Demokratie lernen: Schüler herrschen mit
Jugendliche können Politik verändern. Das hat Hans-Wolfram Stein mit Schulprojekten in Bremen bewiesen. Jetzt liegt seine Anleitung dafür als Buch vor
„Es ist möglich, etwas zu verändern durch Schulprojekte“ – das ist Steins Bekenntnis. Aber es beruht nicht auf bloßer Annahme, sondern auf Erfahrung: Hans-Wolfram Stein war lange Jahre Netzwerkkoordinator im bundesweiten Modellprogramm „Demokratie lernen und leben“. Zugleich ist er Lehrer für Politik und Wirtschaft. Ein guter, vermutlich. Mindestens einer von denen, die diesen merkwürdigen Beruf mit Leib und Seele ausüben, auch Jahre nach der Pensionierung noch, in AGs und ehrenamtlichen Kursen. Ein Lehrer, der sich für seine SchülerInnen begeistert. Und der seine Fächer liebt.
SchülerInnen-Projekt „Ibrahim soll bleiben“
Steins Fächer sind Wirtschaft und Politik. Bloß hat er nie viel anfangen können mit einer Demokratiedidaktik, die vor allem auf Planspiele setzt, bei denen klar ist, was am Ende rauskommt. Ihm ging es um echtes Handeln und das wahre Leben, weil, sagt er, „Demokratie kann man nicht als Trockenschwimmen lernen“. Und deshalb trägt das Buch, das er jetzt vorgelegt hat, zwar den spröden Titel „Demokratisch handeln im Politikunterricht“ und erfüllt alle Ansprüche an ein fachdidaktisches Werk – ist aber zugleich auch eine con brio verfasste Bekenntnisschrift. Stein referiert darin exemplarisch die Genese und Durchführung von Schulprojekten, gegliedert in fünf thematische Blöcke. Er diskutiert den eigenen Ansatz im Lichte der politikpädagogischen Debatte und zeigt Möglichkeiten auf, wie sich eine vom Schulunterricht ausgehende Intervention in die Herrschaftsform Demokratie im Einklang mit dem Beutelsbacher Konsens konzipieren lässt. Der ist so etwas wie die Sonderethik der PolitikpädagogInnen – Überwältigungsverbot, Kontroversitätsgebot und Befähigung zur Analyse, das muss Politikunterricht garantieren.
Mit der Analysefähigkeit gibt’s selten Probleme. Aber ob eine Klasse ein gemeinsames Anliegen vertreten kann, ohne dass der Unterricht dafür das Gebot zur Kontroverse verletzt, wird oft bezweifelt. Aus Steins Sicht ist das ein Denkfehler. Denn gerade der Schritt in den öffentlichen Diskurs bedeutet ja, sich mit gegenläufigen Ansichten auseinandersetzen zu müssen. „Überall, ständig und von allen Seiten prasselten die Gegenargumente auf die Schülerinnen und Schüler ein“, schildert er anhand des Projekts „Ibrahim soll bleiben“ von 1997.
Mit dem hatte sich eine Schulklasse für einen unbegleiteten 14-jährigen Flüchtling eingesetzt. Dem drohte – was damals an der Tagesordnung war – die Abschiebung: „Hätten sich die Jugendlichen nicht mit anderen Positionen auseinandergesetzt“, so Stein, „wäre ihr Engagement zusammengebrochen.“
Manchmal, im Gespräch, hält Stein den Kopf etwas schief, um genauer zuhören zu können. Aber bei manchen Sätzen blitzt er dich ganz straight direkt durch die Brille an, um zu unterstreichen: „Du kannst etwas verändern“, das ist seine Botschaft, die Summe der Erfahrungen, ein Mantra: „Die große Mehrheit auch der demokratischen Lehrer wird sagen: ,Ach, schöne Träume!' “, sagt Stein. „Das habe ich ja selber so gedacht, lange“, der Zynismus des Abgeklärten, déformation professionelle. Aber das hat er überwunden. „Meine Erfahrung ist: Unter der Voraussetzung einer sauberen Recherche, bei klar definierten Zielen und mit einem eigenständigen neuen Diskursbeitrag – kannst du etwas erreichen.“ Und das Buch „soll eine Ermutigung sein, für Lehrerinnen und Lehrer und mehr noch für junge Menschen, sich einzubringen und zu engagieren“, sagt Stein. „Weil man damit etwas bewirken kann“.
Dieser Ansatz, mit Schulprojekten in die Gesellschaft hineinzuwirken, hat dazu geführt, dass Hans-Wolfram Stein im Laufe von 20 Jahren eine wichtige Person im politischen Mikrokosmos des Stadtstaats Bremen geworden ist. Nicht, weil er selbst mitgemischt hätte, das wäre falsch, und es zu schreiben, wäre bloß Wasser auf die Mühlen seiner KritikerInnen. Sondern: Stein hat dafür gesorgt, dass seine SchülerInnen mitgemischt haben. Das ist der Unterschied. Sie haben mitdiskutiert. Sie haben ihre Themen auf die Agenda gesetzt. Stein hat die Kontinuität hergestellt. Hat dafür gesorgt, dass einmal angestoßene Initiativen von späteren Jahrgängen wieder aufgegriffen wurden, neu, mit je unterschiedlicher Tönung, aber doch hartnäckig. Und hat, das ist ja doch die Aufgabe eines Politiklehrers, ihnen beigebracht, wie sie ihre Argumente sachlich unterfüttern und dann präsentieren.
Bei Diskussionsveranstaltungen etwa: Manchmal hat er dann auch vorne Platz nehmen müssen, zwischen Landtagsgrößen und seinen Schülern, weil die das so wollten. In diesen Momenten rutscht Stein dann nervös auf dem Stuhl hin und her. Farbe und Glanz der Glatze lassen darauf schließen, dass er aufgeregt ist: Wie wird die Sache ankommen? Wie bringen sie das rüber, seine Sisse, sein Samar und sein Nilay? Denn die Schule, das Klassenzimmer ist ja das eine. Aber in der Öffentlichkeit, der echten Welt?
SchülerInnen überzeugen Bremer Innensenator
Tatsächlich haben Steins SchülerInnen das Land verändert. Zum Beispiel haben sie den Bremer Innensenator davon überzeugt, die Kriterien zur Einbürgerung mit Doppelpass auszuweiten. Sogar bundesweit für Aufsehen gesorgt hat die Absenkung des Wahlalters. Seit 2011 liegt das in Bremen für Landtagswahlen bei 16 Jahren. Die Impulse für den Beschluss der Bürgerschaft hatten Steins SchülerInnen gesetzt. Ganz am Anfang aber war die Sache mit den Klassenfahrten.
„Das war den SchülerInnen ein echtes Anliegen“, erzählt Stein. „Bei denen fielen immer die Fahrten aus, weil sich die Hälfte der Klasse das nicht leisten konnte.“ In Bremen ist Kinderarmut epidemisch. Und die Klassen von Stein stammten meist nicht aus den Gunstregionen der Stadt. Als seine SchülerInnen damals beschlossen hatten, sich mit einem Brief an den Senator zu wenden, hatte er sich nicht viel erhofft. „Aber der hat uns zu sich eingeladen und die Sache in Ruhe angehört.“ Und dann wurde das geregelt, „das war ja auf Verwaltungsebene kein so großer Akt“, sagt Stein.
Soziale Projekte gab es einige. Aus Steins Buch sind sie rausgeflogen. Stattdessen steigt Stein in die Debatte ein. Denn, für Laien erstaunlich: Ob der Unterricht SchülerInnen befähigen sollte, sich einzumischen, ist unter den Lehrerausbildern durchaus umstritten. Manchen scheint die Vorstellung sogar verhasst.
So bekämpft die Mainzer Politikdidaktikprofessorin Kerstin Pohl den Ansatz in ihrem Aufsatz „Demokratiepädagogik oder politische Bildung. Ein Streit zwischen zwei Wissenschaftsdisziplinen?“: Mit rhetorischen Fragen insinuiert sie in Bezug auf einige prämierte Stein-Projekte das Schreckbild einer durch ihren Lehrer indoktrinierten Kinderschar. Dafür auf die 1.000 Druckseiten starken Dokumentationen der Projekte zurückzugreifen hält sie offenkundig für unnötig. Ehrenrührig findet Stein solche Angriffe: „Wenn jemand so schwere Vorwürfe erhebt, erwarte ich schon auch Belege.“ Vor allem aber empört ihn die „starke Geringschätzung der Jugendlichen“, die aus solchen Attacken spricht.
Die sehen das ähnlich. Alina Keller zum Beispiel. Vor neun Jahren war sie im Unterricht bei Stein. Spaltung der Stadt hieß der Projekttitel damals. Sie recherchierte dafür zum Scoring der Banken – wie allein die Anschrift und der Klang des Nachnamens von erfundenen Kunden die Zinssätze der Angebote für Privatkredite verändern.
Bankenkritikerin studiert Wirtschaftspsychologie
Keller hat seither Wirtschaftspsychologie studiert. Sie wohnt nicht mehr in Bremen. Sie arbeitet – in einer Bank. „Diese Projektarbeit hat einen schon sehr geprägt“, erzählt sie. Aber Lenkung, Vorgaben – nein, eher im Gegenteil. Ihre Idee war es ja gewesen, die Banken ins Visier zu nehmen. „Stein hat dann gesagt: Das könnte ein Aspekt sein, schau mal nach, ob du da etwas findest“, so Keller. Tipps gab’s von ihm, statistisches Material habe er besorgt, aber bearbeiten musste sie das schon selbst.
„Das war einfach etwas anderes als diese Frontalbespielung“, sagt Keller, „im Grunde wie dann später auch im Studium.“ Und toll, es hatte mit dem eigenen Leben zu tun, der Wirklichkeit. Und – eben – der echten Politik.
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