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Der Kolonialist im Familienalbum

Nicolai Messerschmidt forscht der Biografie seines Ururgroßvaters nach, der als Soldat in Deutsch-Ostafrika diente. Dabei entdeckt er Lücken in den Erzählungen seiner Familie – und in der deutschen Erinnerungskultur

Wer waren diese Menschen? Eine Spurensuche in der deutschen Kolonialgeschichte

Von Josefine Rein (Text) und Helena Schaetzle (Fotos)

Steif sitzt er in weißer Militär­uniform auf einem Pferd, Füße in den Steigbügeln, die Zügel straff in den Händen. Im Hintergrund die Palmen der ostafrikanischen Tropen, eine Lehmhütte. Neben dem Pferd, etwas tiefer gestellt, ein Schwarzer Soldat. Der weiße Mann mit Schnurrbart blickt auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto streng nach vorn. Sein Ururenkel Nicolai Messerschmidt betrachtet das Foto 120 Jahre später durch seine eckigen Brillengläser, als er durch das schwere Familienalbum blättert. Seit ihm seine Großmutter das Album als Jugendlichem zeigte, lassen ihn die Fragen nicht los: Wer war dieser Mann? Und was hat er dort in Ostafrika getan?

Als kleiner Junge saß Nicolai Messerschmidt oft im Wohnzimmer seiner Großmutter Berbel, an der Wand hinter sich ein Gemälde der afrikanischen Savanne. In der Ecke stand ein alter Holztisch, ein Mitbringsel seines Ururgroßvaters, darauf eine geschnitzte Elefantenfigur, allerdings von Karstadt. Heute, mit 28 Jahren, erinnert sich Messerschmidt, wie er aufmerksam den Erzählungen seiner Großmutter über die Abenteuer ihres Großvaters in Ostafrika lauschte.

Persönlich kennengelernt hatte die Großmutter ihren Opa Theodor Schneemann nicht mehr. Familiengeschichten aus der Kolonialzeit habe sie trotzdem gern erzählt, berichtet Messerschmidt. Nur zu einem Bild habe es in seiner Jugend keine Antworten gegeben.

Messerschmidt blättert die Seiten des Albums um, bis er bei einer Postkarte innehält, die aus der tropischen Urlaubsidylle heraussticht. Die Karte zeigt eine Gruppe von sieben Schwarzen Frauen, schwere Eisenketten hängen ihnen um den Hals. In ihren Händen halten sie lange Holzhämmer. Einige blicken ernst, andere traurig in die Kamera.

Das Foto zeugt von der Anwesenheit der kaiserlichen Truppen in der Kolonie Deutsch-Ostafrika, die mit Urlaubs­idylle nichts zu tun hatte. In Gebieten des heutigen Tansania, Burundi, Ruanda und Mosambik ließen die deutschen Kolonialisten zwischen 1885 und 1918 Plantagen für Kautschuk, Hanf, Baumwolle und Kaffee errichten und drängten Menschen durch unbezahlbare Steuern in die Zwangsarbeit. Für die deutschen Sied­le­r:in­nen vertrieben sie ganze Dorfgemeinschaften von ihren Feldern und nahmen ihnen ihre Lebensgrundlage. Zu dieser Zeit war auch Messerschmidts Ururgroßvater vor Ort.

„Bis in die 2000er Jahre hinein gab es in Deutschland kaum eine kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“, sagt der Historiker Jürgen Zimmerer. Er leitete bis 2024 die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Das erklärt, warum Messerschmidts Großmutter lieber nicht über den Nationalsozialismus redete, gerne aber über die Kolonialzeit. „Es gab für die Menschen keinen Grund, über den Kolonialismus zu schweigen, weil man sich nicht schuldig fühlte“, so Zimmerer. Bis heute gebe es in Deutschland eine koloniale Amnesie, die die Gewalt der Deutschen in den Kolonien verdränge.

Heute möchte Nicolai Messerschmidt verstehen, welche historischen Realitäten sich hinter den Abenteuergeschichten seines Ururgroßvaters verbergen. Als Abschlussprojekt seines Studiums der Gesellschaftstheorie hat er sich deshalb nicht nur mit dem Fotoalbum seiner Großmutter beschäftigt, sondern mit einer ganzen Kiste voller Dokumente. „Afrikakiste“ nannte seine Großmutter die Pappkiste, in der sie Schneemanns Nachlass aufbewahrte. Darin stieß Messerschmidt auf Briefe und Postkarten, die Schneemann an Verwandte in Deutschland geschickt hatte, sowie auf ausgeschnittene Zeitungsartikel. Im deutschen Bundesarchiv fand er zudem die Personalakte seines Ururgroßvaters, sie stammt aus den Unterlagen des Reichskolonialamts. Geübt entziffert er die alte Handschrift auf dem ausgestellten Formular. Unteroffizier Theodor Schneemann, Stiefelmaße: 27 ½ cm. Körpergröße: 1,67. Dienstbeschädigungen: Malaria.

„Aus all diesen Dokumenten habe ich eine grobe Biografie meines Ururgroßvaters erstellt“, sagt Messerschmidt. Was er bisher weiß: Schneemann wird 1879 in eine Bauernfamilie in Rittmars­hausen bei Göttingen geboren. Mit 18 Jahren tritt er der Kavallerie der preußischen Armee bei. 1903 geht er schließlich zur Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Er ist in Dar es Salaam stationiert. Die heutige Millionenstadt an der Küste Tansanias hat damals gerade 20.000 Einwohner:innen. Sie ist der Verwaltungssitz der 1895 gegründeten Kolonie, die fast doppelt so groß ist wie das damalige deutsche Reich. 1907 heiratete Schneemann Bertha Kopp aus Rittmarshausen. Sie zieht zu ihm nach Dar es Salaam, wo sie gemeinsam einen Sohn bekommen.

In Göttingen führt Messerschmidt heute durch das Foyer eines selbst­organisierten Theaters. Eine kleine Wanderausstellung mit dem Titel „Das Album“ zeigt dort die alten Fotografien aus dem Album seines Ururgroßvaters und erklärt zugleich den historischen Hintergrund samt der abgebildeten kolonialen Machtgefüge. Gemeinsam mit der Gruppe Göttingen Postkolonial hat Messerschmidt die Ergebnisse seiner Spurensuchen kuratiert. Vor jeder Aufführung können die Theaterbe­su­che­r:in­nen einen Blick auf die Aufsteller im Foyer werfen. „Ich möchte anderen Familien, deren Kolonialgeschichte in einer Kiste auf dem Dachboden schlummert, eine Hilfestellung für die Aufarbeitung an die Hand geben“, sagt Messerschmidt.

Die Folgen der Ausbeutung

In Tansania sind Spuren des deutschen Kolonialismus bei genauem Hinsehen bis heute erkennbar – zum Beispiel in der gotischen St.-Joseph-Kathedrale an der Hafenpromenade Dar es Salaams oder in Kiswahili-Begriffen wie „shule“. Die ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken der deutschen Kolonialherrschaft beeinträchtigten lokale Gemeinden bis in die Gegenwart, schreibt die Historikerin Nancy Rushohora von der Universität Dar es Salaam. Besonders die ehemaligen Maji-Maji-Gebiete im Süden des Landes seien bis heute von der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes abgehängt – eine Folge der Kolonialzeit.

Damalige Widerstandsführer werden heute in Tansania als Nationalhelden geehrt: Die Straße in Dar es Salaam, die einst nach dem deutschen Gouverneur Hermann von Wissmann benannt war, erinnert heute an Chief Makunganya. 1894 kämpfte er gegen die deutschen Truppen. Aus Grundschulbüchern lernen die Kinder die Geschichten antikolonialen Wiederstandes. Jedes Jahr am 27. Februar gedenkt die Nation den Wi­der­stands­kämp­fe­r:in­nen gegen die Kolonialherrschaft.

In der Ausstellung in Göttingen zeigt Messerschmidt auch einige Fotos von Schneemann, auf denen er auf einem Zebra reitet, eines vor seine Kutsche spannt oder ein blass gestreiftes Zebroid – halb Pferd, halb Zebra – am Strick führt. Als Leiter des Schutztruppengestüts sei es seine Aufgabe gewesen, Zebras zu domestizieren und mit Pferden zu kreuzen, erzählt Messerschmidt. Das Kaiserreich hoffte, sie als widerstandsfähige Nutztiere für Militärexpeditionen ins afrikanische Inland einzusetzen. Anders als Pferde sind sie weniger anfällig für die von der Tsetsefliege verbreitete Schlafkrankheit. Das Vorhaben kam jedoch nie über die Testphase hinaus und scheiterte schließlich. „Dieses Motiv der Unterwerfung der afrikanischen Natur zieht sich durch den gesamten Nachlass“, erklärt Messerschmidt. „Den Kontinent zu beherrschen, hieß für die Kolonialherren auch, seine Natur zu bezwingen.“

In der „Afrikakiste“ seiner Großmutter ist er auf einen Zeitungsartikel von 1903 aus der Deutsch-Ostafrikanischen Zeitung gestoßen. Darin werden die Erfolge des Stallmeisters Theodor Schneemann gewürdigt. Über 120 Jahre wurde dieser Zeitungsausschnitt an die nächste Generation weitervererbt. „Meine Familie war immer stolz auf diese Leistung von Schneemann“, erinnert sich Messerschmidt. Schließlich gelten Zebras als nur schwer domestizierbare, geschweige denn als reitbare Tiere.

Auch er erzählt noch heute gerne von den Zebras seines Ururgroßvaters. Er fragt sich aber auch, wie viel von diesem Erfolg tatsächlich Schneemann zuzuschreiben ist.

Die meiste Arbeit in der Armee wurde nicht von Deutschen verrichtet. Vorwiegend bestand die Schutztruppe aus Nubiern, Somaliern und Zulus. Während der Stationierung Schneemanns unterstanden den etwa 260 deutschen Offizieren bis zu 2.500 sogenannte Askaris. Sie waren die Fußsoldaten in der streng nach rassistischen Hierarchien aufgebauten Truppe.

Messerschmidt beugt sich über einen Aufsteller, um auf ein kleines Detail auf einem der Fotos hinzuweisen. Schräg hinter Schneemann auf seinem Pferd steht ein weiterer weißer Offizier. Er posiert für das Foto, indem er seine Waffe auf einem vor sich hockenden Schwarzen Untergebenen richtet. „Eine widerliche Inszenierung ihrer Macht“, sagt Messerschmidt. Im Laufe der Recherche habe er immer mehr Details der Erniedrigung entdeckt, die ihm als Jugendlichem entgangen waren. Den Schwarzen Soldaten in kurzer Hose zum Beispiel, der am Rand eines weiteren Fotos zu sehen ist. Er hält einem weißen Offizier, der gerade für das Foto in einer Kutsche posiert, sein Bier. Auf einem anderen Foto sieht er einen weißen Kameraden von Schneemann, der sich eine Trommel wie eine Mütze auf den Kopf zieht, wohl um sich über die lokale Kultur lustig zu machen. „Sie fanden das normal, für sie waren die Schwarzen Menschen weniger Wert“, sagt Messerschmidt.

Eine Postkarte aus der Kiste seiner Großmutter bringt ihn immer wieder zum Nachdenken. Es ist eine Ansichtskarte des Vesuvs. Schneemann verschickte sie 1905 aus Neapel, wo er nach seinem Heimaturlaub auf das Schiff nach Dar es Salaam wartete. Er schrieb seiner Verlobten: „Liebe Bertha! Gut angekommen. Der Kapitän wollte uns nur sehen. Abfahrt Dienstag. Der Aufstand ist wieder vorbei. Grüße an alle, Dein Theodor.“

Für manche Antworten ist es zu spät

Die beiläufige Randnotiz verweist auf eine der grausamsten Episoden deutscher Kolonialherrschaft: den Maji-Maji-Krieg. Von 1905 bis 1907 erhoben sich die Menschen im südlichen Tansania gegen die Kolonialregierung. Auslöser war die brutale Ausbeutung: Mit Kopfsteuern drängte die Kolonialverwaltung die Bevölkerung in die Arbeit auf deutschen Baumwollplantagen. Wer sich widersetzte, wurde gefoltert, vergewaltigt oder in die Zwangsarbeit getrieben.

Der Heiler Kinjikitile Ngwale prophezeite damals, ein heiliges Wasser, Maji auf Kiswahili, werde die Aufständischen vor deutschen Kugeln schützen und ihnen den Sieg bringen. Seine Botschaft einte über ethnische Grenzen hinweg rund 20 Bevölkerungsgruppen zu einem der breitesten antikolonialen Aufstände des Kontinents. Doch die deutschen Schutztruppen schlugen den Aufstand gewaltsam nieder. Kinjikitile wurde gehängt. In einer Politik der „verbrannten Erde“ zerstörten Askaris unter dem Kommando deutscher Offiziere Brunnen und brannten Felder nieder. Schätzungsweise 300.000 Menschen fielen diesem Vernichtungsfeldzug zum Opfer.

In Schneemanns Personalakte findet Messerschmidt einen Vermerk: „Beteiligung an der Niederwerfung des […] Aufstandes in D. O. A. 1905, 06, 07“. Doch anders als bei den Kameraden sind keine konkreten Gefechte oder Einsatzorte aufgeführt. Ob Messerschmidt darauf hoffen kann, dass sein Ururgroßvater nicht an den Massakern des Maji-Maji-Kriegs direkt beteiligt war, wird er wohl nie erfahren. Es ist zu spät, um Antworten zu bekommen.

„Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches Unrechtssystem. Es gibt keine positiven Seiten“

Jürgen Zimmerer, Historiker

Für Messerschmidt ist klar, dass die dunkelsten Seiten der Kolonialzeit in seiner Familie zu lange verschwiegen wurden. Seine Mutter kannte das Album, aber das Foto der Schwarzen Zwangsarbeiterinnen in Ketten war ihr damals nicht aufgefallen. „Als ich anfing, meiner Oma Fragen zu stellen, bereute meine Mutter, dass sie ihre Großeltern nicht danach gefragt hatte“, sagt Messerschmidt.

Schon während des Maji-Maji-Kriegs sei dieser in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben, sagt der Historiker Jürgen Zimmerer. Der Grund: Es kämpften nur wenige deutsche Soldaten – die blutige Arbeit überließ das Kaiserreich weitgehend afrikanischen Söldnern. „Auch noch nach dem Verlust der Kolonien infolge des Versailler Vertrags wünschten sich viele das Imperium zurück“, sagt Zimmerer.

Ob Messerschmidts Großmutter vom Massaker in Tansania und anderen Verbrechen wusste? 2023, kurz vor ihrem Tod, befragte er sie dazu – wieder auf dem vertrauten Sofa unter dem Gemälde der afrikanischen Savanne, wo er als Kind ihren Geschichten gelauscht hatte. „Sie war sich einerseits bewusst, dass es Krieg und Gewalt gab“, sagt er, „aber andererseits wollte sie ein positives Andenken an ihren Großvater bewahren.“

Ein Foto aus dem Album fehlt in der Ausstellung: Die grausame Postkarte der aneinandergeketteten Zwangsarbeiterinnen. „Wir zeigen es nicht, weil die Frauen darauf nie zugestimmt hatten, so erniedrigt fotografiert und ausgestellt zu werden“, erklärt Messerschmidt. Die Entscheidung traf er gemeinsam mit den afrodeutschen Prozessbegleiterinnen und Künstlerinnen Patricia Vester und Wilma Nyari, die die Konzeption der Ausstellung rassismuskritisch mitgestalteten. „Erst durch die beiden habe ich begriffen, dass ich diese Bilder nicht einfach unkommentiert an die Ausstellungswand klatschen kann“, sagt Messerschmidt. Stattdessen steht an dieser Stelle der Ausstellung ein Gedicht von Vester.

Ihr Schmerz ihre Wut,

verschickt durch die Zeit –

Sie sprechen zu mir

„Ich war hier. Es hat mich gegeben.

„Unsere Verantwortung als Nachfahren der Kolonialisten“: Nicolai Messerschmidt mit dem Fotoalbum seines Ururgroßvaters

Ihre Taten sind Zeugnisse.

Meins, Deins unser Leben

sind verwobene Geschichte –

ALLES LEBEN“

Zu oft fehle die tansanische Perspektive in der deutschen Aufarbeitung, sagt Vester. „Mit meiner Kunst versuche ich ihre Stimmen einzufangen, sie sichtbar zu machen.“ Es ist der Versuch der Ausstellung, nicht nur aus einer weißen Täterperspektive zu erzählen – etwas, das nicht selbstverständlich sei, so Vester. Bei ihrer Arbeit mit großen Museen stoße sie immer wieder auf Widerstand, wenn es darum gehe, kritischen Schwarzen Stimmen Raum zu geben.

Nicolai Messerschmidt würde gerne wissen, wie die Afri­ka­ne­r:in­nen in Dar es Salaam damals über Schneemann gedacht haben. Eine von ihnen – Frau Symunza – ist die einzige Schwarze Frau, die in seinem Nachlass namentlich erwähnt wird. Messerschmidt zeigt auf einem Foto der Ausstellung auf die Frau, die in ein schlichtes Tuch gekleidet ist. Sie steht mit einer Gruppe Afrikanerinnen vor einem Zeltlager. „Ich würde ihrer Enkelin gerne zuhören, wie ich meiner Oma zuhörte. Wie wurde in ihrer Familie wohl über die Kolonialzeit geredet?“, sagt Messerschmidt. Doch sie zu finden, über ein Jahrhundert später, mit kaum mehr als einem Namen einer Vorfahrin auf der Rückseite eines vergilbten Fotos, ist heute unmöglich.

Ein unbekannter Soldat und Theodor Schneemann Foto: privat

„Gäbe es ein zentrales Dokumentationszentrum zum Kolonialismus, könnte dieses in genau solchen Fällen beraten – wenn Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen oder Behörden ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten wollen“, sagt Historiker Zimmerer. Eine vergleichbare Rolle übernehmen bereits die NS-Gedenkstätten bei der Aufarbeitung der Nazizeit. Die damalige Kulturstaatsministerin Claudia Roth hatte sich den Aufbau eines solchen Gedenkortes zur Aufgabe gemacht, als sie 2024 die Aufarbeitung des Kolonialismus – neben DDR und National­sozialismus – zur dritten Säule der deutschen Erinnerungskultur erklärt hatte. „Das war der Höhepunkt in der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus“, sagt Zimmerer.

2023 reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Tansania und entschuldigte sich dort erstmals offiziell bei den Nachfahren der Opfer des Maji-Maji-Krieges. Erreicht worden sei dieser politische Wendepunkt maßgeblich durch langjährige zivilgesellschaftliche Bemühungen, so Zimmerer. Seit über 15 Jahren engagierten sich Diaspora-Gemeinschaften und postkoloniale Gruppen dafür, dass Deutschland endlich Verantwortung für seine Vergangenheit übernehme.

Doch Roth scheiterte mit ihrer Reform der deutschen Erinnerungspolitik. Der Widerstand, auch bei Gedenkstätten zum Nationalsozialismus und zur SED-Diktatur, war groß. Dabei ging es nicht nur um Gelder, zentral war die als Historikerstreit 2.0 bekannte Debatte um die erinnerungspolitische Positionierung des Kolonialismus im Verhältnis zur Schoah. Seitdem beobachtet Zimmerer Rückschritte in der kolonialen Aufarbeitung: Bestehenden und geplanten Projekten seien die Fördermittel entzogen worden. „Auch die konservative Rechte erkennt zunehmend das politische Potenzial, das im Widerstand gegen die Aufarbeitung liegt“, warnt er. Dazu gehöre auch der derzeitige Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. In dessen 2018 erschienenem Buch „Das Konservative Manifest“ kritisiert er die seiner Ansicht nach einseitig negative Erinnerungspolitik, die von „moralischen Gewissensbissen“ geprägt sei. Dem widerspricht der Historiker Jürgen Zimmerer klar: „Der Kolonialismus ist ein strukturell rassistisches Unrechtssystem. Punkt. Es gibt keine positiven Seiten.“ Hoffnung, dass sich unter Weimer etwas an der Erinnerungspolitik ändern wird, hat Zimmerer kaum. Angesichts der stockenden staatlichen Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus seien aber zivilgesellschaftliche Initiativen wie die von Nicolai Messerschmidt umso wichtiger.

Der sagt, Erinnerungsarbeit müsse wenn nötig auch den Staat kritisieren. „Denn der deutsche Kolonialismus ist noch nicht wirklich vorbei.“ Er wirke fort in der deutschen Abschiebepolitik und in ungleichen Handelsbeziehungen mit afrikanischen Staaten. Messerschmidt hofft, dass die Be­su­che­r:in­nen seiner Ausstellung durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch einen schärferen Blick auf koloniale Kontinuitäten der Gegenwart gewinnen. „Das ist meine und auch unsere Verantwortung als Nachfahren der Kolonialisten.“

Als Schneemann 1910 nach Deutschland zurückkehrte, zog er in eine Wohnung im Stadtzentrum von Göttingen und erhielt eine Anstellung als Oberinspektor im städtischen Badehaus – eine angesehene Verwaltungsposition, die ihm sonst als Sohn einer Bauernfamilie wohl verwehrt geblieben wäre. Dazu kam ein stattlicher Rentensold für ehemalige Kolonialsoldaten. „Für ihn bedeutete der Kolonialdienst einen sozialen Aufstieg“, fasst Messerschmidt zusammen. Er habe einen gewissen Standesdünkel entwickelt, so erzählt es seine Großmutter. Historiker Jürgen Zimmerer bestätigt: „Das war eine häufige Motivation. Selbst wenn man im Kaiserreich ganz unten stand – in der Kolonie, mit ihrer rassistischen Hierarchie, war man plötzlich jemand.“

In den betroffenen Communities in Tansania ist die koloniale Gewalterfahrung auch 120 Jahre später spürbar. Insbesondere der Maji-Maji-Krieg habe kollektive „traumatische Erinnerungen“ hinterlassen, die bis heute in den Köpfen weiterleben, schreibt der tansanische Historiker Reginald Elias Kirey. Während Messerschmidt in Deutschland beginnt, die Täterperspektive kritisch zu bearbeiten, fordern in Tansania – auch ermutigt durch die Initiativen der Herero und Nama in Namibia – Nachkommen der Ngoni finanzielle Entschädigung, die Rückgabe gestohlener Kulturgüter und die Rückführung menschlicher Gebeine von ermordeten Wiederstandskämpfer:innen, deren Schädel bis heute in deutschen Museen liegen.

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