York Times. Übersetzung: Meino Büning

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen