Der Hausbesuch: Die Stationen seines Lebens
Wie schon sein Opa und sein Vater war Daniel Abend bei der Eisenbahn. 2006 erkrankte er an Multipler Sklerose und lebt heute in einem Generationenhaus.
Daniel Abend ist noch in der Lage, seinen Kopf und ein wenig seine Arme zu bewegen. Gute Tage sind „Rolli-Tage“, an denen er mobil sein kann.
Draußen: Das Stuttgarter Generationenhaus, in dem Daniel Abend lebt, heißt wie der Stadtteil, in dem es sich befindet: Heslach. Gleich daneben, im Jugendhaus Heslach, gab 1988 eine lokale Band namens „Terminal Team“ ihr erstes Livekonzert. Als „Die Fantastischen Vier“ füllen sie heute Stadien.
Drinnen: Zum Generationenhaus gehören Geschäfte und Praxen, ein Familienzentrum mit Kindergarten, eine Wohngruppe, Räumlichkeiten für Chor- und Theaterproben und den Bezirksbeirat. Im Erdgeschoss befindet sich das Café Nachbarschaft, im vierten Stock die Seniorenpflege, in den Stockwerken dazwischen die Junge Pflege. Daniel Abend, 50 Jahre alt, wohnt in Zimmer 207. Es ist funktional eingerichtet. Schrank, Fernseher, Schreibtisch, E-Rolli. Im Regal stehen – und das macht dieses Zimmer zu Daniel Abends Zimmer – Eisenbahnfachbücher und Eisenbahnmodelle. An den Wänden hängen zwei Dutzend Zuglaufschilder, dazu Fotos von Abends Eltern. Durchs Fenster kann er in den Innenhof schauen. Dort leben Mona, Lisa, Cleopatra und Esmeralda, vier Ziegen. Meckern gehört zum Wohnkonzept.
Tradition: Daniel Abend kommt aus einer Eisenbahnerfamilie, schon Vater und Opa arbeiteten bei der Bahn. Dahin zog es ihn auch, aber anders als viele Jungen wollte er nie Lokomotivführer werden, sondern Fahrdienstleiter, also deren Chef. „Das kann man mit einem Fluglotsen vergleichen. Erst wenn der das Okay gibt, kann der Pilot losfliegen.“ Die Ausbildung dazu fiel ihm leicht, weil es ihn interessierte. Ganz anders als die Schule. „Ich war megafaul. 1992 haben wir uns einvernehmlich getrennt.“ Er brauchte den Hauptschulabschluss, um bei der Bahn anzufangen. Den schaffte er.
Souvenirs: In seinem Zimmer hängen Zuglaufschilder an der Wand. Die waren früher in den Waggons angebracht, hin und wieder ließ er welche mitgehen. Oder wie Abend es ausdrückt: „Sie haben mich gefunden. Als ich nach Hause kam, lagen sie in meiner Tasche.“ Sie sind Erinnerungen an die Strecken, die er früher fuhr. Eisenbahnmodelle hat er auch gesammelt, sich aber von den meisten mittlerweile getrennt. Mitgebracht hat er die klassische Intercity-Lok der Baureihe 103, „die als erste 200 km/h schnell war“, und die Reko 01 der Deutschen Reichsbahn, „eine der schönsten Dampfloks, die je gebaut wurden“. Über Stuttgart 21 kann Abend sich nur aufregen: „Schwachsinn, Fehlinvestition. Acht Gleise reichen nicht in den Stoßzeiten, und die Umsteigezeiten sind zu knapp.“
Der Schock: 2006 war auch für Daniel Abend das Jahr des Sommermärchens, der Fußball-WM in Deutschland. Das änderte sich wenige Wochen später. „Im August“, sagt er, „habe ich gemerkt, dass mein rechtes Bein etwas lahmt.“ Der Neurologe überweist ihn ins Krankenhaus für eine Cortison-Stoßtherapie. Die dauert drei Tage, er verträgt sie gut. „Aber niemand hat mit mir gesprochen.“ Abend fragt er den jungen Stationsarzt, ob er wieder nach Hause kann. „Der guckt sich meine Patientenakte an und sagt: ‚Wenn es Ihnen so weit gut geht, können Sie gehen. Bei MS kann man eh nichts machen.‘“ Daniel Abend muss den Arzt entsetzt angeschaut haben, denn der entgegnet hastig: „Oh, tut mir leid – wussten Sie das noch gar nicht?“ Für Abend ist die Diagnose ein Schock. „Über MS wusste ich noch nicht viel – nur, dass die Krankheit unheilbar ist.“
Schübe: Zwei Sehnervenentzündungen, die typisch sind bei MS, bekommt er 2007 und 2008 in den Griff. Aber der Zustand beider Beine verschlechtert sich. Der zehnminütige Weg von seiner Wohnung in Bietigheim zum Bahnhof fällt ihm immer schwerer. Sein Chef schickt ihn 2010 in eine Reha, anschließend kann er mit etwas veränderten Aufgaben wieder im Homeoffice arbeiten. Doch Abend braucht eine neue Wohnung. Seine liegt im 3. Stock ohne Fahrstuhl. Er findet eine in Zuffenhausen im 5. Stock mit Fahrstuhl und Dachterrasse. „Da habe ich richtig Glück gehabt.“ An einer Haltestelle der Stadtbahnlinie findet er 2013 einen Walking-Stock, der ihm Erleichterung verschafft. Aber die Krankheit lässt sich nicht aufhalten.
Der Rolli: 2016 stürzt er beim Ausstieg aus der Bahn, den Weg zur Arbeit schafft er nicht mehr, er wird krankgeschrieben. In der Reha probiert Abend erstmals einen Rollstuhl und entscheidet sich gleich für einen elektrischen. „Es war genial, wieder mobil zu sein.“ Zum 25-jährigen Dienstjubiläum ein Jahr später wird er verrentet. Natürlich hätte er in seinem „Traumjob“, wie er sagt, gern weitergearbeitet, doch es ging einfach nicht mehr.
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Tiefpunkt: Anfang Oktober 2019 reicht ein ambulanter Pflegedienst nicht mehr, weil Daniel Abend kaum noch vom Bett in den Rolli und auf die Toilette kommt. Er lässt sich vom Notdienst ins Krankenhaus bringen. Doch dort kann er nicht bleiben, zurück nach Hause auch nicht. „Das waren meine schlimmsten Tage.“
Geschenk: In der Zwischenzeit hat er vom Generationenhaus Heslach gehört, wo es eine „junge Pflege“ gibt, wie für Abend gemacht. Er ruft an, immer wieder. Frau Bergerhoff, zuständig für die Aufnahme, zeigt Verständnis, kann aber nichts anbieten. Am 10. Dezember dann, Abend feiert seinen 46. Geburtstag, kriegt er endlich den erhofften Anruf: Frau Bergerhoff sagt, er könne einziehen! Für Daniel Abend ist das „wie ein Sechser im Lotto.“ 7.000 Euro im Monat kostet ein Platz, sein Eigenanteil sind 2.500 Euro. Mit Rente, Betriebsrente und dem Pflegegrad kann er das stemmen. Kurz nach Ostern 2023 löst eine Coronainfektion seinen bislang letzten Schub aus. Er kann Arme und Finger seither kaum noch bewegen, Laptop und Handy nicht mehr bedienen, nicht mehr allein essen.
Alltag: Jeder Tag ist durchgetaktet. Morgens um 5 Uhr kommt die Nachtschwester und lagert Daniel Abend auf den Rücken, nachdem er die Nacht von Kissen gestützt auf der Seite gelegen hat. Gegen 8.15 Uhr („vor acht braucht keiner zu kommen“) wird ihm Frühstück gebracht. Um 9 Uhr wird er mit dem Lifter auf den Toilettenstuhl gesetzt, um 10 Uhr dann Pflege am Waschbecken. Montags mit Haare waschen und donnerstags mit duschen. Fühlt er sich fit genug, ist „Rolli-Tag“. Dann wird er in den Rollstuhl geliftet und fährt um 12 Uhr selbstständig zum gemeinsamen Mittagessen. Ist er zu schlapp, wird er wieder ins Bett gelegt und dort umsorgt. An drei Tagen in der Woche bekommt er Physio- oder Ergotherapie. Daniel Abend ist zufrieden mit diesem Alltag. Und vor allem mit dem Generationenhaus.
Bitte nicht stören: Nach dem Abendessen sieht er sich gern „SWR aktuell“ an oder auch die „Landesschau“. Den Fernseher schaltet er mit Amazon Echo ein. Über Siri kann er telefonieren, den nächsten Gegner des VfB recherchieren oder seine Playlist hören. Darauf: viele deutsche Titel, insbesondere von BAP. Das alles hat ihm sein bester Kumpel Dominik eingerichtet, „mein Administrator“. Um 22 Uhr schaut die Nachtschwester vorbei. Auf die zweite Visite um 1 Uhr verzichtet Daniel Abend. Er schläft lieber durch.
Besuch: Abends Vater ist nicht mehr am Leben, mit seiner Mutter telefoniert er jede Woche. Sie ist mittlerweile gesundheitlich zu angeschlagen, um selbst vorbeizukommen. Freunde und Bekannte besuchen ihn dafür regelmäßig, es wird über seine Krankheit gesprochen, über alte Zeiten, oder was gerade so in der Welt los ist. Abend interessiert sich sehr für aktuelle Politik – Trump, die AfD und deutsche Verkehrspolitik bringen ihn für gewöhnlich in Wallung.
Selbstbestimmung: „Ich habe wohl noch 15 oder 10 Jahre vor mir“, sagt Daniel Abend. Selbstbestimmtes Sterben ist trotzdem ein Thema für ihn. Es macht ihn wütend, dass es so schwer ist, an Natrium-Pentobarbital zu kommen, obwohl doch passive Sterbehilfe inzwischen erlaubt ist. Was seinen Nachnamen angeht, da hat er ungefähr so jeden Spruch schon mal gehört. Ob er sich gelobt fühle, wenn jemand „Guten Abend“ sagt? Seine Antwort: „Ich bin da nur an dritter Stelle, die Reihenfolge ist: Feierabend, Heiliger Abend und dann Daniel Abend.“
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