Der Coronawinter im Skigebiet: Volle Pisten, leere Zimmer
In Reit im Winkl wäre jetzt Hochsaison. Touristen sind da. Doch Lifte stehen, die Tourist-Info ist zu, und Baumeggers Pension beherbergt keine Gäste.
Ihr Gästehaus Bergwinkl mit den fünf Wohnungen muss Lisa Ruh geschlossen halten, wie alle anderen Vermieter auch. Die 52-Jährige ist zum Gespräch in die ebenfalls geschlossene Tourist-Info gekommen. Sie sagt: „Corona ist für jeden einfach nur scheiße.“
Es ist ein schöner Wintertag im Chiemgau, minus vier Grad, die Sonne lässt den Schnee weiß funkeln. „Ein bisschen wenig ist bislang gefallen“, meint Florian Weindl, Leiter der Tourist-Info. Doch auf der ebenen Wiese ziehen Langläufer ihre Bahnen, Familien sind mit Kindern, Hund und Schlitten unterwegs. Weindl kann das von seinem Fenster aus gut beobachten. Arbeit hat die Info genug. „Das Telefon steht nicht still“, sagt Weindl. „Die Leute rufen an und fragen, ob die Pisten zugänglich sind, ob man langlaufen und Touren gehen kann, ob die Parkplätze und die Toiletten geöffnet sind.“
Die Menschen kommen, aber nur für einen Tag
Die Gastronomie, die Hotels und Pensionen sind geschlossen, die Liftanlagen stehen still – doch die Berge und der Schnee sind noch da. Und die Menschen kommen, aus der näheren und der weiteren Umgebung. Das ist das Dilemma dieses Coronawinters in den Skigebieten. Ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums hat die Anfrage der taz, inwieweit es Tagestouristen etwa aus München gestattet ist, in die Berge zu fahren und sich auf eigene Faust mit Skiern auf den Weg zu machen, beantwortet: „Das ist erlaubt, sofern die allgemeinen Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen eingehalten werden.“ Auf den Parkplätzen in Reit im Winkl sieht man Autos aus halb Bayern – aus München, Altötting oder aus Passau.
Einen regelrechten Ansturm auf die Ski- und Rodelgebiete verzeichnen im Lockdown besonders die Mittelgebirgsregionen.
NRW: In Winterberg sind seit dem vergangenen Sonntag Pisten und Parkplätze gesperrt. Das Betretungsverbot soll Tagestouristen davon abhalten, die verschneiten Rodel- und Skihänge zu stürmen wie in den vergangenen Tagen. Die Eifel-Gemeinde Hellenthal sperrte die Zufahrt zu Parkplätzen an den Ausflugszielen mit Bauzäunen.
Taunus Auch in Hessens Mittelgebirgen reagierte die Polizei mit Sperrungen von Zufahrtswegen auf überlastete Straßen und Parkplätze. Am Samstag bezeichnete die Polizei die Situation am Großen Feldberg als „chaotisch wie die letzten Tage“. Am Sonntag waren Verbindungs- und Zufahrtsstraßen gesperrt.
Harz Im nördlichsten deutschen Mittelgebirge bildeten sich am letzten Wochenende lange Staus. Viele Autos blieben auf glatter Fahrbahn liegen oder stellten sich quer. „Schon bei der Anreise in den Oberharz bilden sich kilometerlange Staus, gefolgt von einer nahezu aussichtslosen Parkplatzsuche vor Ort“, hieß es von Seiten der Stadt Wernigerode. (dpa, taz)
Am vergangenen Wochenende ist im Gebiet Spitzingsee, Landkreis Miesbach, kaum mehr ein Durchkommen. Einheimische berichten, sie hätten dort überhaupt noch nie so viele Besucher gesehen, die sich auf den Straßen und an den Hängen drängten. Der Landrat Olaf von Löwis veröffentlicht eine SMS an Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (beide CSU): „Bei uns ufert der Tagestourismus aus. Es brennt wirklich.“
Und im Ski-Mekka Garmisch-Partenkirchen muss Bürgermeisterin Elisabeth Koch (CSU) einschreiten: Dort wird der obere Bereich der bekannten Kandahar-Abfahrt von Raupen präpariert, weil nach Neujahr der Deutsche Skiverband zum Training kommen will. Tourengeher aber beeindrucken die Warnschilder nicht, sie kraxeln hinauf, ziehen sich gar an den Seilen der Raupen nach oben. Koch lässt schließlich das gesamte Gebiet sperren. Sie sagt: „Es ist traurig, dass man so etwa machen muss. Wo sind wir hingekommen?“
Bisher sind dies eher extreme Ereignisse, der Ansturm verteilt sich. Doch wie viele Ski-Tourengeher passen auf einen Hang, wie viele Langläufer in ein Gebiet, wie viele Spaziergänger an den Berg – ohne dass es zu eng und gefährlich wird mit möglichen Corona-Ansteckungen? Spricht man mit dem Reit im Winkler Bürgermeister Matthias Schlechter, so hört man einiges an Zweifel heraus. Aber er sagt: „Wir sperren den Ort nicht zu.“ Andere im Dorf würden sich hingegen wünschen, dass die bayerische Staatsregierung den Bürgern die Fahrt in die Alpen verbietet. Dass sie sich in der Freizeit nur noch höchstens fünf Kilometer von ihrer Wohnung entfernt aufhalten dürften.
Von Stunde zu Stunde wird in Reit im Winkl nun entschieden, wie man mit der Straße zum 1.200 Metern hoch gelegenen Skigebiet Winklmoosalm verfährt, 500 Meter über dem Ort. Ist die Straße gesperrt, parken die Leute davor und verstopfen die Umgebung. Dann wird doch geöffnet, der Parkplatz oben aber geschlossen, wenn er mit 450 Autos gefüllt ist. Der Christsoziale Schlechter spricht von einem „Schlamassel“. Er verstehe, „dass die Menschen aus den Städten raus in die Natur wollen“, aber „es soll sich nicht ballen“.
Der Liftbetreiber kümmert sich um Toiletten und Parkplätze
Einer, der nichts davon hat, ob die Leute sich ballen oder nicht, ist Hans Höflinger. Dem 67-Jährigen mit Vollbart gehört zusammen mit seinem zehn Jahre älteren Bruder die Liftanlage rauf zur Winkelmoosalm. Aber Lifte dürfen nicht fahren. So steht Höflinger in seinem schwarzen Anorak oben auf der Winklmoosalm vor seiner stillen Anlage und lamentiert: „Die geforderten Abstände hätten wir ganz sicher eingehalten. Aber es hilft ja nichts.“
Hans Höflinger bleibt in diesen Tagen nur die Aufgabe, sich um die Parkplätze und die Toiletten zu kümmern. Vor einer geschlossenen Hütte sitzt eine Familie und verzehrt die von daheim mitgebrachte Brotzeit. Höflinger lächelt, wenn er sagt: „So einen Winter haben wir noch nie gehabt, es ist schon trostlos.“
Unten in Reit im Winkl steht auf einem Plakat die Aufschrift: „Gastgeber mit Herz“. Doch der Ort ist vor allem – leer. „Am liebsten bin ich den ganzen Tag lang beschäftigt“, erzählt Biggi Baumegger. Die 53-Jährige betreibt das Landhaus Lenzenhof, das ist ein mächtiges alpenländisches Haus unter Denkmalschutz, direkt neben der Pfarrkirche St. Pankratius. Der Lenzenhof hat ein Restaurant, neun Hotelzimmer und zwei Apartments. Baumegger hat sonst Beschäftigte auf acht Vollzeitstellen zur Unterstützung, doch jetzt ist keiner da. Sie sind in Kurzarbeit oder haben gekündigt. „Ich musste alles stornieren und habe versucht, die Buchungen zu verschieben“, sagt die Gastwirtin.
Ende Oktober waren die letzten Gäste zum Wandern da, im November hatten sie geschlossen und wollten durchschnaufen für den Winter. Doch es kam anders. Am meisten macht ihr, wie allen anderen auch, die Unplanbarkeit der nächsten Monate zu schaffen. Für April hatte sie Umbauten vorgesehen, um im Mai in den Sommer zu starten. Doch was ist, wenn der Lockdown im April beendet ist? Will sie dann erst einmal renovieren und später öffnen? Jetzt wird im Lenzenhof abends Essen „to go“ gekocht. Auf der Karte stehen Bandnudeln mit Garnelen, Spare Ribs oder Hirschragout. „Damit wir wenigstens ein bisschen was zu tun haben“, meint Baumegger. 30 bis 50 Mahlzeiten verkauft sie so am Abend.
3.000 Einwohner, 5.000 fehlende Gäste
3.000 Einwohner hat Reit im Winkl. Jetzt in der Zeit, die man üblicherweise Hochsaison nannte, fehlen 5.000 Gäste. Zwei Drittel des Ortes sind auf die eine oder andere Art mit dem Tourismus verbunden. Souvenirgeschäfte wie das Gschenkladl an der Dorfstraße sind geschlossen. Und es gibt Unmut unter den Vermietern. „Die kleinen Selbstständigen bekommen keinerlei Corona-Entschädigung“, klagt Lisa Ruh. Denn bei den Auszahlungen werde zwischen gewerblichen und privaten Vermietern unterschieden. Gewerblich ist, wer mehr als die Hälfte seines Einkommens damit verdient. Vermietet jemand aber nur eine oder zwei Wohnungen, gilt er als privat. Und Letztere gehen nach Aussage von Ruh und dem Tourist-Info-Leiter Weindl leer aus. Weindl sagt: „Dabei prägt die Struktur mit vielen Kleinvermietern den Ort, das ist familiär.“ Gerade er habe diesen Vermietern immer wieder empfohlen: „Ihr müsst investieren, die Gäste wollen schöne Wohnungen.“
Bringt Corona denn wenigstens der Natur etwas, den an manchen Orten vom Wintersport so geschundenen Bergen, wenn weniger Leute da sind? „Von der Traumlandschaft zum übernutzen Berggebiet“ sieht der Bund Naturschutz (BN) die Alpen. Die Umweltschützer fordern, weg vom Pkw-Verkehr zu kommen, der die Orte und Täler „ersticken“ lasse. Auch sollten Bergbahnen und Lifte künftig nicht weiter ausgebaut werden. Eine kanalisierte Menschenmasse allerdings schadet nach Ansicht des Garmischer BN-Mannes Axel Doering den Alpen weniger als Einzelne, die sich falsch verhalten. So hält es Doering für richtig, dass die Pisten offen sind. 1.000 Menschen, die auf der Piste hinauflaufen und wieder herunterfahren, so sagt er, seien weniger schädlich als ein einzelner Skifahrer, den es abseits in die unberührte Natur zieht.
Andreas Mühlberger nennen die Leute in Reit im Winkl alle nur „den Andi“. Er ist Langlauflehrer, Leiter einer Skischule und Einzelhändler für Sportartikel. „In meinem Laden stehen gerade 500 Paar Langlaufski“, erzählt er. Den Lieferanten hat er bezahlt, doch das Geschäft muss geschlossen bleiben. „Wir stecken jetzt nicht den Kopf in den Sand“, meint der 53-Jährige. Irgendwann werde es ja wieder „normal werden“.
Normal – das bedeutet für Andreas Mühlberger: „Es gibt nur den Heiligabend für die Familie.“ An den Feiertagen und den Tagen darauf öffnet der Skiverleih normalerweise um 8.30 Uhr und schließt nach Einbruch der Dunkelheit. „Die Gäste wollen schließlich langlaufen.“ Mühlberger sagt: „Jetzt waren wir an Weihnachten zum ersten Mal daheim. Gezwungenermaßen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?