Demo gegen islamistischen Terrorismus: Die Welt kommt nach Paris
Auch Mitglieder der deutschen Regierung werden am Sonntag an der Großkundgebung in Paris teilnehmen. Al-Qaida droht Frankreich mit weiteren Anschlägen.
PARIS/BERLIN dpa/rtr/afp | Mit einer machtvollen Demonstration gegen religiös motivierten Terrorismus wollen Politiker aus aller Welt sowie Hunderttausende Bürger in Paris ein Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Anschlagswelle setzen. Etwa 40 Staats- und Regierungschefs, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, wurden auf Einladung des französischen Staatspräsidenten François Hollande zu der beispiellosen Großkundgebung an diesem Sonntag erwartet.
Zu der Solidaritätsveranstaltung werden aus Deutschland neben Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Innenminister Thomas de Maizière erwartet. Letzterer trifft sich zuvor mit EU-Kollegen, um über Konsequenzen im Kampf gegen den Terrorismus zu beraten. Daran nimmt auch US-Justizminister Eric Holder teil.
Aus Europa haben unter anderem auch die Spitzen der EU sowie die Regierungschefs Großbritanniens, Italiens, Spaniens, Dänemarks, Belgiens, der Niederlande, Finnlands, Griechenlands, Polens, Portugals, Schwedens, Tschechiens, Ungarns, Lettlands, Bulgariens, Kroatiens und Rumäniens ihre Teilnahme zugesagt. Dabei sein werden auch der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu und sein Außenminister Avigdor Lieberman sowie Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und Jordaniens König Abdullah II., der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, Russlands Außenminister Sergej Lawrow und der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu.
Angesichts möglicher weiterer Anschläge durch Islamisten sollen 5500 Polizisten und Soldaten für die Sicherheit der Teilnehmer des Schweigemarsches sorgen. Schon am Samstag waren in ganz Frankreich insgesamt 700.000 Menschen auf die Straße gegangen und hatten der 17 Todesopfer der Gewalttaten von Paris gedacht.
MI5 warnt vor Anschlägen auf Flugzeuge
Die französischen Ermittler suchen nach dem dramatischen Ende der Anti-Terror-Einsätze weiter unter Hochdruck nach möglichen Unterstützern der islamistischen Gewalttäter. Intensiv gefahndet wurde nach der flüchtigen Lebensgefährtin eines der getöteten Terroristen – die 26-Jährige soll Frankreich aber schon einige Tage vor dem Anschlag auf das Satireblatt „Charlie Hebdo“ verlassen haben und in Syrien sein, berichteten französische Medien. Auch nach dem Tod der drei Attentäter am Freitag galt weiterhin die höchste Alarmstufe.
Mit dem Schweigemarsch soll auch ein Zeichen der Geschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus gesetzt werden. Zwölf Menschen starben am Mittwoch beim Anschlag auf das Satiremagazin, eine Polizistin wurde am Donnerstag bei einer Schießerei im Süden von Paris getötet, vier Menschen brachte einer der Terroristen am Freitag bei einer Geiselnahme in einem jüdischen Geschäft im Osten von Paris um.
Die Terrorgruppe al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) drohte Frankreich mit weiteren Anschlägen. Auch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) drohte mit einer größeren Terrorkampagne und weiteren Angriffen in Europa und den USA. Dies hätten Abhörspezialisten des US-Geheimdienstes NSA herausgefunden, berichtete Bild am Sonntag unter Berufung auf US-Geheimdienstkreise. Den Experten sei es kurz nach den Attentaten in Frankreich gelungen, Kommunikationsverkehr der IS-Führung abzufangen. Darin sei Paris zum Fanal für eine Anschlagserie erklärt worden, die auch andere europäische Hauptstädte treffen solle. Dabei sei auch von Rom die Rede gewesen. Konkrete Planungen seien allerdings nicht bekannt.
Der Zeitung zufolge warnte zudem der britische Inlandsgeheimdienst MI5 unter anderem deutsche Sicherheitsbehörden vor Anschlägen auf Flugzeuge mit Sprengstoffen, die angeblich von Sicherheitsdetektoren nicht aufgespürt werden könnten. Das Blatt berichtete ferner, die mutmaßlichen Attentäter von Paris seien womöglich Teil eines Terror-Netzwerkes. US-Ermittler hätten erste Hinweise darauf, dass die Brüder Cherif und Said Kouachi Kontakte in die Niederlande hatten.
Die beiden Brüder Chérif (32) und Said Kouachi (34), die am Mittwoch in der Charlie-Hebdo-Redaktion ein Blutbad mit zwölf Toten angerichtet hatten, riefen dabei „Allah ist groß“ und „Wir haben den Propheten gerächt“. Sie behaupteten, zur Terror-Organisation al-Qaida zu gehören. Der jüngere der beiden hatte sich nach Erkenntnissen der Ermittler 2011 im Jemen aufgehalten. Einen Zusammenhang mit IS behauptete auch Amedy Coulibaly (32), der erst eine Polizistin und später vier Geiseln in dem jüdischen Geschäft erschossen hatte.
Beisetzung in Jerusalem
Mindestens eines der vier jüdischen Opfer des Anschlags auf einen koscheren Supermarkt in Paris soll am Dienstag in Jerusalem beigesetzt werden. Der Vater von Joav Hattab (21) habe dies im Gespräch mit Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bestätigt, berichtete der israelische Rundfunk am Sonntag. Bei dem Vater Benjamin Hattab handele es sich um einen ranghohen Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Tunesien.
Auch die Familien der drei weiteren jüdischen Opfer, Johan Cohen, Philippe Braham und François-Michel Saada, erwägten eine Beisetzung in Israel.
Vor fast drei Jahren waren die Terroropfer eines Anschlags an einer jüdischen Schule in der französischen Stadt Toulouse in Jerusalem beerdigt worden. Im März 2012 hatte der Islamist Mohamed Merah vor einem Gymnasium in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer erschossen.
Netanjahu forderte Juden in Frankreich angesichts der Terrorwelle in Paris zur Auswanderung nach Israel auf. „Jeder Jude, der nach Israel einwandern will, wird hier mit offenen Armen empfangen“, sagte Netanjahu am Sonntag vor seiner Abreise nach Paris. „Der radikale Islam bedroht die ganze Welt“, betonte der Regierungschef.
Staatschef Hollande empfing am Sonntag im Élysée-Palast die Spitzenvertreter der jüdischen Gemeinde des Landes. Der Großrabbiner von Frankreich, Haïm Korsia, und der Präsident der jüdischen Dachorganisation Crif, Roger Cukierman, führten die Delegation an. "Wir sind in einer Kriegssituation", sagte Cukierman in Bezug auf die Ereignisse der vergangenen Tage.
Die Regierung habe zugesagt, jüdische Schulen und Synagogen von Soldaten schützen zu lassen, sollte dies notwendig werden, fügte er hinzu. Dass Juden aus Frankreich wegen der Gewalt nach Israel auswandern, respektiere die Dachorganisation, doch müsse der Terrorismus in Frankreich bekämpft werden. Hollande wollte nach dem Schweigemarsch noch am Abend die Große Synagoge von Paris für eine Trauerfeier aufsuchen.
Schwager von Chérif Kouachi „schockiert“
Drei Tage nach dem tödlichen Anschlag auf die französische Satirezeitung Charlie Hebdo hat sich der fälschlicherweise vorübergehend festgenommene 18-jährige Mourad Hamyd „schockiert“ von den Ereignissen gezeigt. „Ich war fassungslos, völlig überwältigt“, sagte der sichtlich erschöpfte Hamyd am Samstag im Beisein einer Anwältin und mehrerer Familienmitglieder der Nachrichtenagentur afp. Von der Polizei sei er aber „sehr korrekt behandelt“ worden.
Hamyd ist der Schwager eines der beiden mutmaßlichen Attentäter, die am Mittwoch die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris überfielen und dort sowie auf ihrer späteren Flucht zwölf Menschen töteten. Nach einer Großfahndung und einer Geiselnahme wurden Chérif und Said Kouachi am Freitag von der Polizei erschossen. Hamyd hatte sich am Mittwoch der Polizei gestellt, nachdem sein Name im Zusammenhang mit dem Anschlag im Internet aufgetaucht war, und wurde am Freitag wieder freigelassen.
Der 18-Jährige beschrieb sich im Gespräch mit afp als ganz normalen jungen Mann, der noch bei seinen Eltern lebe. Zum Zeitpunkt des Anschlags auf die Zeitung am Mittwoch befand er sich nach eigenen Angaben in der Schule, was viele Zeugen bestätigten. Dass er zeitweise als dritter Verdächtiger gesucht worden sei, habe ihn „schockiert“, sagte Hamyd nun. „Die Menschen haben in sozialen Netzwerken fürchterliche und falsche Dinge über mich gesagt, obwohl ich ein normaler Schüler bin“, beklagte er.
„Der Angriff war entsetzlich, und meine Gedanken sind bei den Opfern“, sagte Hamyd, der nach offiziellen Angaben bis zu dem Anschlag nicht polizeibekannt war. Wie er ins Visier der Sicherheitsbehörden geriet, ist unklar. Sein Plan sei es, nach der Schule Medizin zu studieren, sagte Hamyd. Er hoffe, dass die Vorfälle der vergangenen Tage „nicht meine Zukunft verderben“ und dass sein Name von der Öffentlichkeit wieder vergessen werde.
„Ich habe mit dieser ganzen Sache nichts zu tun“, bekräftigte Hamyd. Chérif sei lediglich sein Schwager gewesen, zu dem die Familie „eine ziemlich entfernte Beziehung“ gehabt habe. In Hamyds Heimatstadt Charleville-Mézières in Nordfrankreich kam Chérif demnach selten. Hamyds Schwester, die Ehefrau Chérifs, war ebenfalls am Mittwoch festgenommen worden. Sie wurde am Samstag wieder freigelassen. „Ich bin sicher, dass sie auch unschuldig ist“, sagte eines der Familienmitglieder.
Hamyds Familie gab zudem an, dass sie am Sonntag nicht zu dem geplanten großen Trauermarsch in Paris reisen, aber an einer Gedenkkundgebung für die Gewaltopfer der vergangenen Tage in Charleville-Mézières teilnehmen wolle. Hamyd selbst will sich jedoch nicht in der Öffentlichkeit zeigen.
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