Der Hausbesuch: Erst mal raus in die Welt

Als Kind musste sie sich verstecken, später reiste sie viel. Berlin ist für die Holocaust-Überlebende Ruth Winkelmann ihr Zuhause geblieben.

Eine ältere Frau sitzt auf ihrem Sofa, davor zwei Sessel und ein Coachtisch mit einem Blumenstrauß darauf

Sie sei dem Tod schon oft von der Schippe gesprungen, sagt Ruth Winkelmann Foto: Dagmar Morath

Reisen. Vergessen. Ein normales Leben führen. Nicht bitter werden. Und zuletzt doch akzeptieren, dass die Geschichte immer Teil von ihr bleiben wird.

Draußen: Eine Wohngegend in Nähe des U-Bahnhofs Alt-Tegel im Berliner Bezirk Reinickendorf. Das kleine Reihenhaus, das Ruth Winkelmann in den 1960er Jahren von den Entschädigungszahlungen für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung erwarb, liegt in einer ruhigen Seitenstraße.

Drinnen: Die 93-Jährige winkt mit ihrem Gehstock in Richtung Wohnzimmer: „Immer herein!“ Ihre Haushaltshilfe Karin hat Kaffee gekocht und gedeckt. Durch die Fensterfront ihres Wohnzimmers blickt Ruth Winkelmann auf Terrasse und Garten: „Unter der Terrasse befand sich früher ein Eiskeller. Ich habe als Kind noch gefrorenes Wasser in Blöcken vom Pferdewagen für meine Oma gekauft.“ Im Gespräch sieht Ruth Winkelmann immer wieder durchs Fenster. „Ich warte auf meinen Vorgartenzwerg.“ Sie lacht: „So nenne ich den Gärtner.“

Patiencen: Im 1. Stock des Hauses sind ein Bad, ein Schlafzimmer und ein Fernsehzimmer mit einer Couch und einem Tisch, auf dem ein Romméspiel liegt: „Mit den Karten lege ich Patiencen.“ In der Schrebergartenlaube, in der Ruth Winkelmann mit ihrer Mutter und ihrer Schwester während der NS-Zeit versteckt war, gab es außer einer Matratze nicht viel: „Aber wir hatten ein Kartenspiel.“

Geklaute Kindheit und Jugend: Sonst hatte Ruth Winkelmann als Kind und Jugendliche wenig Zerstreuung: Sie war gerade einmal fünf, als die Nazis an die Macht kamen und ihr nach und nach erst alle Rechte, dann die Großeltern und den Vater nahmen. Die Ehe ihrer Eltern wurde wegen „Rassenschande“ zwangsgeschieden und der Vater zum Auszug gezwungen. Sie musste ab dem 14. Lebensjahr Zwangsarbeit leisten. Bald kamen auch ihre kleine Schwester und sie im NS-Jargon als „Geltungsjuden“ auf eine Deportationsliste und mussten untertauchen.

Der Berliner Sophie-Charlotte-Platz während des Kriegs Foto: Dagmar Morath

Überleben: „Ich bin“, sagt Ruth Winkelmann mit schelmischem Grinsen, „dem Tod oft von der Schippe gesprungen.“ Als Vierjährige hatte sie eine Hirnhautentzündung und war 48 Stunden ohne Bewusstsein. Seitdem leidet sie an epileptischen Anfällen: „Das wurde damals aber nicht erkannt. Sonst wäre ich auch unter Euthanasie gefallen.“ Durch die Hilfe eines NSDAP-­Mannes, der sich in ihre Mutter verliebt hatte und ihr seinen Schrebergarten als Versteck für die Kinder angeboten hatte, entging sie der Deportation; im Krieg überlebte sie die Bomben. „Dabei kann ich vier Stellen nennen, an denen ich war, an denen später Bomben einschlugen.“

Krätze: Nach Schließung ihrer jüdischen Mädchenschule in Berlin-Mitte arbeitete sie in einer Uniformfabrik. Zusammen mit polnischen, russischen und ukrainischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen musste sie die Uniformen verstorbener oder verwundeter Soldaten reinigen. Davon bekam sie Krätze: „Ich hatte überall entzündete Stellen.“ Noch heute verzieht sie ihr Gesicht, wenn sie an die Uniformen denkt: „Überall war Blut, in den Taschen teils benutzte Präservative.“

Bitterkeit: Ihre Mutter sei bitter geworden: „Ihr übersprudelndes Wesen ist in dem Moment gestorben, in dem sie nach der Deportation meines Vaters auch noch meine Schwester verloren hat.“ Ruth Winkelmanns Vater kam nach ­Auschwitz, ihre Schwester starb mit acht Jahren an Diphtherie. Schon als Sechsjährige war sie ein Charakter. Wenn die Mutter traurig war, dass sie die Kleine den ganzen Tag allein in der Laube lassen musste, beschwichtigte die Tochter: „Mach dir keine Sorgen, Mutti. Wenn du wiederkommst, geht für mich auch wieder die Sonne auf.“ Beinahe 60 Jahre verdrängte Ruth Winkelmann ihre Erinnerungen an die NS-Zeit, verließ den Raum, wenn das Thema aufkam. Sie habe gebraucht, um über das Erlebte reden zu können: „Jetzt habe ich mich davon befreit.“

Glauben: Mit dem Überleben gehadert wie andere Überlebende habe sie nie: „Ich glaube an Gott und daran, dass ich ausgesucht wurde, die Geschichte weiterzugeben.“ Als Kind ging sie mit ihrem jüdischen Vater und ihrer zum Judentum konvertierten Mutter in die Synagoge, nach Ende des Krieges konvertierte sie gemeinsam mit ihrer Mutter zum Christentum: Aus Loyalität gegenüber dem christlichen NSDAP-Mann, der ihnen das Leben gerettet hatte und den ihre Mutter dann auch aus Dankbarkeit heiratete: „Glaube hat für mich nichts mit Kirche zu tun. Protestantisch oder jüdisch, das ist egal. Das ist ein und derselbe Gott.“

Leben nach dem Überleben: Kurz nach dem Krieg lernte sie bei einer Tanzveranstaltung ihren Mann kennen: „Ich war seine große Liebe. Er war mein Partner. Er hat mich immer gleichberechtigt behandelt. Wenn ich noch zu tun hatte, suchte er sich auch Arbeit, hat sich nie von mir bedienen lassen. Als wir ein Mofa kauften, wurde es erst genutzt, als auch ich einen Führerschein hatte.“

Reisen: Sie seien beide Abenteurer gewesen. Gemeinsam erkundeten sie zunächst mit einem Schlauchboot Berlin, später bereisten sie Europa, erst mit dem Mofa, dann mit einem VW Käfer, zuletzt mit einem Wohnmobil: „Wir brauchten nicht viel. Über die Natur lernt man die Welt kennen.“ Heute erinnern Fotos und Mitbringsel wie ein handgeschnitzter Holzelefant aus Kenia an ihre Reisen. Im Wohnzimmer hängen Bilder aus Island und Südfrankreich, die sie aufgenommen hat, das Fernsehzimmer schmücken Hieroglyphen, ein Reisemitbringsel aus Ägypten.

Klagen auf hohem Niveau: „Wenn ich heutzutage Menschen höre, die bei einer 36-Stunden-Woche über Überarbeitung klagen, muss ich laut kreischen“, sagt Ruth Winkelmann. Sie sei wie ihre jüdischen Großeltern durch und durch Preußin. Sie erzählt, wie sie 1945 im zerbombten Berlin eine 46-Stunden-Woche gehabt habe und dafür drei Stunden nach Charlottenburg und drei Stunden zurückgelaufen sei: „Es gab ja nichts mehr. Da fuhr keine Bahn, die Brücken waren alle zerstört. Ich musste für fünf Pfennige pro Fahrt mit dem Boot über die Spree übersetzen.“

Beruf und Berufung: Hätte sie die Wahl gehabt, erzählt sie, wäre sie Lehrerin geworden, zu Kindern habe sie eine besondere Bindung. Nach 1945 aber wurde ihr verwehrt, die Schule nachzuholen. „Mein Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, mit 16 Jahren hätte ich kein Recht mehr auf schulische Leistungen.“ Ruth Winkelmann begann stattdessen eine Ausbildung als Schneiderin: „Da hatte ich mein Einkommen und Urlaub. Ich habe dann Kindern ehrenamtlich das Schwimmen beigebracht.“

Winkelmanns Mann auf Reisen Foto: Dagmar Morath

Zuhause: „Home is where the heart is“, dieser Sinnspruch steht auf einem kleinen Herzen an der Wand. Für Winkelmann blieb Berlin trotz allem immer Heimat: „Aber wenn meine Cousine noch am Leben wäre, könnte ich mir auch vorstellen, mit ihr in Israel zu leben.“ Ihre Cousine väterlicherseits war 1932 geflüchtet, in Israel hat sie später mehrere Kibbuzim mit aufgebaut. Daran, in Berlin zu bleiben, habe sie aber nie gezweifelt, sich nie gefragt, was andere während der NS-Zeit gemacht haben: „Es gab damals wie heute solche und solche Menschen. Wenn uns nicht viele Hände geholfen hätten, hätten wir nicht überlebt.“

Das Wichtigste im Leben: Das Wichtigste, sagt Ruth Winkelmann, sei für sie die Familie. Wenn sie von ihren Urenkeln erzählt, beginnen ihre Augen zu leuchten: „Das Mädchen ist lebhaft und quirlig, der Junge eher still. Aber sie hängen aneinander, betonen immer: ‚Das ist meine Schwester. Das ist mein Bruder.‘“ Für das Cover des auf Interviews über ihr Leben basierenden Buches „Plötzlich hieß ich Sara“ hat sie ein Foto von sich und ihrer Schwester gewählt: „Das Bild wollte meine Schwester. Sie hat mich zum Fotografen geschleift und meinte: ‚Damit uns auch Papa bei sich haben kann.‘“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Erfindungen: Die sinnvollste Erfindung der letzten 93 Jahre ist für Ruth Winkelmann der Trockner. „Meiner dient mir schon seit den sechziger Jahren.“ Wäsche auswringen sei ihr immer ein Gräuel gewesen: „Ich hatte nie die Kraft in den Händen.“ Die sinnloseste Erfindung ist aus ihrer Sicht das Smartphone: „Warum sollte ich immer erreichbar sein? Es reicht doch, zu Hause zu telefonieren.“ Sie redet sich in Rage: „Alle kleben an diesen Bildschirmen. Wenn ich Mütter sehe, die über ihrem Telefon hängen, statt die Fragen ihrer Kinder zu beantworten, werde ich wütend. Was soll denn aus den Kindern ­werden?“

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