piwik no script img

Demokratie lernenSchüler herrschen mit

Jugendliche können Politik verändern. Das hat Hans-Wolfram Stein mit Schulprojekten in Bremen bewiesen. Jetzt liegt seine Anleitung dafür als Buch vor

Wählen U 18 ist anderswo noch ein Ziel, in Bremen dank Stein's SchülerInnen schon Gesetz Foto: Daniel Naupold (dpa)

BREMEN taz | Oben, im fünf­ten Stock beim Kaffee in der Wohn­kü­che in Bre­men, er­klärt Hans-Wolf­ram Stein, was er als Leh­rer ge­lernt hat. Näm­lich: Dass es „Schü­le­rin­nen und Schü­lern mög­lich ist, über Pro­jek­te Po­li­tik zu be­ein­flus­sen“, das sagt er so. Und mit „Po­li­tik“ sind hier wirk­lich die Ab­läu­fe der Ver­wal­tung und die Ge­setz­ge­bung ge­meint. Das, wie sich De­mo­kra­tie als Herr­schafts­form or­ga­ni­siert. Das Staats­we­sen.

„Es ist mög­lich, etwas zu ver­än­dern durch Schul­pro­jek­te“ – das ist Steins Be­kennt­nis. Aber es be­ruht nicht auf blo­ßer An­nah­me, son­dern auf Er­fah­rung: Hans-Wolf­ram Stein war lange Jahre Netz­werk­ko­or­di­na­tor im bun­des­wei­ten Mo­dell­pro­gramm „De­mo­kra­tie ler­nen und leben“. Zu­gleich ist er Leh­rer für Po­li­tik und Wirt­schaft. Ein guter, ver­mut­lich. Min­des­tens einer von denen, die die­sen merk­wür­di­gen Beruf mit Leib und Seele aus­üben, auch Jahre nach der Pen­sio­nie­rung noch, in AGs und ehrenamtlichen Kur­sen. Ein Leh­rer, der sich für seine Schü­le­rIn­nen be­geis­tert. Und der seine Fä­cher liebt.

SchülerInnen-Projekt „Ibrahim soll bleiben“

Steins Fä­cher sind Wirt­schaft und Po­li­tik. Bloß hat er nie viel an­fan­gen kön­nen mit einer ­De­mo­kra­tie­di­dak­tik, die vor allem auf Plan­spie­le setzt, bei denen klar ist, was am Ende raus­kommt. Ihm ging es um ech­tes Han­deln und das wahre Leben, weil, sagt er, „De­mo­kra­tie kann man nicht als Tro­cken­schwim­men ler­nen“. Und des­halb trägt das Buch, das er jetzt vor­ge­legt hat, zwar den sprö­den Titel „De­mo­kra­tisch han­deln im Po­li­tik­un­ter­richt“ und er­füllt alle An­sprü­che an ein fach­di­dak­ti­sches Werk – ist aber zu­gleich auch eine con brio ver­fass­te Be­kennt­nis­schrift. Stein re­fe­riert darin ex­em­pla­risch die Ge­ne­se und Durch­füh­rung von Schul­pro­jek­ten, ge­glie­dert in fünf the­ma­ti­sche Blö­cke. Er dis­ku­tiert den ei­ge­nen An­satz im Lich­te der po­li­tik­päd­ago­gi­schen De­bat­te und zeigt Mög­lich­kei­ten auf, wie sich eine vom Schul­un­ter­richt aus­ge­hen­de In­ter­ven­ti­on in die Herr­schafts­form De­mo­kra­tie im Ein­klang mit dem Beu­tels­ba­cher Kon­sens kon­zi­pie­ren lässt. Der ist so etwas wie die Son­de­r­­­­ethik der Po­li­tik­päd­ago­gIn­nen – Über­wäl­ti­gungs­ver­bot, Kon­tro­ver­si­täts­ge­bot und Be­fä­hi­gung zur Ana­ly­se, das muss Po­li­tik­un­ter­richt ga­ran­tie­ren.

Mit der Ana­ly­se­fä­hig­keit gibt’s sel­ten Pro­ble­me. Aber ob eine Klas­se ein ge­mein­sa­mes An­lie­gen ver­tre­ten kann, ohne dass der Un­ter­richt dafür das Gebot zur Kon­tro­ver­se ver­letzt, wird oft be­zwei­felt. Aus Steins Sicht ist das ein Denk­feh­ler. Denn ge­ra­de der Schritt in den öf­fent­li­chen Dis­kurs be­deu­tet ja, sich mit ge­gen­läu­fi­gen An­sich­ten aus­ein­an­der­set­zen zu müs­sen. „Über­all, stän­dig und von allen Sei­ten pras­sel­ten die Ge­gen­ar­gu­men­te auf die Schü­le­rin­nen und Schü­ler ein“, schil­dert er an­hand des Pro­jekts „Ibra­him soll blei­ben“ von 1997.

Mit dem hatte sich eine Schul­klas­se für einen un­be­glei­te­ten 14-jäh­ri­gen Flücht­ling ein­ge­setzt. Dem droh­te – was da­mals an der Tagesordnung war – die Ab­schie­bung: „Hät­ten sich die Ju­gend­li­chen nicht mit an­de­ren Po­si­tio­nen aus­ein­an­der­ge­setzt“, so Stein, „wäre ihr En­ga­ge­ment zu­sam­men­ge­bro­chen.“

Manch­mal, im Ge­spräch, hält Stein den Kopf etwas schief, um genauer zuhören zu können. Aber bei man­chen Sät­zen blitzt er dich ganz straight di­rekt durch die Bril­le an, um zu un­ter­strei­chen: „Du kannst etwas ver­än­dern“, das ist seine Bot­schaft, die Summe der Er­fah­run­gen, ein Man­tra: „Die große Mehr­heit auch der de­mo­kra­ti­schen Leh­rer wird sagen: ,Ach, schö­ne Träu­me!' “, sagt Stein. „Das habe ich ja sel­ber so ge­dacht, lange“, der Zy­nis­mus des Ab­ge­klär­ten, défor­ma­ti­on pro­fes­sio­nel­le. Aber das hat er über­wun­den. „Meine Er­fah­rung ist: Unter der Vor­aus­set­zung einer sau­be­ren Re­cher­che, bei klar de­fi­nier­ten Zie­len und mit einem ei­gen­stän­di­gen neuen Dis­kurs­bei­trag – kannst du etwas er­rei­chen.“ Und das Buch „soll eine Er­mu­ti­gung sein, für Leh­re­rinnen und Lehrer und mehr noch für junge Men­schen, sich ein­zu­brin­gen und zu en­ga­gie­ren“, sagt Stein. „Weil man damit etwas be­wir­ken kann“.

Die­ser An­satz, mit Schul­pro­jek­ten in die Ge­sell­schaft hin­einzuwir­ken, hat dazu ge­führt, dass Hans-Wolf­ram Stein im Laufe von 20 Jah­ren eine wich­ti­ge Per­son im po­li­ti­schen Mi­kro­kos­mos des Stadt­staats Bre­men ge­wor­den ist. Nicht, weil er selbst mit­ge­mischt hätte, das wäre falsch, und es zu schrei­ben, wäre bloß Was­ser auf die Müh­len sei­ner Kri­ti­ke­rIn­nen. Son­dern: Stein hat dafür ge­sorgt, dass seine Schü­le­rIn­nen mit­ge­mischt haben. Das ist der Un­ter­schied. Sie haben mit­dis­ku­tiert. Sie haben ihre The­men auf die Agen­da ge­setzt. Stein hat die Kon­ti­nui­tät her­ge­stellt. Hat dafür ge­sorgt, dass ein­mal an­ge­sto­ße­ne In­itia­ti­ven von spä­te­ren Jahr­gän­gen wie­der auf­ge­grif­fen wur­den, neu, mit je un­ter­schied­li­cher Tö­nung, aber doch hart­nä­ckig. Und hat, das ist ja doch die Auf­ga­be eines Po­li­tik­leh­rers, ihnen bei­ge­bracht, wie sie ihre Ar­gu­men­te sach­lich un­ter­füt­tern und dann prä­sen­tie­ren.

Bei Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen etwa: Manch­mal hat er dann auch vorne Platz neh­men müs­sen, zwi­schen Land­tags­grö­ßen und sei­nen Schü­lern, weil die das so woll­ten. In diesen Momenten rutscht Stein dann ner­vös auf dem Stuhl hin und her. Farbe und Glanz der Glat­ze las­sen dar­auf schlie­ßen, dass er auf­ge­regt ist: Wie wird die Sache an­kom­men? Wie brin­gen sie das rüber, seine Sisse, sein Samar und sein Nilay? Denn die Schu­le, das Klas­sen­zim­mer ist ja das eine. Aber in der Öf­fent­lich­keit, der ech­ten Welt?

SchülerInnen überzeugen Bremer Innensenator

Tat­säch­lich haben Steins Schü­le­rIn­nen das Land ver­än­dert. Zum Bei­spiel haben sie den Bre­mer In­nen­se­na­tor davon über­zeugt, die Kri­te­ri­en zur Ein­bür­ge­rung mit Dop­pel­pass aus­zu­wei­ten. Sogar bun­des­weit für Auf­se­hen ge­sorgt hat die Ab­sen­kung des Wahl­al­ters. Seit 2011 liegt das in Bre­men für Land­tags­wah­len bei 16 Jah­ren. Die Im­pul­se für den Beschluss der Bür­ger­schaft hatten Steins Schü­le­rIn­nen ge­setzt. Ganz am An­fang aber war die Sache mit den Klas­sen­fahr­ten.

„Das war den Schü­le­rIn­nen ein ech­tes An­lie­gen“, er­zählt Stein. „Bei denen fie­len immer die Fahr­ten aus, weil sich die Hälf­te der Klas­se das nicht leis­ten konn­te.“ In Bre­men ist Kin­der­ar­mut epi­de­misch. Und die Klas­sen von Stein stamm­ten meist nicht aus den Gunst­re­gio­nen der Stadt. Als seine Schü­le­rIn­nen da­mals be­schlos­sen hat­ten, sich mit einem Brief an den Se­na­tor zu wen­den, hatte er sich nicht viel er­hofft. „Aber der hat uns zu sich ein­ge­la­den und die Sache in Ruhe an­ge­hört.“ Und dann wurde das ge­re­gelt, „das war ja auf Ver­wal­tungs­ebe­ne kein so gro­ßer Akt“, sagt Stein.

So­zia­le Pro­jek­te gab es ei­ni­ge. Aus Steins Buch sind sie rausgeflogen. Stattdessen steigt Stein in die Debatte ein. Denn, für Laien er­staun­lich: Ob der Un­ter­richt Schü­le­rIn­nen be­fä­hi­gen soll­te, sich ein­zu­mi­schen, ist unter den Leh­rer­aus­bil­dern durch­aus um­strit­ten. Man­chen scheint die Vor­stel­lung sogar ver­hasst.

So be­kämpft die Main­zer Politikdi­dak­tik­pro­fes­so­rin Kers­tin Pohl den An­satz in ihrem Auf­satz „De­mo­kra­tie­päd­ago­gik oder po­li­ti­sche Bil­dung. Ein Streit zwi­schen zwei Wis­sen­schafts­dis­zi­pli­nen?“: Mit rhe­to­ri­schen Fra­gen in­si­nu­iert sie in Bezug auf einige prä­mier­te Stein-Pro­jek­te das Schreck­bild einer durch ihren Leh­rer in­dok­tri­nier­ten Kin­der­schar. Dafür auf die 1.000 Druck­sei­ten star­ken Do­ku­men­ta­tio­nen der Pro­jek­te zurückzugreifen hält sie offenkundig für unnötig. Eh­ren­rüh­rig fin­det Stein sol­che An­grif­fe: „Wenn je­mand so schwe­re Vor­wür­fe er­hebt, er­war­te ich schon auch Be­le­ge.“ Vor allem aber em­pört ihn die „star­ke Ge­ring­schät­zung der Ju­gend­li­chen“, die aus sol­chen At­ta­cken spricht.

Die sehen das ähn­lich. Alina Kel­ler zum Bei­spiel. Vor neun Jah­ren war sie im Un­ter­richt bei Stein. Spal­tung der Stadt hieß der Pro­jekt­ti­tel da­mals. Sie re­cher­chier­te dafür zum Scoring der Ban­ken – wie al­lein die An­schrift und der Klang des Nach­na­mens von er­fun­de­nen Kun­den die Zins­sät­ze der An­ge­bo­te für Pri­vat­kre­di­te ver­än­dern.

Bankenkritikerin studiert Wirtschaftspsychologie

Kel­ler hat seit­her Wirt­schafts­psy­cho­lo­gie stu­diert. Sie wohnt nicht mehr in Bre­men. Sie ar­bei­tet – in einer Bank. „Diese Pro­jekt­ar­beit hat einen schon sehr ge­prägt“, er­zählt sie. Aber Len­kung, Vor­ga­ben – nein, eher im Ge­gen­teil. Ihre Idee war es ja gewesen, die Ban­ken ins Vi­sier zu neh­men. „Stein hat dann ge­sagt: Das könn­te ein As­pekt sein, schau mal nach, ob du da etwas fin­dest“, so Kel­ler. Tipps gab’s von ihm, sta­tis­ti­sches Ma­te­ri­al habe er be­sorgt, aber be­ar­bei­ten muss­te sie das schon selbst.

„Das war ein­fach etwas an­de­res als diese Fron­tal­be­spie­lung“, sagt Kel­ler, „im Grun­de wie dann spä­ter auch im Stu­di­um.“ Und toll, es hatte mit dem ei­ge­nen Leben zu tun, der Wirk­lich­keit. Und – eben – der ech­ten Po­li­tik.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!