Demos in Frankreich: Auf die Straße gegen Michel Barnier
Mehr als 100.000 Menschen protestieren gegen die Ernennung des neuen Regierungschefs. Der Konservative möchte in sein Kabinett auch Linke einbinden.
Die Entscheidung sei ein „Schlag“ gegen die Würde der Bürgerinnen und Bürger, befand der umstrittene LFI-Frontmann Jean-Luc Mélenchon vor laut Angaben des Innenministeriums rund 26.000 Demonstrierenden. Er spielte damit auf das Wahlergebnis zur neuen Nationalversammlung im Juli an, nach dem die Partei von Barnier, die Republikaner, nur die viertgrößte Fraktion bilden.
Das Linksbündnis Neue Volksfront (NFP) hatte die Parlamentswahlen mit einer relativen Mehrheit gewonnen. Macron sah allerdings keine ausreichende Unterstützung für Castets in der Nationalversammlung. Nach wochenlangen Sondierungen wurde die Ernennung des 73-jährigen Barnier möglich, weil die Rechtspopulistin Marine Le Pen eine Duldung des früheren EU-Kommissars in Aussicht stellte. Le Pens Rassemblement National ist hinter der NFP und dem Präsidentenlager drittstärkste Kraft in der neuen Nationalversammlung. Grünen-Chefin Marine Tondelier warf Macron vor, mit Barniers Ernennung Le Pen zur eigentlichen Entscheiderin zu machen.
„Die Demokratie ist nicht nur die Kunst zu akzeptieren, dass man gewonnen hat, sondern auch die Demut zu akzeptieren, dass man verloren hat“, kritisierte Mélenchon in seiner Rede. Im ganzen Land schlossen sich dem Innenministerium zufolge rund 110.000 Menschen seinem Protest an. Also wenig im Vergleich zu den Großdemonstrationen gegen die Rentenreform, die im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen auf die Straße gebracht hatten.
Barnier kündigt härtere Einwanderungspolitik an
Auch die großen Gewerkschaften und die Sozialisten, die wie Grüne, LFI und Kommunisten zum NFP gehören, nahmen nicht an den Kundgebungen teil. Lucie Castets, die ebenfalls nicht mitmarschierte, sagte im Vorfeld: „Ich komme mit Vergnügen, wenn alle vier Parteien des NFP präsent sein werden.“
Barnier besuchte während der Demos die Leitstelle der Rettungsdienste in Paris. Die Gesundheitspolitik werde eine seiner Prioritäten sein: „Ich bin nicht da, um Eindruck zu schinden. Man muss verstehen, um zu handeln, und man versteht die Leute besser, wenn man ihnen zuhört und sie respektiert.“
Der neue Premier hat die schwierige Aufgabe, bis zum Ende der Woche seinen Haushaltsentwurf fertigzustellen, der dann am 1. Oktober in der Nationalversammlung debattiert werden soll. Für dieses Jahr sieht die scheidende Regierung ein Haushaltsdefizit von 5,6 Prozent anstelle der ursprünglich angekündigten 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. „Ich werde mich zwingen, die öffentlichen Gelder besser zu kontrollieren, besser zu nutzen“, versprach Barnier in seinem ersten Fernsehinterview am Freitagabend.
Als eine seiner Prioritäten nannte er eine härtere Einwanderungspolitik. Außerdem kündigte er an, die umstrittene Rentenreform, die das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre hochsetzt, noch einmal zu überdenken. Er wolle zwar den Kern der Reform nicht anrühren, aber zusammen mit den Sozialpartnern über Erleichterungen für „besonders fragile“ Menschen reden. Die Rentenreform gilt als wichtigstes Erbe Macrons, bei der Auswahl des Premierministers achtete der Präsident darauf, dass diese „Mutter der Reformen“ nicht angetastet wird.
Seine neue Regierung dürfte Barnier schon in den nächsten Tagen vorstellen. Ihr könnten neben Konservativen auch Minister:innen des Kabinetts von seinem Vorgänger Gabriel Attal angehören. Barnier bot auch „Leuten von der Linken“ an, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Die Französinnen und Franzosen sind laut einer Umfrage mit der Ernennung Barniers mehrheitlich zufrieden. 51 Prozent äußerten Zustimmung zu der Personalie. Bei Barniers Vorgänger Gabriel Attal, der aus dem Präsidentenlager kam, hatte die Zustimmung bei 53 Prozent gelegen. 74 Prozent gehen allerdings davon aus, dass Barnier nicht lange im Amt sein wird. Doch hier gibt es schon einmal eine gute Nachricht für ihn: Nachdem Macron das Parlament im Juni überraschend aufgelöst hatte, könnte dieses jedoch erst im kommenden Juni wieder gewählt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs