Depressive Hauptstadtkinder: Ignoranz, die krankmacht
In Berlin leiden mehr Kinder unter psychischen Erkrankungen als anderswo, zeigt eine Krankenkassenstudie. Kein Wunder: Die HelferInnen sind überlastet.
Berliner Kinder und Jugendliche sind depressiver und kränker als ihre AltersgenossInnen in anderen Bundesländern. Das hat eine Auswertung der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK-Gesundheit ergeben, die am Dienstag vorgestellt wurde. Demnach liegt beispielsweise der Anteil der diagnostizierten Depressionen um 10 Prozent höher als in anderen deutschen Großstädten und 28 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Insgesamt sei nahezu jedeR zehnte Minderjährige von psychischen Erkrankungen betroffen.
Ist ja kein Wunder in dieser Wahnsinnsstadt, werden Sie sagen. Auch die Zahlen für psychische Erkrankungen bei Erwachsenen sind kaum irgendwo so hoch wie in Berlin. Macht halt depressiv, die Großstadt.
Das könnte man jetzt so hinnehmen wie zu volle U-Bahnen. Man könnte sich auch darüber aufregen wie über steigende Mieten. Oder, stellen wir uns das mal vor, man könnte die Stellen, die schon bei Kindern und Jugendlichen versuchen, psychischen Erkrankungen und Auffälligkeiten entgegenzuwirken, ausreichend ausstatten. Die sozialpädagogischen Dienste der Jugendämter sind da ein hervorragendes Beispiel.
Überlastet, mies bezahlt
Die dort beschäftigten SozialarbeiterInnen sind Anlaufstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche und sollen helfen, Krisen zu bewältigen und ihnen vorzubeugen. Das ist übrigens ein Rechtsanspruch, der sich aus dem Sozialgesetzbuch ergibt.
Dass diese SozialarbeiterInnen völlig überlastet und zudem noch so schlecht bezahlt sind, dass die Jugendämter kaum Personal finden, ist ein alter Hut. Schon vor sechs Jahren hängten Jugendamtsangestellte weiße Bettlaken als Zeichen der Kapitulation in ihre Fenster. Schon damals betreuten viele MitarbeiterInnen der Sozialpädagogischen Dienste doppelt so viele Fälle, wie sie eigentlich bewältigen konnten. Schon damals war gerade genug Zeit, die akutesten Krisen zu bewältigen, die Vorbeugung blieb regelmäßig auf der Strecke.
Auch am gestrigen Dienstag, dem Tag, an dem die DAK ihre Auswertung zur psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen vorstellte, gingen laut Bildungsgewerkschaft GEW etwa 350 SozialarbeiterInnen der Jugendämter und Jugendfreizeiteinrichtungen auf die Straße. Sie demonstrierten für mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen. Mal wieder.
Eine Statistik mehr, ein Streik mehr: Die Umstände werden nicht weniger dramatisch, weil wir uns daran gewöhnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“