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Den Mythos von Orpheus befragenAlles ist sehr klar und unaufgeregt

Vier Eurydices performen, tanzen und singen in Sasha Amayas Interpretation von Monteverdis „Orfeo“ im Radialsystem in Berlin.

Vieles bleibt zwar abstrakt, aber fügt sich zu einer Collage aus Klang und Bewegung zusammen Foto: Camille Tonnere

Was bleibt, wenn man einer Oper die Bühne, die Kostüme, gar die Handlung nimmt? Was ist der Kern einer Oper? Was liegt zwischen Oper und Choreografie?

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich die kolumbianisch-kanadische Künstlerin Sasha Amaya in ihrer Arbeit „Orfeo“, die Anfang August im Radialsystem in Berlin gezeigt wurde. „Orfeo“ ist der letzte Teil der Trilogie „On Form and Fiction“, die Amaya in den letzten Jahren kreiert hat. Sie versucht darin, dominante Narrative aus der Kunstgeschichte neu zu intepretieren. Mit „Orfeo“ kehrt sie auch zurück zum Anfang, zu ihrer Auseinandersetzung mit westlicher Tanzgeschichte und dem Barocktanz, der in der aktuellen Arbeit abstrahiert und angedeutet wird.

Im Vordergrund steht jedoch Claudio Monteverdis Oper „L´Orfeo“ – die musikalische Wende von der Renaissance zum Barock. Amaya intepretiert den als Grundlage dienenden Orpheus-Mythos neu, indem sie Eurydice in den Fokus rückt. Alle Rollen werden von weiblich gelesenen Körpern dargestellt und so darf das Publikum an diesem Abend vier identisch aussehende Eurydices beobachten und ihnen vor allem zuhören.

Spiel mit Haaren und Stimmen

Vor einem weißen und komplett leeren Bühnenraum sitzen sich die vier Per­for­me­r*in­nen gegenüber und ahmen einander in behutsamen Gesten nach. Ebenfalls komplett in Weiß gekleidet mit klobigen Plateau-Sneakern, heben sie sich nur durch ihre langen, schwarzen Perücken und durch ihre Gesichter mit dem knallroten Lippenstift vom Raum um sie ab.

So wird mit den Haaren und auch ihrer Mimik über den ganzen Abend immer wieder gespielt – besonders Sasha Amayas Minenspiel beeindruckt und amüsiert. Sie hat mit Peyee Chen, Tasha Hess-Neustadt und Brieann Pasko vier beeindruckende Künst­le­r*in­nen auf der Bühne versammelt, die sich mit den musikalischen und tänzerischen Fähigkeiten perfekt ergänzen.

Doch Hauptakteurin ist zunächst die Musik. Wie Amaya es zu Beginn der Performance angekündigt hat, kann das Publikum den Kern dieser Oper genießen, wenn nichts von dem Gesang ablenkt.

Wenn die Sopranistin Peyee Chen das erste Mal zum Gesang ansetzt und dieser ganz für sich in diesem leeren weißen Raum steht, ist das unglaublich berührend. Zwischendurch singt sie mit dem Gesicht zur hinteren Wand oder später (dann zusammen mit Brieann Pasko) auf allen Vieren, den Boden anschauend, und irgendwann mit dem Gesicht nach unten ganz auf dem Boden liegend. Hier zeigt sich, dass es gar nicht unbedingt mehr braucht, um dieses Stück Musik zu genießen.

Nähe und Zuhören, Begehren und Verlust

„Orfeo“ lässt nicht unbedingt einen roten Faden erkennen und schon gar keine Handlung. Was vom Orpheus-Mythos noch übrig ist, bleibt so abstrakt. Mehr braucht es aber auch nicht unbedingt. Die Szenen, die mal zwischen mehr Tanz, mal mehr Musik oder Gesang variieren, gehen gelungen ineinander über. Elementare Themen der Oper von Nähe und Zuhören, Begehren und Verlust lassen sich auch in der Abstraktion erkennen. Und auch wenn es viele langsame und stille Momente gibt, wirkt hier nichts zu lang oder langweilig.

Tänzerisch bewegen sich die Per­for­me­r*in­nen zwischen Barock, Ballett und minimalen zeitgenössischen Gesten. Alles ist sehr klar und unaufgeregt, keine Szene überladen. Damit webt Amaya neben einem kunsthistorischen auch einen politischen Diskurs in ihre Arbeit ein. Zu Beginn der Performance beschreibt sie, wie sie während ihrer tänzerischen Ausbildung in Frankreich klassischen Barocktanz lernen musste. Sie stellt die Frage, was es aber für Migrantinnen und rassifizierte Frauen bedeutet, dieses westliche verkörperte Wissen zu besitzen? Wie können Künst­le­r*in­nen mit diesen immer noch vorherrschenden Erzählungen und kolonialen Kunstpraktiken umgehen?

Sasha Amaya findet einen Weg, indem sie Orpheus aus der Geschichte streicht und Eurydice sprechen lässt, indem sie den Prunk der barocken Opern von der Bühne verbannt und die Musik so alleine stehen kann. Und das funktioniert wunderbar. Vieles bleibt zwar abstrakt, aber fügt sich zu einer Collage aus Klang und Bewegung zusammen, die weder von Bühne noch Kostümen überschattet werden. Damit wird auch die Frage danach, was von einer Oper ohne eben diese Anteile bleibt – mehr Raum für die Musik und mehr Raum für andere Stimmen, deren Geschichte vielleicht noch nicht erzählt wurde.

Am Ende entschwinden die vier Eurydices in die Unterwelt. In der Geschichte hat Orpheus sich umgedreht, Eurydices muss zurück. In „Orfeo“ geht sie freiwillig. Der Raum wird dunkler, ein Schreien und Jauchzen erklingt von irgendwo. Eurydice braucht Orpheus nicht.

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