Debütroman „Camel Travel“: Komplexe statt Reisetasche
Kein Vater, strenge Mutter, dazu Buchweizengrütze und Leninverehrung: Volha Hapeyeva erzählt vom Aufwachsen im belarussischen Spätsozialismus.
Heiterer Ernst oder ernste Komik? Man kann sich nicht recht entscheiden, wie man „Camel Travel“, den Debütroman der Autorin Volha Hapeyeva, kategorisieren soll. In jedem Fall haben wir es mit einer Coming-of-Age-Story zu tun, die aus einem Land erzählt, das zuletzt für revolutionäre Schlagzeilen sorgte: Belarus. Heiter und melancholisch zugleich wirken die erzählten Episoden. Skizzenhaft schildert Hapeyeva das Aufwachsen ihrer Heldin Volha im Spätsozialismus zwischen Buchweizengrütze und Leninverehrung.
Die Autorin, 1982 geboren, ist promovierte Linguistin. In homöopathischen Dosen schmuggelt sie Versatzstücke eines Nachdenkens über das Wesen der Sprache ein, darüber, wie man von Sprache durchdrungen wird, und dass die jeweilige Realität schon dadurch eine andere sein kann, dass man russisch- oder belarussischsprachig aufwächst.
Nicht weniger subtil eingeflochten ist ein Nachdenken über Feminismus, darüber beispielsweise, wie weiblichen Körpern ein Bewusstsein für das richtige Erscheinungsbild eingeimpft wird. Der Titel „Camel Travel“ verweist auf eine kurze Episode im Text, als die Sechsjährige auf einem Kamel am Strand reitet und fotografiert werden soll.
Der Kamelführer bedeutet ihr, den Bauch einzuziehen. Wie sieht das denn aus, ein Mädchen mit Bauch? „Das Abenteuer Leben fing gerade erst an“, kommentiert die Erzählerin die Episode. Anstelle einer Reisetasche schleppt das Mädchen von nun an Komplexe mit sich herum.
Mehr erzählte Vignetten als Roman
Was bewegt ein Grundschulkind noch? Die Scheidung der Eltern etwa, die von den anderen Kindern neidisch beäugt wird, „denn kaum jemand fand das eheliche Verhältnis der Eltern zufriedenstellend“. Besonders in den potenziell schmerzlichen Momenten geht die Erzählerin Hapeyeva auf ironische Distanz zum Geschehen.
Die Gattungsbezeichnung Roman ist eigentlich ein Etikettenschwindel. Natürlich darf der Roman vieles, auch die Grenzen der Gattung sprengen, aber er sollte doch wenigstens einen rudimentären Plot haben; „Camel Travel“ bietet dem Leser eher humorvoll erzählte Vignetten, verbunden werden sie allenfalls durch ihre Hauptfigur, Volha Hapeyeva.
„Roman“ mag da tatsächlich die literarische Überformung oder ein Spiel mit Autofiktion andeuten; aber Letzteres ist auch in Geschichten denkbar.
Vielleicht führt uns der Romanbegriff aber auch zur tieferen Ebene des Textes, zu einer Schicht unter den skurrilen Erinnerungen der Protagonistin Volha. Dort trifft man dann auf das, was Sigmund Freud den Familienroman des Kindes nannte, fantastische Überformungen der realen Bezugspersonen, die idealisiert oder abgewertet werden.
Im Text ist der Vater als seltsame Leerstelle angelegt, er hat eine Affäre und verlässt die Familie. Er ist der „pater semper incertus“, der so ziemlich abwesende Vater, der in einem eigentlich lapidaren Nebensatz das Leben verliert – beinahe wie in einem Traum.
Die Kunst der Auslassung
Die gestrenge Mutter bringt der Tochter bei, nicht weibisch zu sein: nicht heulsusig und nach Mitleid heischend. Kochen ist Weibersache, weswegen es in der Familie vernachlässigt wird.
Die Großmutter ist die Personifikation des Klischees der „Kühlschrankmutter“, hat das Unglücklichsein mit ihrem Leben kultiviert und ist der liebevollen Zuwendung zu Kindern und Enkelkind unfähig. Das ist eine alles in allem traurige Grundkonstellation, die von den eher witzigen Begebenheiten in der Schule überdeckt wird.
Wie die Leerstelle Vater bleiben auch andere Momente in den Episoden auf interessante Art lückenhaft. Scheinbar wohnen die Großeltern in einem verstrahlten Gebiet (Belarus bekam einen Großteil des radioaktiven Niederschlags von Tschernobyl ab). Daraus wird nun aber gerade keine Tragödie konstruiert; die Geschichte ist die Auslassung. So ist der Kern das beiläufig Umrissene, das subtil Angedeutete. Auch die radikale Auslassung ist eine Kunst für sich.
Wäre all das subtil Angedeutete in diesem Buch tatsächlich auserzählt, dann hätten wir es vermutlich mit einem recht klassischen Roman zu tun. Hier aber ist die Verkürzung nicht nur Methode, sondern überaus reizvoll.
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