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Der Boys Day bringt auch nichtsMama Ju, Rezo und der Zukunftstag

Die Kolumnistin hat arge Zweifel am Sinn des „Zukunftstages“, leidet unter eskalierenden Berufsbedenken und quasi-adoptierten Youtubern.

Aus der Nachwuchswerbung der Europäischen Raumfahrtagentur – natürlich auf Youtube Foto: picture alliance/dpa/geobra Brandstätter Stiftung & Co. KG

H at eigentlich schon einmal jemand ausgerechnet, wie viele Millionen bezahlter Arbeitsstunden der deutschen Wirtschaft durch den Zukunftstag verloren gehen? Für Nicht-Bekinderte: Das ist jene Veranstaltung, die erst Girls Day, dann auch Boys Day und jetzt eben Zukunftstag heißt.

Ab der 5. Klasse werden Schulkinder dabei jedes Jahr einen halben Arbeitstag lang durch irgendein Unternehmen oder eine Institution gescheucht, und sie tun dabei so, als würden sie etwas über den Job erfahren und vergleichen am nächsten Tag mit den Klassenkamerad*innen, wo es das beste Catering und die coolsten Werbeartikel zum Mitnehmen gab.

Mich kostet das jedes Mal ein bis zwei Arbeitstage: Einen, um die Plätze zu organisieren (es gibt dafür eigens programmierte Online-Plattformen, die so gut wie nie funktionieren) und einen, um am Tag selbst den Hin- und Rücktransport zu den verschiedenen Einsatzorten zu organisieren.

Theoretisch sollte ich diese Gelegenheit ja auch noch nutzen, um meinen Söhnen „typisch weibliche“, also soziale Berufe schmackhaft zu machen. Drollige Vorstellung: Soll ich sie in den Kindergarten zurückschicken, dem sie gerade augenrollend entwachsen sind? Oder in die Kranken- und Altenpflege? Als Pubertierende, die mit ihrem eigenen Körper kaum klarkommen?

Eine dringende Frage an die Mütter einiger Youtuber

Und ihnen dann auch gleich schon einmal sagen, dass sie sich aber bitte ei­ne*n Part­ne­r*in mit solidem Einkommen und familienfreundlichen Arbeitszeiten suchen sollen, weil ich keinen Bock habe, auch noch dauernd die Enkelkinder zu hüten? Und will ich wirklich, dass sie am Ende Leh­re­r*in­nen heiraten?

Das geht natürlich sowieso alles viel zu weit, im Moment sind sie ja noch in dem Alter, in dem sie Youtuber werden wollen. Ich versuche meiner Erziehungsaufgabe nachzukommen, indem ich anmerke, dass das zwar aussieht, als würde man da den ganzen Tag Kindergeburtstag feiern, aber in Wirklichkeit ist das auch ein Arsch voll Arbeit und ein gewaltiger Druck.

Die Hälfte ihrer Idole hat in Interviews schon mal von psychischen Problemen gesprochen. Das wollen sie natürlich nicht hören, klar. In der Pandemie sind diese Youtube-Stars hier quasi eingezogen, sie sind wie coole große Brüder und Schwestern, die Clique, die meine Kinder nicht haben konnten.

Manchmal ertappe ich mich schon selber dabei, über sie zu reden wie über Familienmitglieder. Und manchmal möchte ich ihre Mütter fragen, wann genau eigentlich bei ihnen der Punkt erreicht war, an dem aus „Hängst du schon wieder vorm Bildschirm?“ endgültig „Musst du nicht mal wieder für Content sorgen?“ wurde.

In Wirklichkeit gehöre ich natürlich zu den naiven Idealist*innen, die immer noch der Idee anhängen, man müsste Kinder bestärken, ihre Fähigkeiten und Leidenschaften zu entwickeln. Sagt mal, Unge, Rezo, Julien Bam, Gnu, Anni The Duck, Mexify, gibt es bei euch eigentlich Plätze für den Zukunftstag?

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Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
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