Dekolonisierende Ausstellung: Bitteres Erinnerungsprojekt
Die US-amerikanische Künstlerin Rajkamal Kahlon stellt in Hamburg aus. Sie deckt Kontinuitäten kolonialer Gewalt auf.
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Die Aufnahmen sind authentisch und zeigen aus Pilotenperspektive das Bombardement eines afghanischen Dorfs. Das zwingt einen in die Täterperspektive: Man guckt mit durch den Sucher. Die weißen Punkte da unten sind rennende Menschen. Dann mehrere Explosionen. Jetzt rennt niemand mehr.
Kühl und geschäftsmäßig debattieren auf der begleitenden Tonspur Piloten und Kommandozentrale über geeignete Ziele, melden die Treffer. Man kann es kaum ertragen. Auch die indischstämmige US-amerikanische Künstlerin nicht.
„Mit dieser männlichen amerikanischen ‚Master of the Universe‘-Stimme bin ich aufgewachsen, sie ist Teil meiner Identität“, sagt sie. „Für mich ist das ein gespaltener Wiedererkennungseffekt, denn die Männer auf den Fotos könnten meine Verwandten sein“, sagt die inzwischen in Berlin lebende Künstlerin und Malerei-Professorin an der HfbK. „Angesichts dieses Videos fühle ich Trauer, Scham und Schuld.“
Reduktion von Menschen auf Objekte
Jene Männer auf den Fotos – das sind von Kahlon über das Video gelegte Aufnahmen, die der russische Anthropologe G. F. Debets in den 1960ern in Afghanistan machte, als er Menschen im Zuge eines rassistischen „Forschungsprojekts“ vermaß. Vielleicht sind es Verwandte der 2002 Bombardierten, vielleicht nicht. Wichtig ist die Kontinuität kolonialer Gewalt, die Reduktion von Menschen auf Objekte. Dagegen arbeitet Kahlon seit Langem an – als politische Aktivistin und Künstlerin.
Bis 5. 11., Hamburg, Hochschule für bildende Künste, Lerchenfeld 2a
Vom 16. bis 20. 10. wird jeweils von 10 bis 18 Uhr die „List of Deaths“ erstmals vollständig verlesen. Dort dokumentiert das Netzwerk „United Against Racism“ alle Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant*innen ohne gültige Papiere, die beim Versuch, nach Europa zu reisen, durch Abschiebungen oder infolge der Bedingungen in europäischen Haftanstalten starben.
Wichtigstes Vehikel dabei ist das Malen, genauer: das Übermalen: In Archiven und alten Büchern sucht und findet sie Abbildungen einst Kolonisierter – sei es im Amsterdamer Tropenmuseum, im Wiener Weltmuseum oder im deutschen Buch „Die Völker der Erde“ von 1902. Überall dort finden sich unbekleidete, haarlose, zum Objekt degradierte Menschen, die vermessen, typisiert und als zivilisatorisch unterlegen klassifiziert werden. Und immer wieder hat Kahlon solche Fotos vergrößert und übermalt, den Frauen modische Kleidung und schicke Frisuren, den Männern anständige Anzüge gegeben.
Im Resultat ist das Ursprungsbild nicht verschwunden, aber verwandelt, fürsorglich ergänzt, die Person vom Objekt ins Individuum transformiert. Dabei bleibt der Vorgang, die Brechung immer sichtbar. Denn tatsächlich wirkt das Draufgemalte zunächst deplatziert, und genau dieses Erstaunen, auch die Komik darin, ist gewollt: Warum finden wir es bizarr, gar lustig, dass diese Menschen plötzlich eine Prada-Tasche tragen?
„Ich will einen Dialog darüber initiieren, wie uns diese Bilder und die ihnen innewohnende Gewalt bis heute prägen“, sagst Kahlon. Einige ihrer Figuren stehen gar als lebensgroße Cut-outs im „Schaufenster“ der HfbK, sollen zum Näherkommen locken, bevor es an die harten Themen geht. „Ästhetik und Gewalt existieren parallel. Ich finde problematisch, dass wir das oft trennen“, sagt Kahlon.
Außerdem kann Schönheit helfen, Be- und Verarbeitung erträglich machen: Zehn Jahre lang ist Rajkamal Kahlon um die medizinisch kalten Autopsieberichte des Folterprogramms der Bush-Ära in Afghanistan und Irak herumgeschlichen. Hat die Dokumente schließlich marmoriert – sowohl eine Anspielung auf vergrößerte Zellstrukturen als auch eine Ästhetisierung.
Dann hat sie anatomische Zeichnungen und Fotos darübergelegt, die der US-Anthropologe Henry Field in den 1930ern von im Irak vermessenen Menschen gemacht hatte. „Das war bald, nachdem man im Irak Öl gefunden hatte“, sagt Kahlon. Sie hat die namenlosen Fotos über die anonymen Autopsieberichte gelegt und „Onkel“ oder „Bruder“ daruntergeschrieben.
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