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Der HausbesuchVollstens zufrieden

Bariş Cengiz liebt Asphalt, Beton, Licht und Lärm. Also lebt der gebürtige Istanbuler nun in Berlin und legt auf. Manchmal sogar im Kindergarten.

Draußen: Baris Cengiz im Bergmannkiez, Berlin Foto: André Wunstorf

Wer sagt, dass DJs nur für die partyaffine Generation auflegen? Bariş Cengiz, 40, ist auf der Suche nach neuen Zielgruppen, denen Musik Freude macht und so etwas wie Freiheit gibt.

Draußen: Kein Spätkauf, kein Kiosk, kein Dönerladen, keine Kneipe ist in der Straße. Das ist untypisch für Berlin. Nichts gibt es hier, nur Autos auf den Straßen und traumhafte Aussichten auf gepflegte Altbauwohnungen mit großen Balkonen und Terrassen. In den Seitenstraßen im Kreuzberger Bergmannkiez ist ein Hauch Barcelona, ein Hauch Paris.

Drinnen: Die Sonne flutet die Wohnung. Wie in einer Lounge sieht es aus, zum Entspannen lädt leiser Elektrosound ein. Durch das kleine Wohnzimmer geht es ins Schlafzimmer mit Balkon. Im Sommer wachsen hier Wassermelonen im Topf.

Markthalle: Unweit der Wohnung ist die Marheineke-Markthalle. Früher ein Ort für viele Menschen, jetzt einer für Hipster und Berlinbesucher*innen. „Eine normale Familie kann nicht mehr in der Markthalle einkaufen. Zu teuer, zu touristisch und es schmeckt nicht einmal“, sagt Bariş. „Ich esse lieber zu Hause.“

Alles ist Zutat: Vom Leckersten gibt es in der Küche von Bariş Cengiz alles zweimal. Das ist sein Küchencredo. Zwei verschiedene Arten Olivenöl – für Salate und Kaltspeisen und zum Braten. Zwei Gläser mit Honig – Kastanie und Akazie. Haferflocken – grob und fein. Getrocknetes Basilikum – grün und rot. Und eine Menge Trockenfrüchte. Maulbeeren und Feigen – von Natur aus süße oder leicht saure, manche hellrosa, andere rötlich braun. Und weil alles Zutat ist, gilt das auch für die Musik: Der Mix enthält vor allem Elektro- und Popmusik, gewürzt mit orientalischen Elementen.

Frieden: Bariş’ Eltern trennten sich, als seine Mutter im dritten Monat schwanger war. Bei seiner Geburt war der Vater dann doch dabei. Auf dass der neugeborene Sohn die beiden Eltern wieder vereine, gibt der Arzt in der Istanbuler Klinik dem Baby den Namen Bariş. „Frieden“ heißt das auf Deutsch. „Es hat geklappt“, sagt Bariş, „seither sind meine Eltern wieder zusammen.“

Drinnen bewegt sich nicht alles: Discokugel im Ruhezustand Foto: André Wunstorf

Alevitisch: Bariş ist in Istanbul in einer kurdisch-alevitischen Familie groß geworden, seine Eltern kommen aus Tunceli, einer kleinen Stadt in der ostanatolischen Türkei. Seine Großeltern waren Waisenkinder. „Ich vermute, dass meine Großmutter sogar eine islamisierte christliche Armenierin gewesen sein könnte“, sagt Bariş. Mit diesem ethnischen und kulturellen Erbe ist es für ihn schwierig, sich irgendwo einzuordnen. „Alevitisch ist sexy“, sagt er, obwohl seine Vorfahren umgebracht wurden, und zwar deshalb, weil sie Aleviten waren.

Massaker in Tunceli: In den Jahren 1937 und 1938 ging die türkische Regierung brutal gegen die alevitische Bevölkerung in der ostanatolischen Provinz Dersim vor. Dersim wurde später in Tunceli umbenannt. Bis zu 70.000 Menschen wurden umgebracht, so Schätzungen, Tausende wurden deportiert. Bis heute leugnet die Türkei das Massaker in Dersim und erkennt die Aleviten nicht als konfessionelle Minderheit an. Bariş will nicht mehr über die Ereignisse in Tunceli reden. Weil die Menschen in Berlin nicht immer die Hintergründe kennen, führe das schnell zu politischen Missverständnissen.

Zazaki: Die Einheimischen in Dersim empfanden sich nicht als Kurden, sondern als Dersimli oder alevitische Zaza, weil sie eine eigene Sprache sprechen: Zazaki. Es unterscheidet sich von kurdischen Dialekten und gilt als eigenständige Sprache. Bariş spricht auch Zazaki.

Das Verbot: Auf Zazaki hieße Bariş nicht Bariş, sondern „Sılamet“. Das ist das Wort für Frieden. „Den brauchen die Türkei und der Nahe Osten dringend“, sagt er. Seine Muttersprache war ihm für lange Zeit verboten. „Wir sollten uns nicht verraten, deswegen musste ich die Zähne zusammenbeißen“, sagt er. „Mein Vater hatte viel Angst und wollte uns schützen, deshalb verlangte er von uns, dass wir unsere Sprache einfach vergessen.“ Bariş erzählt, wie er gebrochenes Türkisch sprach, ständig auf der Hut, kein Wort auf Zazaki da­run­terzumischen. „Meine Sprache klang lustig, komisch, undeutlich. Ich wirkte wie ein gestörtes Kind – es war eine Taktik des Überlebens“, sagt er. „Wir taten so, als ob wir gläubige Türken wären. Meine Mama entzündete während des Ramadan zu Hause fünf Lampen, wie Sunniten beim Fasten. Ich vermisse oft diese Tricks, die für mich wie ein Rollenspiel waren.“

Berlin ist verrückt: In Berlin braucht er nichts zu verheimlichen. Das hat Bariş vor zehn Jahren verstanden, als er aus Istanbul in die deutsche Hauptstadt zog. Auch Zazaki darf er hier sprechen. „Diese Stadt toleriert alle und alles“, sagt er. „Berlin ist die Stadt der Menschen mit ungewöhnlichem Aussehen und verrückten Ideen. Diese Menschen brechen die Stereotype und vermitteln neue Werte und Normen in der modernen Gesellschaft.“

Licht und Beton: „Asphalt, Beton, Licht und Lärm – das sind Lebenszeichen für mich, ich fühle mich lebendig, modern, in einem ständig wechselnden Rhythmus“, sagt Bariş. Ganz anders geht es ihm in der Natur: „Dort kriege ich die Krise vor lauter Langeweile und Stille. Ich will sofort abhauen.“ Er fühle sich der Natur ausgeliefert, weil er sie nicht kontrollieren könne. Zeit vergehe in der Natur irrsinnig langsam. „Ich habe Panik, in meinem Leben etwas Wichtiges zu verpassen.“

taz am wochenende

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Auftreten: „Ich liebe Orte, wo viel los ist. Ich brauche Menschenmassen um mich. Mich ruft die Party in der Stadt“, sagt Bariş. Die Fans kennen seine Musik; er legt auf in Clubs wie dem SchwuZ, im Kater Blau, im SO36 und bei Techno-Türken. Er pfeift und tanzt selber hinter seinem DJ-Pult, bringt die Menschen auf der Tanzfläche in Bewegung. Er lächelt alle an und wedelt mit seinem riesigen Fächer. Bei seinen Auftritten begleitet ihn seit einigen Monaten oft ein Trompeter, der live mitspielt. „Mein neuer Style in der Clubkultur“, sagt er.

Der neue Mix: Auch alevitische Musik mischt er in seine Sets. In seinen Ohren klingt alevitische Musik sehr melancholisch, auch ein wenig mystisch. Er sucht nach guten Volksliedern, die er rhythmisch und dynamisch verändert und mixt, sodass man dazu tanzen kann.

Party: „Jeder Mensch sollte tanzen, ganz egal was sein sozialer Status ist“, sagt Bariş. „Tanzen macht gesund, aber Party macht kaputt.“ Viele verlören die Kontrolle durch Alkohol und Drogen. So eine Lebensweise findet er falsch. Nicht aber das Tanzen, das bedeutet für ihn Freiheit. „Wenn Zehntausende Menschen zusammen tanzen, zeigt das, wie frei eine Gesellschaft lebt“, sagt er.

Christopher Street Day: Bei Festivals treffen in Berlin manchmal sogar noch mehr Menschen zusammen. Oder auf dem Christopher Street Day, dem Feiertag der Homosexuellen, Queeren, sonst wie Seienden. Die Menschen tanzen kostümiert, mit bizarrem Make-up oder auch fast nackt – alles und alle werden akzeptiert. „Auf den CSD-Partyflächen begegne ich Anwälten, Polizisten, Lehrern und Ärzten – ja, die gehen hier auch alle mal tanzen. In einer geschlossenen Gesellschaft, wie etwa in der Türkei, gilt: Solche Menschen haben auf der Tanzfläche nichts verloren.“

Drinnen II: Passbildautomatenbilder mit Freunden Foto: André Wunstorf

Disco in der Kita: Bariş legt sogar im Kindergarten auf. „Es hört sich ein wenig abwegig an, oder?“ Nach seiner Ausbildung zum Erzieher machte er ein Praktikum in einer Kita. „Ich bin selber Kind mit Kindern“, erklärt er. Er malt mit ihnen, macht Sport und tanzt. Seine Partymusik testet er zuerst oft im Kindergarten. Die Drei- bis Fünfjährigen tanzen dann zu seinen Mixtapes: „Meine Musik macht Kinder glücklich.“

Gelungenes Experiment: Die Eltern der Kita-Kinder finden gut, was er macht. Einige haben Bariş sogar weitere Locations vor­geschlagen: eine Zahn­arztpraxis, einen Friseur­salon. Und die Kindergarten­leitung schrieb ihm ins Prak­tikumszeugnis, dass sie „vollstens“ zufrieden sei mit ihm. Bariş will weiter mit Kindern arbeiten. Er hat schon eine neue Stelle.

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