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Der HausbesuchGehen wie ein Baum

Wächst man in der Westberliner Boheme auf, ist Behinderung auch nur eine Form von Anderssein. Zu Besuch bei Marcel Mühlenhaupt.

Die Enge seiner Zweizimmerwohnung kommt Marcel Mühlenhaupt entgegen Foto: Dagmar Morath

Unweit des Tegeler Sees, wo Ausflugsschiffe wie die „Havel-Perle“ und die „Moby Dick“ zu ihren Touren über die Seen, Flüsse, Kanäle Berlins starten, wohnt, trommelt, schreibt Marcel Mühlenhaupt.

Draußen: Wer gegen Westen schaut, sieht zwischen den Häusern den Tegeler See am Ende der Straße glitzern. Der Glanz hellt die Eintönigkeit auf, in der einzig Fahrradskelette an Verkehrsschildern dem Geordneten etwas Anarchisches abtrotzen. Im Hinterhof ein ständiges Brummen, irgendwo jenseits der Brandwand ist ein Kleinkraftwerk, aber: „Ich höre das nicht.“

Drinnen: Die Enge in der Zweizimmerwohnung, in die er nach der Trennung von seiner Frau mit der Tochter zog, kommt Mühlenhaupt entgegen, überall findet er Halt. Was noch auffällt: sein Faible für Schwarz-Weiß und Blau. An den Wänden blaue Akte von Matisse, Schwarz-Weiß-Fotos mit expressionistischem Touch, die blaue Taube von Picasso.

Die Nabelschnur: Ariadnes Faden half dem Theseus, sich nicht im unterirdischen Labyrinth zu verirren und zugrunde zu gehen, sondern zurückzufinden. Die Nabelschnur ist so ein Ariadnefaden, der die Versorgung bis zum Ausgang sichern soll. Nur in Mühlenhaupts Fall wickelte sie sich um seinen Hals, als sollte er im Dunkeln gehalten werden. Blau angelaufen schaffte er es dennoch bis zum Ausgang; der Sauerstoffmangel indes hat ihn gezeichnet. Er leidet unter Spastiken und Schwerhörigkeit.

Der Baum: Beim Hören helfen Mühlenhaupt die Hörgeräte und das Lippenlesen. Gehen funktioniert, solange er sich abstützen kann. Mit ausgreifenden Bewegungen des Oberkörpers balanciert er die widerspenstigen Schritte aus „wie ein Baum. Wenn der gehen könnte, dann würde er, wie ich, die Wurzeln schwer hinter sich herziehen.“ Außerhalb der Wohnung hilft dann der Rollstuhl.

Die Wurzeln: Das mit dem Baumvergleich kann man nicht auf seine Familie anwenden. Dort sind die Wurzeln mäandernd und leicht. Seine Mutter hat einen multikulturellen Hintergrund, lange bevor das Wort es in die Schlagzeilen schaffte. Lateinamerika ist drin und holländischer Adel. „Ich hab ein wenig blaues Blut“, sagt Mühlenhaupt. Auch hatte seine Mutter einen Stiefvater, der Psychiater beim US-Militär war. Mit dem kam sie viel rum. „Sieben Sprachen spricht sie.“

Und sein Vater, dieser James Dean, ein im Krieg in Berlin Geborener mit verschollenem Erzeuger und ständig arbeitender Mutter, wurde Schauspieler. „Mein Vater war viel allein, er hat sich selbst erzogen“, sagt Mühlenhaupt. „Viel später hat mein Vater dann herausgefunden, dass sein Vater Zahnarzt in Spandau war und eine neue Familie hatte.“

Sein Vater, dieser James Dean, wurde Schauspieler Foto: Dagmar Morath

Antiautoritär: Mühlenhaupt ist 1964 also in diese Schauspielerfamilie hineingeboren, die Teil der Westberliner Boheme war, Tabubrüche inbegriffen. „Für mich war schwul oder lesbisch normal.“ Normal sei auch gewesen, dass man nackt durchs Haus lief – „auch mal mit erigiertem Penis“. Durch den Umgang, der gepflegt wurde, lernte er, meint Mühlenhaupt, „Freiheit kennen, Natürlichkeit dem Körper gegenüber“.

Auf den Partys ging es offen zu. Man küsst, umarmt, lacht, weint, trinkt, kifft, schmust – „ich hab das damals nicht als Entgrenzung wahrgenommen. Das merke ich erst, wenn ich mit Leuten darüber rede.“ Von all den schönen Menschen jedenfalls wird der behinderte Sohn geherzt. Nur vor Kinski, der einmal auftauchte, hatte er Angst. „Vor dem habe ich mich versteckt.“ Später habe er sich bewusst dagegen entschieden, so leben zu wollen wie sein Vater: „Die Gesundheit, die Frauen, die Untreue, das Geld. Mein ­Vater hatte nie Geld.“

Nicht so wie die anderen: Als Kind habe er nicht gemerkt, dass er anders sei. „Im Kindergarten waren alle behindert, aber Kinder sind manchmal grausam. Ich konnte nicht weglaufen, mich nicht wehren.“ Sein Ausweg: Aggression. „Ich habe angefangen, die Sachen der anderen kaputt zu machen.“ Später sei es noch schlimmer geworden. Er erinnert sich, wie er einmal im Landschulheim die ganze Einrichtung des Zimmers zerlegte.

Rhythmus: Sein Vater kam auf die Idee, dass Schlagzeug spielen besser wäre. Auf Trommeln einschlagen, anstatt auf Sachen. „Da stellte sich heraus, dass ich ein gutes Rhythmusgefühl habe.“ Es klingt, als habe das alle überrascht. Er spielte in Bands, eine Zeitlang auch im Kinder- und Jugendtheater in Heidelberg, wo sein Vater zum Ensemble gehörte. Später wechselte er zu Percussion, „weil das schwierig war mit den Beinen am Schlagzeug“. Im Moment spielt er in einer Klezmer-Band.

Sich fortbewegen: Weil Gehen nicht so die Sache ist von Mühlenhaupt, geraten ihm, wenn er erzählt, Lebensstationen und Lebensorte leicht durcheinander. Lange jedenfalls lebte er in Berlin, wo sein Vater zum Ensemble der Vagantenbühne gehörte. Als Teenager wohnte er bei Heidelberg, gründete im Vorort einen Jugendclub, war später dort angestellt. Als Erwachsener zog er mit seiner Frau, die er bereits in der 5. Klasse auf der Gehörlosenschule kennenlernte, wieder nach Berlin: „Ich wollte behinderte Jugendliche coachen.“ Als die Tochter da ist, wird er Hausmann und macht nebenbei alle möglichen Jobs.

Sich gut stellen: Es sei so ein langer Weg gewesen, bis er zu sich selbst sagen konnte: „Du bist okay, wie du bist.“ Vor allem das mit den Mädchen sei schlimm gewesen. In der Gehörlosenschule fanden ihn alle toll, „da war ich der Mädchenschwarm“, aber außerhalb nicht. Er war elf, als er den Arm mal um die Schwester eines Freundes legte und sie ihm eine scheuerte. Die Künstlerwelt des Vaters hätte ihm am Ende geholfen: „Die sind ja alle so narzisstisch drauf, sagen: Ich bin halt so, ich bin Schauspieler, du bist behindert, alles eins.“ Das hätte ihn gerettet. Wobei, später standen er und sein Vater auf die gleichen Frauen. „Nur gingen die immer zu ihm.“

taz am wochenende

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Frühreif: Seine Neugier auf Sexualität sei früh geweckt worden – auch durch den Umgang, der zu Hause gepflegt wurde. Schon mit neun Jahren habe er Erfahrungen gemacht mit einem Mädchen, Claudia hieß sie, ihr widmete er seinen ersten Roman, „Eine Liebe in der Kindheit“, den er vor nicht allzu langer Zeit schrieb. Darin ist der Junge, sein Alter Ego, der sich, obwohl noch nicht geschlechtsreif, in ein Mädchen verliebt, nicht behindert, er kann Holz hacken, ausbüchsen, Fahrrad fahren im Wald. Da ist so viel Sehnsucht, mehr als Literatur.

Sexualität und Behinderung: Ein Thema, „über das zu wenig gesprochen wird“. Er fordert, dass die Krankenkassen die Leistungen von SexualassistentInnen bezahlen. „Es gibt ja Leute, die sind noch viel schwerer behindert als ich, die können sich nicht mal selbst befriedigen.“ Aber dass Behinderte Nachteile haben, das sei die Normalität. Er fand nie dauerhaft eine Arbeit, mittlerweile ist er berentet. „Lieber zahlen die Arbeitgeber die Ausgleichsabgabe, anstatt Behinderte einzustellen.“

Hindernisse: Es stört ihn nicht, wenn man „Behinderung“ sagt. Von außen betrachtet, sei da ja auch ein Hindernis. „Das ist so verrückt: Ich muss das Hindernis ständig überwinden in meinem realen Alltag, aber die Nichtbehinderten müssen das Hindernis in ihrem Kopf überwinden und tun sich unendlich schwer.“

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