Demos in Katalonien: Der Protest ist nicht zu stoppen
Tausende sind in einem Sternmarsch unterwegs nach Barcelona, um für Kataloniens Unabhängigkeit zu demonstrieren. Was treibt sie an?
Es ist eine von fünf Säulen der „Märsche für die Freiheit“ Richtung Barcelona; jeweils über eine Distanz von 100 Kilometer in drei Tagen. Alle 20 Kilometer beginnt eine neue Etappe. Zweimal am Tag kann so jeder starten oder enden wo er will; oder ganz einfach weitermachen. Übernachtet wird in Sporthallen.
Xavier Pujol und Assumpta Arasa haben sich in dem durch seine Sektkellereien über die Iberische Halbinsel hinaus bekannten Sant Sadurní eingereiht. Der 64-jährige Rentner, der sich sein Geld einst im Druckereigewerbe verdiente, und die 49-jährige freiberufliche Psychologin haben sich auf dem Bahnhof kennengelernt. Beide tragen T-Shirts vergangener Großdemonstrationen am katalanischen Nationalfeiertag, dem 11. September. Er aus dem Jahr 2017, sie das von diesem Jahr.
Pujol kommt aus einem Arbeiterstadtteil der katalanischen Hauptstadt Barcelona; Arasa aus Santa Barbara, einem kleinen Dorf ganz im Süden, unweit der Mündung des Ebros ins Mittelmeer. Da beide allein unterwegs sind, laufen sie zusammen; Pujol mit kräftig ausholenden Schritten, Arasa leicht humpelnd. „Ich bin vor sieben Jahren bei Streicharbeiten von der Leiter gefallen, musste operiert werden“, sagt sie.
„Das Gerichtsverfahren war ein Betrug“
Doch das kann sie nicht davon abhalten, auf die Straße zu gehen. Und vor allem jetzt. „Sie haben neun total Unschuldige zu langen Haftstrafen verurteilt. „Sie“ das ist das Oberste Gericht in Madrid, die „Unschuldigen“ sind ehemalige Mitglieder der katalanischen Autonomieregierung, die Präsidentin des katalanischen Parlaments sowie zwei Aktivisten, der ehemalige Vorsitzende der der Bürgerbewegung Katalanische Nationalversammlung (ANC) und der Chef des Kulturvereins Òmnium, dem sowohl Pujol als auch Arasa angehören. Die Strafen für die Vorbereitung eines von Madrid untersagten Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober 2017 belaufen sich auf neun bis 13 Jahre Haft wegen „Aufstand“ und „Unterschlagung öffentlicher Gelder“.
„Das Gerichtsverfahren war ein Betrug“, erklärt Pujol. Während Zeugen der Anklage, wie etwa Polizeibeamte, in Ruhe reden konnten, hätte der Richter die Opfer polizeilicher Gewalt immer wieder abgewürgt. Die Polizisten hätten sich in ihren Aussagen abgesprochen, um so friedliche Proteste gewaltsam erscheinen zu lassen.
Tatsächlich beklagen auch unabhängige Beobachter des viermonatigen Prozesses in Madrid dies – so etwa die Internationale Föderation der Menschenrechtsorganisation FIDH und die Bürgerechtsorganisation EuroMed Rights.
„Das Verfahren war ein Auswärtsspiel mit einem spanischen Nationalisten als Schiedsrichter“, sagt Pujol. „Das Urteil stand doch von vornherein fest“, wettert Arasa. Vor dem Referendum war es zu einer friedlichen Massenkundgebung vor einem Gebäude der katalanischen Regierung gekommen, das von der Polizei durchsucht wurde. Die Beamten sagten fast wortgleich aus, sie hätten sich bedroht gefühlt.
Zehntausende bleiben friedlich
Das Rufen der Parole der Verteidiger der Republik im spanischen Bürgerkrieg „Sie kommen nicht durch“ und Hass in den Blicken, waren für die Polizei und schließlich auch für die Richter „Androhung von Gewalt“. Auch am Tag der Abstimmung war alles friedlich. Dennoch kam es zu brutalen Polizeieinsätzen, die um die 1.000 Verletzte hinterließen. Die Bilder gingen um die Welt. Für die Richter ist selbst gewaltfreier Widerstand, „auch wenn kein weiterer Schritt mehr unternommen wurde, an sich geeignet und ausreichend, um die Anforderungen des Verbrechens des Aufstandes zu erfüllen“.
Seit dem Richterspruch am vergangenen Montag, reißen die Proteste in Katalonien nicht mehr ab. Pujol und Arasa sind immer wieder dabei. Erstmals kam es bei den Aktionen auch zu gewalttätigen Ausschreitungen. „Die Bewegung ist noch immer friedlich. Das sind Einzelfälle“, versucht Pujol das unbequeme Thema Gewalt von sich zu weisen. Er berichtet von einer Demonstration in Barcelona am Dienstag: „40.000 friedliche Menschen, aber eine Handvoll Vermummter reichten, dass alles außer Kontrolle geriet.“
„Alle wollen Gewalt sehen und sie sehen sie dann natürlich auch. Aber hat uns etwa jemand beachtet, als wir friedlich waren?“, mischt sich Arasa ein. „Spanien und auch Europa wollen nur, dass wir den Mund halten, arbeiten und Steuern zahlen“, ist sie sich sicher. Dennoch sei es nötig, „die paar Gewalttätigen an den Rand zu drängen“.
Nicht nur ihr ist klar, dass die Bilder brennender Barrikaden der Bewegung schaden. „Sie repräsentieren uns nicht“, erklärten die neun Gefangenen und viele katalanische Unabhängigkeitspolitiker nach den ersten Ausschreitungen. Der katalanische Präsident Quim Torra distanziert sich ebenfalls und macht gar „mögliche Provokateure“ aus.
Ministerpräsident Sánchez „schließt kein Szenario aus“
Obwohl selbst die Polizei in Barcelona von nur rund 500 Gewaltbereiten spricht, heißt es in einer Erklärung von Ministerpräsident Pedro Sánchez in Madrid: „Die Proteste gegen das Urteil sind keine Aktionen einer friedlichen Bürgerbewegung.“ Der Sozialist weiß, dass der Richterspruch auf internationale Kritik stößt. Die Gewaltdebatte lenkt da ab.
Sánchez lud die großen Parteien Spaniens zu Krisenberatungen. Doch den Dialog mit den katalanischen Parteien sucht er auch jetzt nicht. Stattdessen droht er mit Strafverfolgung derer, die hinter den Protesten stecken und „schließt kein Szenario aus“, weder die Anwendung des nationalen Sicherheitsgesetzes noch die Zwangsverwaltung Kataloniens, wie im Herbst 2017 unter seinem konservativen Vorgänger. Im November sind Parlamentswahlen. Stärke soll Stimmen im restlichen Spanien bringen. Bei den Demonstrierenden sorgt all dies für weiteren Unmut.
Es ist Mittagszeit. Die Menschen nehmen auf Wiesen am Rand der AP-7 oder direkt auf der Fahrbahn Platz. Wer nichts mitgebracht hat, kauft ein Lunchpaket. Wasser gibt es umsonst. In vier farbigen Tonnen wird der Müll fein säuberlich getrennt.
Im Gespräch geht es immer wieder um die persönlichen Beweggründe, für die Unabhängigkeit zu sein. „Ich war bei den Pfadfindern und dort lernte ich die katalanische Sprache und Kultur zu verteidigen“, erklärt Pujol. „Du kamst mit deiner Gruppe an einer Polizeipatrouille vorbei und sie provozierten und schikanierten dich“, erinnert sich der weißhaarige Mann. Es waren die Jahre der Franco-Diktatur.
„Spanien ist weiterhin faschistisch“
Arasa spricht von ihrem Großvater, der im Bürgerkrieg in den 1930er Jahren als Anarchist und Verteidiger der demokratischen Ordnung von den Franco-Faschisten in ein Konzentrationslager gebracht wurde und wie ein Wunder überlebte. „Deutschland hat seine Vergangenheit aufgearbeitet, sich bei den Opfern entschuldigt. Spanien nie“, sagt sie.
Der brutale Polizeieinsatz bei Referendum am 1. Oktober 2017 und das Urteil sind für sie der Beweis: „Spanien ist weiterhin faschistisch.“ Auch Pujol wird energisch: „Du siehst hier eine festliche Stimmung. Aber uns ist nicht nach Fest zumute, wir wollen Gerechtigkeit, Demokratie und Bürgerrechte,“ sagt er.
Die Pause ist vorbei. Sie marschieren wieder unter der erbarmungslosen Herbstsonne. Ab und an erklingen volkstümliche Melodien, die jemand auf einem mittelalterlich wirkenden Blasinstrument spielt. Kinder laufen mit. Hunde tollen herum.
Die überwältigende Mehrheit der Fahrer der Autos und LKWs, die auf der Gegenspuren vorbei rauschen, grüßen aus dem Fenster, hupen den Demonstranten Unterstützung zu. Auf jeder Autobahnbrücke warten Dutzende mit Fahnen und Transparenten. „Wir weichen nicht zurück“, ist der Satz, der am meisten zu lesen ist.
Vorbild der Jüngeren: Die Proteste in Hongkong
Je jünger die Protestierenden sind, umso größer ist das Verständnis für die Zwischenfälle der letzten Tage. „Am Anfang waren wir völlig friedlich. Aber die Leute haben gesehen, dass es keinen interessiert, was hier passiert“, erklärt Joel Tarda, ein 15-jähriger Hauptschüler aus Villafranca, 20 Kilometer weiter südlich.
„Wenn die Polizei egal was du machst immer mit Gewalt reagiert und keine Lösung in Sicht ist, dann muss was geschehen“, fügt seine 17-jährige Freundin, Aina Arufat, hinzu. Sie geht aufs Gymnasium. Beide haben frei. Es ist Schüler- und Studentenstreik, der Auftakt für einen Generalstreik, der am Freitag Katalonien weitgehend lahmlegte. Die beiden reden viel von Ungeduld.
„Wir haben an Sitzblockaden von Hauptverkehrsstraßen teilgenommen“, sagt Arufat. Die Eltern wüssten dies. „Wenn du demonstrieren gehst, ist das ok, aber einfach so blau machen nicht“, hätten sie ihnen mit auf den Weg gegeben. „Die, die entschlossener vorgehen, haben sich die Proteste in Hong Kong gegen China zum Vorbilde genommen“, sagt Arufat.
Tatsächlich war eine großen Aktionen direkt nach dem Urteil den Protesten in der ehemaligen britischen Kronkolonien nachempfunden. Tausende besetzten am Montag den Flughafen von Barcelona. Die Polizei reagierte mit Schlagstock und Gummigeschossen. Ein Demonstrant verlor dabei ein Auge.
„Ich bin es leid, ständig demonstrieren zu müssen“
„Wir werden ganz sicher die Unabhängigkeit erleben“, sagt Arufat, bevor die beiden weiterziehen. Sie wollen die verbleibenden 30 Kilometer bis Barcelona zur abschließenden Großkundgebung mitgehen. Isomatte und Schlafsack haben sie dabei.
„Die Bewegung ist nicht mehr zu stoppen“, ist auch Pujol sicher. Er hofft, dass er in seinem Alter noch irgendwann einen katalanischen Pass in den Händen halten wird. „Am besten wäre eine Föderation Iberischer Republiken, aller derzeitigen Regionen Spaniens und auch Portugals“, sagt Arasa. Sie hofft auf einen neues und dann verbindliches Referendum, organisiert von Europa.
Auch Regierungschef Torra will „erneut an die Urnen gehen“, noch vor Ende der Legislaturperiode, beteuerte er am Donnerstag im katalanischen Parlament. Sánchez in Madrid lehnte dies erneut vehement ab.
Der Katalonienkonflikt droht sich im Kreis zu drehen, das ahnt auch so mancher der Marschteilnehmer. „Ich bin es leid, ständig demonstrieren zu müssen. Ich will in Frieden leben, meine Energie auf etwas anderes verwenden“, sagt Arasa. Ihrem Gesicht ist anzusehen, dass sich das Knie immer wieder meldet. Dennoch geht sie weiter; leicht humpelnd. Irgendwie trotzig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom