Der Hausbesuch: Max macht Platte
Max war reich, jetzt lebt er auf der Straße. Im Winter konnte er in einer Wohnung wohnen – er versucht den Absprung, doch es ist verdammt schwer.
Max war fast 50, als er nach Berlin und auf die Straße kam. Davor war er in „schwerreichen“ Kreisen unterwegs, „semiprofessionell und halblegal“, auch am Theater hat er gespielt. Den Glauben an sich hat er nie aufgegeben. Bis er zuletzt in einer Wohnung am Stadtrand überwinterte.
Draußen: Mehr Laternen als Menschen auf den Straßen abseits der Tramhaltestelle in Berlin-Hellersdorf. Zwischen Plattenbauten ein Imbiss, eine Kneipe, irgendwo ein Supermarkt. „Nachts läuft nicht mal ein Fuchs über die Straße“, meint Max, der nur seinen Vornamen preisgibt. Eine AfD-Hochburg. Dahinter Brandenburg.
Drinnen: Auf dem Küchentisch vor der Eckbank liegen einige Habseligkeiten, das Radio läuft. Im Aschenbecher qualmt ein Zigarillo, daneben Münzen, fein säuberlich nach Wert gestapelt, seine Rücklagen, keine zehn Euro. Romane einer Freundin mit handschriftlicher Widmung: „Für Max, der Wind und Wetter besser kennt als viele andere.“ Hier sitzt er, bevor er in die Stadt fährt, hört stundenlang Deutschlandfunk. Gekocht wird nicht, im Kühlschrank bloß ein paar Bier. Umgeben von Dingen, die nicht seine eigenen sind, verbringt Max den Winter in der Hellersdorfer Hochparterrewohnung eines Freundes, der unterwegs ist. Eigentlich ist er obdachlos. „Die Wohnung hat nichts mit mir zu tun“, sagt er.
Das „Draußen“: Seit zehn Jahren lebt Max auf der Straße. Draußen, Drinnen war ein und dasselbe. Jahrelang schlief er vor einer Kreuzberger Kirche, nah am Bethanien, dem alten Krankenhaus. Zu Beginn seiner Obdachlosigkeit bemerkte er sie gar nicht, dachte, er schläft „halt grad draußen“. Er mag Gesellschaft und Essen, bewirbt sich in Gastronomien, zweifelt nicht daran, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Entgegen guter Ratschläge erzählt er von seiner Situation, will nicht lügen. „Ich wurde selbst viel ausgenutzt.“
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Schweiz: Max wächst in der Schweiz auf, der Vater stirbt früh, ein „Mentor, der erklärt, wie Leben geht“ fehlte ihm. Das Verhältnis zur Mutter schwierig. Die Schule macht Spaß, er wird Schulsprecher, will die Welt verstehen, unabhängig sein. Kaum volljährig geht er weg, studiert Volkswirtschaftslehre, „cum laude, wie man das so macht“, und merkt Anfang zwanzig „die ganze Welt liegt vor mir!“, möchte promovieren. „Stattdessen hab ich mich schwer verliebt.“ Kurz vor der Wende kommt die Tochter, dann ein Sohn. Die Beziehung zu der Mutter zerbricht, später auch der Kontakt zu den Kindern, „wegen der Obdachlosigkeit“.
Spuren verwischen: Dazwischen habe er viel Geld verdient, in schwerreichen Kreisen. Wie genau kann er nicht sagen, „muss mich ja ein bisschen unsichtbar machen!“, aber „semiprofessionell und halblegal“ sei es gewesen, „wie in Politik und Wirtschaft üblich“. Max reiste viel, schwärmt von Transitzonen für Privatjetpassagiere, „Limousinenservice, Koch, ein Schläfchen, dann weiterfliegen“. Kunsthändler soll er gewesen sein oder Musiker. Eloquent und gewitzt ist er, man kauft ihm alles ab. Überprüfen lässt es sich nicht. 2013 habe ihn dann sein Treuhänder übers Ohr gehauen und sein Schweizer Konto dank Vollmacht leergeräumt, Max bleiben 800 Euro. „Mit dieser einen Unterschrift bin ich gescheitert.“ Zurück kann er nicht: „Das Milieu.“ Das Umfeld vermisst er nicht, „die haben nie genug gekriegt“. Auch Rachegelüste habe er keine, „ich bin ein gutseliger Mensch, das lasse ich mir doch nicht nehmen“.
Die Route: Max muss weg, sein Gesicht wahren, er macht den Jacobsweg, geht dann nach Sevilla, freundet sich mit den Menschen an, denen er begegnet, lernt schnell Spanisch. Bald vermisst er die deutsche Sprache und das Essen, 2014 geht er nach Berlin, der Anonymität wegen. Da war er noch „’ne coole Socke, gut trainiert, sah blendend aus“, wie er sagt.
Leitplanken: Dass es zehn Jahre Straße werden würden, hätte er nie gedacht. Fehlendes Konto und Versicherung erschweren den Wiedereinstieg in die Gesellschaft. Max passt sich dem Takt der Straße an. Aufstehen, Zeug zusammenpacken, irgendwo lagern, das täglich Brot verdienen. Jahrelang finanziert er sich mit Pfandsammeln und erlebt auch einige Revierkämpfe. Max gefiel das, „völlig autonom, gutes Gefühl, bin niemandem auf den Sack gegangen und irgendwie klargekommen“. Dienstags und freitags duschte er bei den Franziskanermönchen in Pankow, auch zur Suppenküche ging er zu festen Zeiten, Jours fixes der Straße. Zwischendrin lädt er sich im U-Bahn-Wlan Podcasts herunter, hört sie abends bei einem Bier vor dem Späti, holt sein Gepäck ab, bereitet sein Bett und geht schlafen.
Talisman: Die Frage nach einem ständigen Begleiter auf der Straße, einem Foto, einer Erinnerung, verneint er. „Fatal“ wäre das, „das würd’ dich zurückziehen“. Er habe einfach „an die Zukunft geglaubt“. Neben dem Feuerzeug, das in seiner Hand liegt, wenn er erzählt, und einer Armbanduhr aus alten Zeiten, trägt Max bei sich, was andere auch dabei haben: Handy, Kopfhörer, Zigaretten. Was ihn gehalten habe, sei der Glaube, sagt er, „nicht an Gott, an mich“. Der Kirche wolle er nicht angehören, der Gesellschaft schon.
Würde: Gehen lassen habe er sich nie, immer Wert gelegt auf ein gepflegtes Äußeres und finanzielle Autonomie. „Die eigene Würde kann man doch nicht verlieren.“ Mit Sauberkeit oder Cash habe das nichts zu tun. Die Bedürftigkeit kaschiert er heute nicht mehr. Max leidet an grauem Star, erkennt Mitmenschen erst auf dem letzten Meter, lässt das Fahrrad also stehen und sammelt keine Flaschen mehr. Stattdessen „halte ich den Becher hin“. Betteln sei ein Kraftakt, „danach bin ich mental durch“. Spielte er noch bis 2023 unter dem Namen René Wallner glattrasiert am Berliner Ensemble sich selbst in „Auf der Straße“ von Karen Breece, lässt er den Bart inzwischen stehen, „sonst bleibt der Becher leer“. An einer Suppenküche wurde er schon abgewiesen, weil man ihm die Bedürftigkeit nicht abkaufte. Da fange Würde doch schon an: „Wie erklärt man denn Bedürftigkeit? Wenn Ehrenamtliche einem das absprechen?“
Isolation: Berlin-Hellersdorf hat Max aus dem Takt gebracht. Die Miete ist dank Bekannter bezahlt, „aber ich sitz halt im Knast“. So empfindet er das. Zum erhofften „Gamechanger“ wurde Hellersdorf nicht. „Was mich verrückt macht: dass die Zeit läuft, ich hab noch nichts auf die Kette gekriegt.“ Er hatte schon einmal Schlüssel für ein Kreuzberger Atelier, kam abends, wenn der Künstler ging. Bis der Vermieter spitzkriegte, dass auch an Pornoproduktionen untervermietet wurde und kündigte. Im Gegensatz zu Hellersdorf kannte Max dort schnell die Nachbarn, saß abends gemeinsam vor’m Späti statt allein in der Küche, schlief nachts tief und fest. Eine Wohnung sei kein Allheilmittel, „seit zwei Monaten bin ich hier total isoliert, vorher hatte ich ’ne Community“. Mit der Einsamkeit kam das Trinken, wie er ins Bett kam, weiß Max oft nicht. Für ihn fühlt sich das an, als sei er zehn Jahre später ein zweites Mal gescheitert. „Das war das Dümmste, was ich jemals gemacht hab“, sagt er heute: „Ich hab mein Habitat verloren!“
Zugehörigkeit: Problem sei das Umfeld. Klischees bedienen wolle er keine, „Nazis gibt’s hier aber einfach viele“. Gespräche, denen er an seiner Haltestelle lauscht, wiederhole er lieber nicht. Kontrastprogramm zu Kreuzberg, das jeden akzeptiert. „Auch ohne Dach überm Kopf haste den Spätimann von nebenan, der ganz normal mit dir spricht, kommste mal drei Tage nicht, fragt der, wo man war.“ Anknüpfungspunkte, die wie zufällig doch ein soziales Gerüst bedeuten; man gibt aufeinander acht. In Hellersdorf fällt er durchs Raster.
Zukunft: Zurück auf die Straße? „Niemals. Lieber einen Podcast übers Kochen machen.“ Und wenn das nichts wird? „Vielleicht ’n Millionencoup“, sagt er grinsend. „Essen, Schlafplatz – im Knast alles geregelt. Dann kommste raus und kriegst deinen Anteil.“ Es soll ein Witz sein. Und der eigene Tod? Es gebe da „so ’ne Rechnung: Ein Jahr Straße lässt dich so viel altern, wie andere in vier“. Max kam mit 49 auf die Straße: „Dikker, ich werd bald 93.“ Das letzte Mahl steht schon fest: „Chateaubriand – wenn’s klappt.“
Und was sagt er zu Merz? „Den halte ich für brandgefährlich. Spahn, Frei, der ganze Kreis um Merz lebt in der Vergangenheit, immer auf die Ausländer und die Armen treten.“
Nachtrag des Autors: „Ich kenne Max, weil er öfters in die Kneipe kommt, in der ich kellnere. Max lebt inzwischen wieder auf der Straße. Seinen sicheren Schlafplatz nahe Bethanien hat er verloren, schläft irgendwo in Neukölln. Er isst kaum noch. Ich habe ihn an der Schulter berührt, er ist extrem dünn. Seine Routine hat er noch nicht wiedergefunden. Erst in Hellersdorf habe er so wirklich gemerkt, dass er es alleine nicht von der Straße schaffe.“
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