Der Hausbesuch: Helfen und helfen lassen
Goldi war 17 Jahre lang obdachlos. Zurzeit ist er in der Wohnung eines Bekannten untergekommen. Und sorgt sich um andere auf der Straße.
Ein Dach über dem Kopf macht Goldi glücklich. Dass seine Tochter irgendwann versteht, dass er sie vor sich schützen wollte, würde ihn noch glücklicher machen.
Draußen: Ein eiskalter Nachmittag im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Das Haus mit der Nummer 21 a ist eines von wenigen unsanierten in der Gegend. Punkt 14 Uhr, wie verabredet, kommt Goldi mit einem alten Freund, sie waren gerade unterwegs. Die beiden sind stark alkoholisiert.
Drinnen: Zurzeit ist Goldi im hinteren Bereich der Wohnung eines Bekannten untergekommen. Er bittet in ein dunkel möbliertes Zimmer mit Schlafcouch, Couchtisch, Schrankwand und laufendem Fernseher. An den Wänden: Kunstefeu und Familienfotos. „Alles von meinem Kumpel. Ich wohn hier nicht. Ich schlaf hier nur.“
Die Sofaecke sieht tatsächlich aus, als würde dort jemand „Platte machen“, wie Goldi es nennt, wenn Menschen auf der Straße schlafen. Auf dem Sofa befinden sich ein Schlafsack, mehrere Decken und ein Rucksack mit Bierflaschen. Auf dem Couchtisch: Aschenbecher, Tabak, Stifte und ein Stapel des Berliner Obdachlosenmagazins Straßenfeger.
Goldi: Der in Thüringen geborene und aufgewachsene Mittfünfziger wird seit seiner Jugend von allen nur Goldi genannt. „Einige denken da an Goldbrand.“ Den Spitznamen aber habe er bei einem Pfingstfest verpasst bekommen, sagt er, in Anlehnung an einen Porno, weil er mit einem Mädchen rumknutschte. „Das Problem war: Goldi war auch der Name von ’nem Hamsterfutter in der DDR. Deswegen hat er mir erst nicht gefallen. Aber dann dachte ich: Haste ’nen Schutznamen.“ Dass sein echter Name veröffentlicht wird, möchte er nicht. Er erzählt, dass er unter anderem wegen Schwarzfahren und Dealen im Gefängnis war und eigentlich länger sitzen sollte, aber unter der Auflage freikam, eine Therapie zu machen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zauberkoffer: In einem Koffer verwahrt er alles, was ihm etwas bedeutet: seine eigenen abgeschnittenen Haare, ein Selbstporträt als Jugendlicher und Flyer von Festivals, die er organisiert hat. Auf einem steht: „Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll am 8. und 9. Mai 1992“, darunter: „Freibier: 1500 Liter, für Kondome sorgt jeder selbst“. Der Rest seiner Sachen, erzählt Goldi, sei ihm vor ein paar Jahren im betreuten Wohnen abhandengekommen.
„Das Materielle interessiert mich nicht. Aber ich hatte auch Bilder und Ketten von einem toten Freund.“ Als er die nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt abholen wollte, seien nur noch 30 CDs und ein Wäscheständer da gewesen: „Da musste ich heulen. Ein Glück hatte ich den Zauberkoffer meiner Schwester gegeben. In dem ist alles, was von meinem Leben übrig geblieben ist.“
„Straßenfeger“: Seit vier Monaten verkauft Goldi das Magazin Straßenfeger, hinter dem ein gleichnamiger Verein mit Hilfsangeboten für Obdachlose steckt. Für jede verkaufte Zeitung bekommt er einen Euro. Der zweite Euro geht an den Verein. „Ist ’ne gute Sache. Die haben mir früher oft geholfen.“ Jeden Abend zieht er los: „Nachts sind die Leute freundlicher. Aber es ist ’ne ganz schöne Lauferei.“
Das gesellschaftliche Klima habe sich in den letzten Jahren verändert. „Seit alles immer teurer wird, sind die armen Leute weg, und es ist unfreundlicher geworden.“ Leute mit wenig Geld, sagt er, geben eher was. Er lächelt und fügt hinzu: „Aber die Jungen sind seit Corona sehr offen. Die entschuldigen sich, wenn sie nichts geben, und sagen, dass sie gerade kein Bargeld haben, weil sie jetzt immer alles mit Karte zahlen.“
Pandemie: Der Titel der Straßenfeger-Ausgabe, die Goldi auf dem Tisch liegen hat, lautet „Wir sitzen alle im selben Boot?“. Auf der Rückseite ist eine Zeichnung von einem Mann mit Maske und Becher. Hinter ihm auf der Wand ein Graffito: „Homeoffice“. Spricht man Goldi auf die Situation von Obdachlosen in der Pandemie an, redet er sich in Rage. „Der Staat kümmert sich um VW. Die auf der Straße werden vergessen.“ Das Problem sei Lobbyismus. „Man muss sich die sogenannten Volksvertreter doch nur mal anschauen: Fast alles Rechtsanwälte und so. Die dann auch noch in Vorstände gehen.“ Vor Wut haut er hart auf den Tisch. „Die sollen sich um ihre Mandate kümmern. Die Ferienwohnungen abschaffen oder die Hälfte zu Sozialwohnungen machen wär ’n Anfang.“
Besonders in der Coronazeit gebe es politischen Handlungsbedarf: „Gerade sind viel mehr auf der Straße als sonst.“ Die Notunterkünfte dürften durch die Coronabestimmungen nur die Hälfte aufnehmen, und die meisten Suppenküchen hätten zu. „Schlimm ist, dass sie die Bankvorräume abgesperrt haben. Und dass die paar U-Bahnhöfe, die früher in Berlin im Winter für Obdachlose nachts offen blieben, dichtgemacht werden.“
Helfen: Goldi identifiziert sich mit den Menschen, die inmitten des Pandemiewinters auf der Straße sitzen. „Der Goldi unterstützt sie alle“, sagt sein Freund, während er sich einen Joint dreht. „Der hat hier ’ne Art Auffangstation. Manchmal liegen bis zu zehn Mann auf dem Boden rum.“ Goldi zuckt mit den Achseln. Er hält es für selbstverständlich, anderen zu helfen, jetzt, wo er ein Dach überm Kopf hat. „Mir geht’s gerade gut. Aber die, die jetzt draußen sind, brauchen echt Hilfe.“ In sehr kalten Nächten nehme er alle mit, die er sehe. „Manchmal bring ich auch nur Essen oder einen Schlafsack. Nicht alle wollen rein.“
Wohnungslosigkeit: Er selbst ist seit seinem 14. Lebensjahr wohnungslos: „Da bin ich von zu Hause abgehauen und zu ’nem Kumpel.“ Seinen Vater, einen Alkoholiker, hat er nie kennengelernt, erzählt er. Seine Mutter, die ihn nie wollte, meldete das Verschwinden nicht. „Die hat mir quasi geholfen. Sonst wäre ich ins Heim gekommen. Zu DDR-Zeiten war alles nicht so einfach.“ Seine Mutter, sagt er, „hatte so auch einen Stress weniger: Mein Bruder hat mich immer verprügelt.“
Eine eigene Wohnung hatte Goldi nie. Mal übernachtete er auf den Baustellen, auf denen er als Maurer arbeitete, mal in Autos: „Ich bin viel rumgekommen.“ Als er zwei Jahre als Elektriker in der Schweiz arbeitete, gönnte er sich eine Pension. 17 Jahre lang schlief er auf der Straße. Meist fand er einen offenen Hauseingang. „Das Schöne war: Wenn du dich benimmst, wenn du da nicht hinpisst und hinter dir aufräumst, helfen die Leute oft, gerade die Alten: Da steht dann auch mal eine Tüte mit Essen.“
Familie: Zu seiner Mutter und seiner Schwester hat er noch Kontakt. „Meine Mutter freut sich immer, dass ich noch lebe.“ Seine Familie aber seien vor allem Freunde: „Ich hab immer gute Freunde gehabt, bei denen ich unterkommen konnte.“ Zeitweise lebte er auch bei den Frauen, mit denen er eine Beziehung hatte, erzählt er. Eine, mit der er acht Jahre lang zusammen war, nennt er „die Liebe meines Lebens“. Eine andere „die Mutter meiner Tochter“. Bis zu ihrem neunten Lebensjahr hat er seine Tochter, „die süße Maus“, einmal die Woche gesehen.
Krankheit: Vor zwei Jahren aber verlor Goldi sein Sehvermögen: „Das hängt natürlich mit den ganzen Drogen zusammen.“ Mit nur 20 Prozent ist er beinahe blind. „Nicht mehr arbeiten zu können, damit konnt’ ich nicht umgehen. Da bin ich wieder abgestürzt.“ Den Anblick wollte er seiner Tochter ersparen. Ein zugedröhnter Vater, so klar konnte er auch auf Heroin noch denken, ist kein guter Vater. Daher sei er abgetaucht. Dreimal habe er seiner Tochter zuliebe versucht, in Kliniken von dem Stoff loszukommen, vergeblich. „Vor zwei Wochen hab ich ihr einen Brief geschrieben und alles erklärt.“ Seitdem wartet er auf Antwort.
Sucht: Mit dem Trinken hat er mit elf Jahren begonnen. Das Heroin sei während der Obdachlosigkeit dazugekommen: „Man kann damit sein ganzes Leben komplett ausschalten. Nichts interessiert mehr. Du hast ein Grinsen im Gesicht, und alles ist gut.“ Angefangen habe alles durch Bekanntschaften. „1994 hab ich paar Italiener kennengelernt. Bei denen lag das Zeug auf dem Tisch. Aber es war meine Entscheidung.“ Erst habe er es nur geraucht. „Dann bald geballert, also gespritzt, weil’s einfach mehr knallt.“ Nach einem Therapieaufenthalt bei einer Bauernfamilie in Bayern hatte er seine Sucht dann lange unter Kontrolle.
Hoffnung: Goldi glaubt daran, seine Sucht wieder in den Griff zu bekommen, sobald er eine neue Arbeit findet. „Ich will zurück nach Thüringen. Da hab ich viele Freunde und finde eher was. Vielleicht im sozialen Bereich. Oder ich organisier’ wieder Festivals.“ Zu seiner Tochter könne er mit seinem Schwerbehindertenausweis umsonst pendeln: „Wenn sie mich dann überhaupt sehen will.“
Er hofft, dass seine Tochter eines Tages versteht, dass er sich vor ihr zurückgezogen hat, um sie zu schützen. „Ich möchte ein Haltepunkt für sie sein. So wie meine Mutter für mich. Ich kann ihr natürlich nur Ratschläge geben. Und sicher nicht die besten. Aber mir ist wichtig, dass sie weiß, dass ich für sie da bin.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!