Der Hausbesuch: „Das ist Mazel, ist Glück“
Siebzig Jahre Israel, siebzig Jahre Israeli – das Leben von Schlomo Kann ist wie ein Spiegel, in dem die Geschichte des zerrissenen Landes aufscheint.
Draußen: Die hell getünchten Hochhäuser von Rishon LeZion saugen Licht auf, dazwischen liegen Einkaufszentren mit Franchise-Läden, überdimensionalen Dinosaurierfiguren, Sicherheitskontrollen am Eingang. Dahinter ist das Meer. In Israel wachsen Städte in die Höhe. In Rishon LeZion, die Erste in Zion heißt das, unweit von Tel Aviv, wohnt Schlomo Kann mit seiner Frau Anat im 19. Stock.
Drinnen: Die Wohnung wirkt wie eine Erste-Klasse-Lounge auf einem Flughafen mit ihrer Weite, ihrer Luftigkeit, dem Ausblick auf die Skyline von Tel Aviv – und der Erste-Klasse-Bewirtung. Anat, Schlomo Kanns Frau, hat aufgetischt: Salat, Gemüse, Nudeln, Soße, Hummus, Thunfisch, Oliven, Erdbeeren, Kuchen. Über dem Flachbildschirm im Wohnzimmer hängt ein großes Bild des Sohnes.
Kein Deutscher sein: „Mein Vater war ein Deutscher, meine Mutter war eine Deutsche, meine Großeltern waren Deutsche, aber ich hatte keinen deutschen Pass“, sagt Schlomo Kann beim Essen. Sein Vater kam aus Wolfshagen in Hessen, Alex Kann hieß er, hatte eine Schuhfabrik, „Schuhe und Stiefellagen, Maass + Reparaturwerkstatt“, steht auf einem alten Schuhlöffel aus Metall, den er aus einer Kiste holt, in der Fotos und Erinnerungsstücke an seine verlorene Familie sind.
Das Eiserne Kreuz: In der Kiste liegen auch die Orden, die sein Großvater, der Offizier im Ersten Weltkrieg war, erhalten hatte. „Wir sind Deutsche“, habe er immer gesagt, „ich habe im Ersten Weltkrieg gekämpft.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass das bei den Nazis nicht zählt. Ins Getto nach Riga wurden er und seine Frau verschleppt. „Verschollen sind sie“, sagt Schlomo, „verschollen, was soll das heißen?“, er hebt seine Arme gegen die Decke der Wohnung, gegen die Luft, gegen den Himmel.
Die Flucht des Vaters: Ein Bruder des Großvaters war weniger optimistisch und drängte, dass wenigstens der Sohn und die Tochter des Großvaters nach Palästina, damals britisches Mandatsgebiet, auswandern. 1938 gelang die Flucht. Noch nicht 16 war der Vater von Schlomo. Seine Schwester und er gingen in ein Kibbuz und er bald darauf in die jüdische Brigade der britischen Armee. Er war Deutscher und kämpfte gegen die Deutschen.
Nach dem Krieg: „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat mein Vater seine Geschichte gesucht“, sagt Schlomo. Auch weil er nicht sofort zurück konnte nach Palästina, die Briten erlaubten es nicht, sie fürchteten, dass ihnen ausgebildete Soldaten im Unabhängigkeitskampf gefährlich werden könnten. Deshalb besuchte sein Vater nach dem Krieg auch Wolfshagen. In sein Elternhaus ließen ihn die neuen Bewohner nicht, aber er bekam die Kiste mit den Erinnerungsstücken. Sein Großvater hatte sie einem Nachbarn gegeben, bevor er deportiert wurde. „Er wusste also, dass er nicht zurückkommt“, meint Schlomo. „Was wird sein mit meiner Kiste“, soll Schlomos Vater immer gesagt haben. Wenn es so etwas wie Familienwurzeln gibt, dann liegen sie darin. „Wir waren 300 Jahre lang Deutsche.“
Freude: Bald nachdem der Vater 1947 zurück in Palästina war, lernte er in Tel Aviv seine Frau kennen, sie heirateten, wohnten in einem Zelt, feierten im Mai 1948 die Gründung des Staates Israel und die Geburt des Sohnes. Schon drei Monate nach der Geburt allerdings verließ die Mutter seinen Vater und den Jungen. Sein Vater brachte ihn zur Schwester in den Kibbuz. Mit weicher Stimme beteuert Schlomo, wie sehr er diese Tante liebte. „Sie hatte selber drei Kinder.“ Er wohnt im Kinderhaus, wie alle Kinder. Sein Vater kommt abends vorbei, zieht ihm den Schlafanzug an, bringt ihn ins Bett. Es sei eine glückliche Kindheit gewesen. Als er in der zweiten Klasse ist, holt ihn der Vater wieder zu sich. „Mein Vater hatte dann von den Deutschen ein paar Piaster bekommen und hatte eine neue Frau.“ Als sich die Eltern 1966 neuerlich trennen, die Stiefmutter nach Jerusalem zieht und sein Vater nach Berlin, bleibt er in Tel Aviv. „Da waren alle meine Freunde.“
Kriege: Mit 18 geht Schlomo Kann, wie alle jungen Israelis, zur Armee und kommt zu den Pionieren, leitet bald einen Spähtrupp, ist Minenräumer, wird Offizier. Der 6-Tage-Krieg 1967 ist der erste Krieg, in dem er kämpft. 1968 kommt die Suezkrise, „jeden Tag sind Soldaten gestorben“. Obwohl inzwischen Offizier der Reserve, ist er auch 1973 im Jom-Kippur-Krieg und 1982 im Libanon-Krieg. Der Jom-Kippur-Krieg ist ihm besonders in Erinnerung. Er war in Berlin damals, als er vom Krieg erfuhr, Flugzeuge von Deutschland aus flogen nicht mehr. „Aber meine Einheit brauchte mich“, er reiste über Aachen nach London. „Ich fühlte mich wie ein Flüchtender.“ In London bekam er einen Flug und zwei Tage später war er an der Front. Es war ein schlimmer Krieg für ihn. „Ich habe viele Freunde verloren, wirklich gute Freunde. Die besten.“
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Verstehen: Mit der Zeit habe er die jüdische Geschichte verstanden: „In unserem Land muss man immer kämpfen. Wir leben mit den Arabern. Wir wollen ihr Land; sie wollen unser Land. Wir sind stärker, aber die Araber verstehen das nicht. Sie wollen uns zurückschicken ins Meer.“ Er arbeitet auch heute noch beim Militär als Programmierer für Radaranlagen.
Das Glück: 1976 war es, er sieht Anat. „Liebe auf den ersten Blick“, sagt er. Er sei aber erst einmal für ein paar Monate nach Berlin. Als er zurück in Israel ist, war Anat, die Hebamme ist, beim Militär eine Sanitäreinheit leitet, nicht mehr da, versetzt worden, sie hatte geglaubt, er habe keine Interesse an ihr. Schlomo findet sie. „Zu kriegen eine nette Frau, eine kluge Frau, eine schöne Frau, das ist Mazel, ist Glück“, sagt er. 1977 wurde die Tochter geboren, 1980 der Sohn.
Unglück: Der Sohn war 20 Jahre alt, als er einen Wasserfall herunter sprang, dabei das Gleichgewicht verlor und abstürzte, weil ein zweiter Springer, vom Wind abgetrieben, ihn touchiert hatte. Der Sohn brach sich das Genick. Schlomo kommen die Tränen, als er von ihm spricht. Der Sohn starb während seines Militärdienstes. Er gilt als Gefallener. Deshalb bekommen die Eltern die Unterstützung der Armee, deshalb kann Schlomo bis heute arbeiten. Arbeiten, um mit der Gegenwart klar zu kommen. „Ich habe verloren meinen Sohn, das ist das Schwerste. 38 Jahre wäre er jetzt.“
Die Zwiesprache: Jedes Jahr am Unabhängigkeitstag geht Schlomo auf den Friedhof. Früher zu den gefallenen Freunden. „Und jetzt zu meinem Sohn.“ Er erzählt ihm, wie es geht, was sie tun, dass sie gerade in Tansania waren mit den zwei Enkelinnen, dort Löwen gesehen haben, Gnus. „Aber du sprichst zu einem Stein.“ Der Sohn war Hundeführer beim Militär. Sein Hund hieß Grizzly – wie heute der Hund der Enkelinnen.
Das Leben: „Das Leben geht weiter“, sagt er. „Die kleinen Leute leben nicht die Politik, sie leben das Leben. Sie haben Kinder, Enkelkinder. Ich fahre jede Woche 100 Kilometer mit dem Rad.“ Er muss sich bewegen, seit dem Herzinfarkt. „Das Leben ist kompliziert. Wir dachten immer, die nächste Generation wird nicht kämpfen. Aber leider, das wird nicht sein.“
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