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Der Kick derGeschichte

Der Name verweist bereits auf verzwickte Verbindungen: Der WFC Corso99/Vineta 05 kann auf verschiedene Vergangenheiten zurückblicken. Jetzt will der Berliner Klub im multikulturellen Wedding wieder an seine jüdische Tradition erinnern

Die Zukunft und die Vergangenheit im Blick: Ferdinand Houben, Gergö Hornburg und Johannes Refle, Vorstandsmitglieder beim WFC Corso 99/Vineta 05 im Wedding

Aus Berlin Martin Krauss (Text) und Sebastian Wells (Fotos)

Der Junge will schnell zum Fußballtraining. Das hat schon begonnen, aber er bleibt unsicher stehen. „Von dir krieg’ ich noch was“, sagt Detlef Schache. Der 69-Jährige ist bei einem kleinen Fußballverein im Berliner Norden Jugendleiter. Er ist so einer mit Herz und Schnäuzer. Der 9-jährige Junge lächelt nur schüchtern aus seinem Ronaldo-Trikot. „Polizeiliche Meldebescheinigung“, setzt Schache nach. „Sagt dir dit was? Die muss ick von dir haben.“ Leise antwortet der Junge: „Am Donnerstag.“ Dann darf er endlich zum Training.

Es ist der WFC Corso 99/Vineta 05, der hier auf dem Sportplatz an der Ofener Straße im Berliner Ortsteil Wedding zu Hause ist. Der komplizierte Vereinsname verweist auf eine verwinkelte Fusionsgeschichte des Klubs, zu der auch der SC Hakoah Berlin gehört, ein jüdischer Verein. Seit März 2025 hat Corso/Vineta einen neuen Vorstand, und der will nun die jüdische Tradition stärker betonen. Der 2. Vorsitzende Ferdinand Houben, der Geschäftsführer Gergö Hornburg und der Kassierer Johannes Refle sind drei engagierte Studenten, die den Klub öffnen wollen, auch für die Geschichte von Hakoah.

Detlef Schache, der von seiner Bank aus breitbeinig das Training beobachtet, sagt dazu: „Den Jungs aus der D- und C-Jugend muss man die Geschichte nicht erzählen, die sind noch zu klein.“ Nahe der Müllerstraße ist der Klub angesiedelt, hier ist das Afrikanische Viertel, hier leben Menschen aus der Türkei, aus arabischen Ländern, aus Afrika.

Im Amtsdeutsch heißt die Gegend „Bezirksregion Parkviertel“. 48 Prozent der Menschen haben einen Migrationshintergrund, der sogenannte Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung beträgt über 30 Prozent. Etwa ein Viertel der Menschen ist von Transferleistungen abhängig. Das gilt als problematisch.

Dabei ist die Gegend hier hübsch: die Häuser, der Fußballplatz, der imposante Altbau einer Schule. Einen Brennpunkt stellt man sich anders vor. Hässlicher. Nur eine Baustelle neben dem Sportplatz, wo ein neues Haus entsteht, stört ein bisschen die Idylle.

Ist es nicht gefährlich, als Klub aus der Müllerstraße bewusst seine jüdische Tradition nach außen zu tragen? „Es stellt ein gewisses Risiko dar“, sagt Ferdinand Houben. Haben sie Angst? „Das ist der falsche Begriff“, antwortet er bestimmt und fügt hinzu: „Wir wollen da nur nicht unvorbereitet reingehen.“

Houben führt das Gespräch in einer Umkleidekabine, mit Schweißgeruch und wackeligen Bänken. Zusammen mit seinen Vorstandskollegen erklärt er dort, was sie mit dem Verein vorhaben. „Unsere Pläne haben wir bislang nur innerhalb des Vorstands besprochen.“ Während des Gesprächs klopft es immer wieder an die Kabinentür. Die D-Jugend will sich umziehen, aber Houben hat die Tür abgeschlossen.

Houben, Hornburg und Refle sind alle drei unter 25 Jahre alt, studieren an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft, wohnen im Kiez, im Verein sind sie seit einem oder zwei Jahren aktiv, als Trainer betreuen sie Jugendteams, und sie selbst kicken gemeinsam bei Roter Sterni – mit „i“ am Ende, wie sie betonen. Das ist ein Freizeitteam, das in der 4. Berliner Uni-Liga mitmischt und sich Corso/Vineta angeschlossen hat.

Mit ihrem Vorstandsengagement wollen sie den Verein modernisieren: digitale Mitgliederverwaltung, Informationen sollen per E-Mail verschickt und Whatsapp-Gruppen eingerichtet werden. Und die drei recherchieren die Geschichte des Vereins, für den sie sich so engagieren.

Den SC Hakoah Berlin hat es von 1924 bis 1938 gegeben, bis die Nazis ihn verboten haben. 1947 wurde er wiedergegründet, doch 1953 nannte sich Hakoah in Vineta um. Die einen sagen, das habe daran gelegen, dass die meisten Mitglieder – es waren Juden, die den Holocaust überleben konnten – Deutschland verlassen hatten. Eine andere Version steht auf der Website von Corso/Vineta: „Auf Grund der hohen Schulden des Vereins entschloss man sich schweren Herzens, den Namen zu ändern. Damit dem neuen Verein keinerlei Belastungen auferlegt werden konnten, übernahm der Spk. Rotholz die Schulden des SC Hakoah.“ Als neue Namen seien Olympia, Fortuna, Berolina oder Vineta gehandelt worden. Das Fachblatt Fußballwoche schrieb 1953: „Etwas traurig nahm man Abschied von einem Namen, der jahrzehntelang an Fairness und Sportkameradschaft erinnerte.“ „Hakoah“ ist das hebräische Wort für „Kraft“, Vineta hingegen ist der Name einer Stadt an der Ostsee, die laut Sage untergegangen ist.

Detlef Schache, der Jugendleiter, der immer noch am Spielfeldrand die Spielerpässe sortiert, kennt die Geschichte, weil er schon als Kind hier kickte und fast sein ganzes Leben im Verein verbracht hat. „Es gab Corso 99 und Vineta 05, was vorher Hakoah war“, erklärt er. „Dann gab es noch den Weddinger FC, der aus Columbia 06 und aus Athen 14 hervorging.“ Doch es geht noch ein bisschen komplizierter: Hakoah, das sich 1924 gegründet hatte, fusionierte 1929 mit dem traditionsreichen Bar Kochba – und der wiederum war 1898 der erste jüdische Turnverein in Deutschland.

Viel Interessantes wird bei den Recherchen zutage gefördert. Doch bei den drei Neuen im Vorstand ist auch eine Verunsicherung zu spüren, was nun aus dem Wissen werden soll. „Wir haben ja auch nichts Konkretes“, sagt Johannes Refle. Auf der Website, die sie gründlich überarbeitet haben, wird etwas über die Vereinshistorie berichtet, aber wie viel Beachtung dieser Text findet, wissen sie nicht.

Wie war es denn bisher? Detlef Schache sagt: „Die jüdische Geschichte spielte bei uns nie ’ne Rolle.“ Man kannte sie, man nahm sie an. Mehr nicht. Ferdinand Houben erinnert sich, dass er vor einem Jahr ein kleines Turnier ausrichten wollte. „Als wir dem damaligen Vorstand die Teams vorstellten, die wir einladen wollten, fragte jemand: Und was ist mit Makkabi? Die könnt Ihr doch fragen. Wir haben doch auch eine jüdische Tradition.“

Droht der Bezug auf die jüdische Historie den von migrantischen Jugendlichen geprägten Kiezklub zu zerreißen? Das glaubt hier im Wedding keiner

Gemeint war der TuS Makkabi. Der existiert in Berlin seit 1970 und ist der einzige jüdische Sportverein der Stadt. Doch als sich der SC Hakoah Berlin 1924 gründete, sah die Welt des jüdischen Sports noch anders aus. Im Unterschied zu Deutschland begann in Österreich schon der Profifußball, und Hakoah Wien kickte ganz oben mit – als einer der besten Fußballvereine Europas. Im März 1924 waren die legendären Hakoahner zu Gast in Berlin. Am Gesundbrunnen im Wedding vor 7.000 Zuschauern spielte Wien gegen Tennis Borussia. Die B.Z. am Mittag, das größte Boulevardblatt der Stadt, staunte, welch unglaubliche Leistung Hakoah erst jüngst vollbracht hatte, „indem sie in England die Berufsspieler-Mannschaft Westham United mit 5:0 niederkanteten“. Das Spiel gegen Tennis Borussia endete 3:3.

Bei dem Spiel 1924 war auch Eric Gumpert dabei, ein Junge aus dem Wedding, der mit Freunden ins Stadion an der Pumpe gegangen war. „Als die Hakoahner mit dem Davidstern auf der Brust auf den Sportplatz liefen, hüpfte mein Herz vor Freude und Stolz, ein Jude zu sein“, berichtete er Jahre später. Gumpert und ein paar Freunde gründeten den SC Hakoah Berlin.

Sie gehörten zu einer breiten jüdischen Sportbewegung in Deutschland: Makkabi war die zionistisch orientierte Sportbewegung, der auch Hakoah verbunden war. Eher nationaljüdisch war „Schild“ ausgerichtet, die Sportbewegung des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Und links waren die Hapoel-Vereine des jüdischen Arbeitersports.

Mit dieser Vielfalt ist es vorbei. Es gibt nur noch Makkabi Deutschland, der einzige jüdische Sportdachverband hierzulande. Die Fußballer des TuS Makkabi Berlin gewannen im Juni 2023 den Berliner Landespokal und empfingen zwei Monate später in der Hauptrunde des DFB-Pokals den VfL Wolfsburg, sie verloren 0:6. Im Jahr darauf erreichte Makkabi wieder das Landespokalfinale, diesmal verlor man gegen Viktoria 0:3. Es war erneut ein Achtungserfolg für den Klub, der sich mittlerweile gut in der Oberliga Nordost hält, der fünften Klasse im deutschen Fußball.

Doch nicht nur fußballerisch ist Makkabi in den Schlagzeilen. Vor allem nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben antisemitische Übergriffe wieder zugenommen. Im November 2024 wurden B-Jugend-Kicker bei einem Auswärtsspiel in Neukölln erst beleidigt, später jagte eine Gruppe Jugendlicher die Nachwuchsfußballer mit Stöcken und Messern. Alon Meyer, Präsident von Makkabi Deutschland, sagte: „Wir werden beschimpft, attackiert und gejagt.“ Meyer fügte hinzu, fast alle Übergriffe gegen Makkabi-Teams gingen von Tätern muslimisch-arabischer Herkunft aus.

Droht der Bezug auf die jüdische Historie den von migrantischen Jugendlichen geprägten Kiezklub zu zerreißen? Das glaubt hier im Wedding keiner. Es ist und bleibt ein Fußballverein, und zwar einer, der sich schon vor langer Zeit ein Motto gegeben hat: „Wir im Wedding! Fußball für alle!“

Entscheidend ist auf’m Platz: beim Training vom WFC Corso 99/Vineta 05

Daran halten auch Houben, Hornburg und Refle fest. „Wir wollen ein Verein sein, der soziale Verantwortung teilt“, sagt Houben, und spricht von einer „Identität und Philosophie“, die es zu entwickeln gilt. Konkret ist der Verein an Schulen in der Umgebung herangetreten. „Wir wollen für Lehrkräfte Ansprechpartner sein“, sagt er, „und wir wollen für Kinder und Jugendliche da sein, die Diskriminierung erlebt haben.“ Ein besonderer Klub für diesen besonderen Kiez. „Das Kind, das die längste Anreise hat, kommt von der Bornholmer Straße“, sagt Johannes Refle. Die Bornholmer liegt auch im Wedding, ist aber mit Tram und U-Bahn immerhin sieben Stationen entfernt. „Ich wüsste hier kein Kind, das keinen migrantischen Hintergrund hat“, ergänzt Gergö Hornburg, der ungarische Wurzeln hat.

Bald findet in der Erika-Mann-Grundschule im Wedding ein Fußballturnier statt. „Wir werden als Verein präsent sein“, berichtet Johannes Refle, „mit Stand, mit Flyer, mit Angeboten.“ Gergö Homburg sagt: „Perspektivisch wollen wir die Jugendarbeit verdoppeln, von aktuell vier auf sieben oder acht Teams.“ Dass das eine Herausforderung ist, dass sie dafür noch Menschen brauchen, die betreuen, die Training abhalten und bereit sind, sich dafür zu qualifizieren, ist den dreien klar. „Aber“, sagt Ferdinand Houben selbstbewusst, „wir haben noch Wachstums­potenzial.“

Etwas fehlt überdeutlich: Mädchen- und Frauenfußball. „Das ist ein wunderbares Szenario, aber wir müssen im Rahmen unserer Kapazitäten planen“, bedauert Johannes Refle. Über den Kontakt zu Schulen wollen sie Mädchen finden, die dort bereits kicken. Gergö Hornburg erzählt, vor etwa zehn Jahren habe es noch eine recht große Mädchenabteilung gegeben. „Die ist dann zu einem anderen Verein gegangen.“ Immerhin, darauf sind die drei stolz, in den Freizeitteams von Corso/Vineta sind Frauen beziehungsweise Flinta* gut vertreten. „Bei unserem Roter Sterni sind es 30 bis 40 Prozent.“

Houben berichtet auch, dass er in seinem Politologiestudium eine Arbeit zu Fußball und Klassismus geschrieben hat. „Da habe ich versucht, für Fußballvereine ein solidarisches Beitragsmodell zu entwickeln.“ Es geht darum, für Kinder aus Familien, für die der Mitgliedsbeitrag, ein Paar neue Fußballschuhe oder die Reise zu einem Turnier eine große finanzielle Belastung darstellt, den Sport zu ermöglichen. Diese Ideen versuchen sie in nächster Zeit umzusetzen. Eine ganz konkrete Sache soll bald kommen: eine Tauschbörse für Trainingsausrüstung unter Mitgliedern.

Weddinger Bekenntnisse: am Trainingsgelände vom WFC Corso 99/Vineta 05

Unterstützung erhält Corso/Vineta vom Berliner Fußballverband (BFV). Von dort kam der Vorschlag, sich mit anderen Vereinen, die einen ähnlichen Ansatz haben, zu beratschlagen. Das sind Klubs wie der FC Internationale, Polar Pinguin oder Hansa 07. BFV-Präsident Bernd Schultz will bald im Wedding vorbeikommen. Vom BFV kam auch der Vorschlag: Redet doch mal mit Makkabi! Diese Gespräche laufen. „Bislang ist alles positiv“, sagt Gergö Hornburg, „dabei stehen wir ja noch sehr am Anfang.“

Der WFC Corso 99/Vineta 05 repräsentiert das Englische und das Afrikanische Viertel links und rechts der Müllerstraße ziemlich gut. Eine Weddinger Mischung, die allerdings vor enormen Herausforderungen steht. „Der Anteil deutscher Personen ohne Migrationshintergrund nimmt weiter kontinuierlich ab“, heißt es im offiziellen „Bezirksregionenprofil“ über das Parkviertel. „Über 79 Prozent der Grund­schü­le­r*in­nen haben eine nichtdeutsche Herkunftssprache.“

Dass der Fußball eine große verbindende Kraft hat, davon sind bei Corso/Vineta alle überzeugt. Umso wichtiger ist, dass die Modernisierung gelingt: Das ist die Digitalisierung, aber das ist auch das Freilegen der historischen Wurzeln dieses Klubs, bei dem nicht nur die Geschichte der ständigen Vereinsfusionen zeigt, wie wichtig Zusammengehen ist.

Draußen läuft derweil das Training der D-Jugend. Ein Vater steht am Rand, schaut zu und verwaltet die Handys, die ihm die Kinder gegeben haben. „Mein Junge war früher schon mal im Verein, aber dann ist er raus“, erzählt er. „Es waren ihm zu viele Araber hier.“ Der Vater, ein gebürtiger Kurde, der auch in der Nachbarschaft lebt, hat den Kleinen im Kickboxverein angemeldet, aber dann wollte er doch zurück zum Fußball. Und die arabischen Kinder? „Die stören ihn nicht mehr. Er hat jetzt Freunde hier.“

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