Der Hausbesuch: Probleme lösen ist Ehrensache
Hafsa Özkan hat sich Selbstbestimmung schwer erkämpft. Hart ist sie dadurch nicht geworden. Voller Empathie setzt sie sich für andere Menschen ein.
Als sie noch Kopftuch trug, bekam sie Hasskommentare von Rechten. Jetzt, wo sie keins mehr trägt, bekommt sie Vorwürfe von strenggläubigen Muslimen. Daraus könne man lernen, was wirklich zählt, sagt sie.
Draußen: Eine Siedlung mit 2.400 Wohnungen am Rand von Berlin-Neukölln. Graue 80er-Jahre-Bauten, durch Fußgängerbrücken miteinander verbunden. Alle Straßen sehen gleich aus. Vor einem Einkaufscenter stehen ein paar Jugendliche. Sie rauchen und klopfen Sprüche. Eine Frau fragt eine andere mit Kleinkind an der Hand nach einer Straße. Die erwidert: „Ich begleite dich dahin!“, und erzählt der Fremden sogleich, sie habe keinen guten Tag: „Ganz schlechte Blutwerte.“
Drinnen: Das Haus, in dem Hafsa Özkan mit ihrer 13-jährigen Tochter lebt, ist ruhig. Die Tochter öffnet die Tür der Zweizimmerwohnung und bittet in ein modern eingerichtetes Wohnzimmer mit großem Sofa, großem Plasmabildschirm und weißen Schrankwänden: „Mama kommt gleich.“ Hafsa Özkan eilt herbei: „Ich bin auch gerade erst nach Hause gekommen.“ Es ist 19.30 Uhr. Bis 17 Uhr hat die medizinische Helferin und Erzieherin im Gesundheitsamt gearbeitet, dann hatte sie noch einen Termin.
Arbeit: Während der Pandemie schloss die 38-Jährige ihre Ausbildung zur Erzieherin ab und entschied trotz Bestnoten, erst einmal als medizinische Verwaltungskraft einzuspringen: „Es war die Zeit, in der täglich Hunderte Menschen starben. Ich wollte einen Beitrag dazu leisten, die Pandemie zu stoppen. Und in den Medien hieß es, das Gesundheitsamt habe Personalmangel.“
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Vereinbarkeit: Ihre Tochter bereitet in der Küche türkischen Tee zu, Hafsa Özkan sinkt müde in die Polster. Mit ihrer Tochter, erzählt sie, habe sie großes Glück: „Sie ist sehr selbstständig, geht allein zur Schule, zum Arzt. Wenn sie nicht so eigenständig wäre, könnte ich nicht alles unter einen Hut bringen.“ Hafsa Özkan ist mit 22 Jahren Mutter geworden, ihr 15-jähriger Sohn wohnt bei den Großeltern: „Das wollte er so, aber wir sehen uns oft.“ Da ihr Einkommen nicht alle Fixkosten deckt, geht die Alleinerziehende jede Woche zusätzlich neun Stunden kellnern. Und dann ist da noch das Ehrenamt, wie sie ihr vielfältiges Engagement nennt.
Ehrenamt: Sie macht so viel, dass sie, danach gefragt, zunächst nicht weiß, wo sie anfangen soll. Als Jugendliche half sie in der Küche eines Vereins für Frauen, als junge Mutter übersetzte sie in der Schule aus dem Türkischen ins Deutsche bei Elterngesprächen und engagierte sich als Gesamtelternsprecherin, etwa für sichere Schulwege. Seit Jahren besucht sie alte Menschen, isst mit Obdachlosen, setzt sich als Mitglied des Quartiersrats und des Quartiersmanagements für ein soziales Miteinander in ihrer Siedlung ein und organisiert Nachbarschaftstreffen. Für all das erhielt sie 2023 die Ehrennadel vom Bezirksbürgermeister.
Ehre: Hafsa Özkan nimmt den Begriff Ehrenamt wörtlich. Probleme zu lösen oder Menschen Nähe geben zu können, ist für sie Ehrensache. Einmal half sie, die Wohnung ihrer verstorbenen Nachbarin auszuräumen. Als der Bruder der Frau ihr für die dreitägige Unterstützung ein Kuvert mit Geldscheinen in die Hand drücken wollte, habe sie gesagt: „Das war doch selbstverständlich. Sie war meine Nachbarin! Ich muss mich eher bei Ihnen bedanken. Dass Sie mir vertraut haben, ist für mich ein großes Geschenk.“
Herz für Menschen: Andere glücklich zu machen, mache sie selbst glücklich: „Wenn ich sehe, wie alte Menschen mich anstrahlen, nur weil ich da bin, weil ich Zeit mit ihnen verbringe, geht mir das Herz auf.“ Dabei gehe es nicht um Momente, sondern um Verbindlichkeit: „Die meisten Menschen auf der Straße oder alte Menschen haben nur wenige Kontakte. Die freuen sich, wenn sie wissen, dass jemand an sie denkt und wiederkommt.“ Einen Obdachlosen, erzählt sie, habe sie über ein Jahr lang jeden Donnerstag vor einem Supermarkt aufgesucht und ihm mit Schulmaterialien für Kinder Schritt für Schritt die Buchstaben beigebracht: „Lesen lernen war sein größter Wunsch.“ Bei ihrer letzten Stippvisite habe er tatsächlich etwas lesen können: „Irgendwann saß er dann nicht mehr da.“
Empathie: Auf die Frage, woher ihre große Empathiefähigkeit komme, erzählt sie von ihrem Bruder, der ein Jahr jünger war: „Er war mein bester Freund. Wir haben alles zusammen gemacht.“ Als sie sechs Jahre alt war, starb er: „Und so komisch das klingt, weil ich doch ein Kind war: Damals habe ich schätzen gelernt, einfach am Leben zu sein, die Sonne zu spüren. Und mich an dem zu erfreuen, was ich habe.“ Die meisten Menschen, meint sie, würden sich immer vergleichen: „Aber immer nur mit Menschen, die mehr zu haben scheinen.“ Sie halte nichts von Vergleichen: „Aber ich sehe, wenn es anderen schlechter geht, und versuche zu helfen.“
Karma: Hafsa Özkan glaubt an Karma, also daran, dass alles, was man tut, zu einem zurückkommt: „Vor ein paar Jahren ist mein Auto auf dem Weg nach Hause stehengeblieben, einfach so.“ Sie habe einen Mann um Hilfe gebeten: „Bruder, mein Auto ist kaputt und ich muss zu meinen Kindern.“ Und er habe gesagt: „Schwester, nimm meins.“ Der Mann sei Syrer gewesen: „Und er hat mir wirklich sein Auto gegeben. Ich meine, wer macht das? Einfach sein Auto hergeben?“
Stolz: Hafsa Özkans Tochter liegt auf dem Sofa, scrollt auf dem Handy, während ihre Mutter erzählt. Plötzlich mischt sie sich ein: „Erzähl noch das mit der Giffey, Mama! Mama und die Giffey sind nämlich best friends.“ Hafsa Özkan lacht: „So ein Quatsch. Ich habe Frau Giffey so genervt, dass sie mich loswerden wollte.“ Sie sei, erzählt sie, so entsetzt über die dreckigen Bodenbeläge in der Grundschule ihrer Tochter gewesen, dass sie jeden Tag ins Rote Rathaus gegangen sei, um sich zu beschweren. „Irgendwann kam Franziska Giffey, die war damals Bürgermeisterin, dann in die Schule. Kurz darauf wurden neue Bodenbeläge verlegt.“
Vorbild: Für ihre Tochter möchte Hafsa Özkan ein liberales Leben. Damit ihr Selbstbewusstsein gestärkt wird, meldete sie ihre Tochter letztes Jahr in einem Taekwondo-Studio an: „Dann habe ich mich gefragt: „Warum mache ich das eigentlich nicht auch?“ Ihre Tochter erklärt lachend: „Ich habe es nie dahin geschafft. Stattdessen geht Mama jetzt.“ Durch das Taekwondo-Training hat Hafsa Özkan nicht nur ein anderes Sicherheitsgefühl, sondern auch mehr Selbstbewusstsein bekommen: „Ich fühle mich nicht mehr hilflos. Männer sind meistens körperlich stärker. Aber mit den richtigen Griffen ist das egal.“
Selbstbestimmung: Selbstbestimmung ist für Özkan nicht selbstverständlich. Sie wuchs als siebtes Kind einer strenggläubigen Familie auf, die Eltern waren ursprünglich zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Es galt ein straffes Korsett aus Regeln. Kurz nachdem sie die Schule beendet hatte, wurde geheiratet. Sich später scheiden zu lassen, war ein jahrelanger Kampf. Zurzeit hat sie keinen Kontakt zu ihrer Familie.
Freiheit: Als ihre Tochter mit zehn Jahren ein Kopftuch tragen wollte, erklärte sie ihr: „Du musst alt genug sein, so eine Entscheidung wirklich treffen zu können.“ Und das, obwohl sie damals selbst das Kopftuch trug. Vor einem Jahr legte sie es ab. Die Frage nach dem Warum sei sie mittlerweile leid. Sie meint, solange das ein Thema bleibe, sei die Gesellschaft nicht frei: „Das ist eine ganz private Entscheidung.“ Sie fühle sich ohne Kopftuch nicht freier als mit: „Es gibt keine Freiheit in dieser Gesellschaft. Da ist immer gesellschaftlicher Druck.“ Als sie noch ein Kopftuch trug, erzählt sie, bekam sie in den sozialen Medien ständig Hassnachrichten von AfD-Wählern: „Die haben geschrieben, dass ich nicht frei sei, solange ich das trage. Seit ich liberaler lebe, schreiben mir Muslime, dass ich ein schlechtes Vorbild sei und keine wirkliche Muslima.“
Positive Reaktionen: Sie ist gläubige Muslima, an erster Stelle aber Mensch und Pazifistin. Von den Angriffen der Hamas hat sie sich in den sozialen Medien sofort distanziert. Hasskommentare, meint sie, ignoriere sie einfach, halte sich an den positiven Reaktionen fest, die ihr im analogen Leben genau wie online entgegengebracht werden: „Ich werde sehr oft als Engel bezeichnet.“ Sie lacht aus vollem Hals: „Ich sage dann immer: Ich bin einfach ein Mensch. Wie du und Sie.“
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