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Debatte wegen Grimme-Preis-NominierungKontroversen aushalten

Der umstrittene Dokumentarfilm „Elternschule“ ist für den Grimme-Preis nominiert. Dagegen gibt es Protest. Die Diskussion darum muss man aushalten.

Eine junge Patientin der Kinder- und Jugendklinik in Gelsenkirchen Foto: Jörg Adolph/SWR

E ines der größeren Missverständnisse im gesellschaftlichen Betrieb ist das Verwechseln von Anlass, Ursache und Überbringer*n. Lassen Sie mich erklären.

Der vom SWR mitproduzierte Dokumentarfilm „Elternschule“ ist für den Grimme-Preis nominiert. Im Film geht es um eine Kinderklinik im Ruhrgebiet, in der sehr schwere Fälle behandelt werden: Kinder, die durchgehend schreien, sich nicht mehr beruhigen lassen, nicht schlafen oder essen wollen. „Die Zuschauer erleben das Auf und Ab einer radikalen, ganzheitlichen Behandlung, die nicht nur den Kindern einiges abverlangt – vor allem sind die Eltern gefordert“, so rezensierte seinerzeit der Deutschlandfunk den Film.

2018 kam das Werk von Ralf Bücheler und Jörg Adolph dann in die (Programm-)Kinos. Es folgte: ein Shitstorm. Im gleichen Jahr war „Elternschule“ für den Deutschen Filmpreis nominiert. Es folgte: ein Shitstorm. Als im Juli 2019 die Erstausstrahlung in der ARD anstand, folgte: ein Shitstorm. Seit der Bekanntgabe, dass der Dokumentarfilm für den diesjährigen Grimme-Preis nominiert ist, zieht der nächste auf. Diesmal sogar im beschaulichen Marl. (Disclaimer: Ich bin Vorsitzender des Grimme-Preis-Fördervereins, habe mit den Entscheidungen über Nominierungen und Preise aber nichts zu tun).

Bisherige Bilanz: Eine absurde Petition, den Film zu verbieten, unterschrieben 2018 über 20.000 Menschen. Ein Ermittlungsverfahren gegen die im Film gezeigte Klinik wurde nach wenigen Wochen wieder eingestellt. Aktuell wird hingegen vor allem ein Hashtag-Wettbewerb auf dem Facebook-Account des Grimme-Preises und auf Instagram ausgetragen. Ob am Ende #keinpreisfuergewalt häufiger als #keinepreisefuergewalt gepostet wird?

Ignoranz gegenüber der Welt

„Vielleicht sind die Zeiten für so einen Film einfach vorbei“, hatte Jörg Adolph im vergangenen Sommer der Süddeutschen gesagt. Vielleicht gehe das bei einem so aufgeladenen Thema wie Erziehung einfach nicht mehr, jetzt, in der Gesellschaft des Zorns.

Doch genau das wäre fatal. Es braucht diese Filme, damit solche Debatten geführt werden. So schwer sie auch fallen. Existierende Probleme auszublenden, weil sie nicht sein sollen oder die eigene, ach so schwer erkämpfte Überzeugung wieder infrage stellen, kommt nicht in die Tüte. So was einzufordern und auszuhalten, ist mutiges Kino oder Fernsehen. Und gehört damit zumindest in einen Wettbewerb.

Denn wer in der komplexen Welt einfache Antworten sucht, ist eigentlich schon gescheitert. „Elternschule“ gibt auch gar keine Antworten. Sondern zeigt ein vielerorts ignoriertes gesellschaftlichen Problem. Wie übrigens auch „Systemsprenger“, der gefeierte Film um die verhaltens­auffällige Benni. Wer die harten Methoden, die in der Klinik als „letztes Mittel“ versucht werden, mit praktischen Tipps aus der Apothekenumschau verwechselt, muss das schon wollen.

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Steffen Grimberg
Medienjournalist
2000-2012 Medienredakteur der taz, dann Redakteur bei "ZAPP" (NDR), Leiter des Grimme-Preises, 2016/17 Sprecher der ARD-Vorsitzenden Karola Wille, ab 2018 freier Autor, u.a. beim MDR Medienportal MEDIEN360G. Seit Juni 2023 Leitung des KNA-Mediendienst. Schreibt jede Woche die Medienkolumne "Flimmern und rauschen"
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9 Kommentare

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  • Die Debatte ist auch deswegen interessant, weil es darin um einen grundlegenden Konflikt geht: Den zwischen Effizienz einer Behandlung und den damit verbundenen ethischen Implikationen: scienceblogs.de/ge...hungswissenschaft/

    Solche Konflikte gibt es auch in anderen Bereichen, z.B. der Masernimpfpflicht oder aktuell den drakonischen Maßnahmen zur Seuchenkontrolle in China.

  • Shitstorm as shitstorm can. Warum nicht auch hier?



    Ich kenne den Film (noch) nicht, hatte aber vor knapp 20 Jahren selbst mit der Elternschule zu tun. Wenn sich die dort praktizierte Grundhaltung nicht fundamental geändert hat, dann geht es nicht darum, Kindern Gewalt anzutun, sondern - in einem gesetzten Rahmen - Kinder zu lassen - und eben auch dann, wenn es gewalttätig wird. Eltern lernen dort (lernten damals dort), dass Kinder ganz eigene Persönlichkeiten sind, die von Anfang an dazu fähig sind, sich auch ohne elterlichen Raketenabwehrschirm in der lebensfeindlichen Welt der Kindergärten und Spielplätze zu behaupten. Und die erst durch Mamas (und Papas) Dauerversorung zu den Monstern werden, um die es in dem Film vermutlich geht.



    So ein Konzept ist natürlich ein "Schlag in die Fresse" aller Helikoptereltern, die ihre Kinder am liebsten unter sterilen Laborbedingungen aufziehen wollen. Und derjenigen, die von ihrem eigenen Elfenbeinturm heraus Fernwatschen verteilen.

  • "es braucht diese Filme, damit solche Debatten geführt werden"- wieso müssen wir über Methoden debattieren, die völliger unwissenschaftlich er Nonsens sind, siehe Prof stemmans Ausführungen. Haben sie sich damit beschäftigt? Dass der Begriff Trennungstraining in der Fachliteratur überhaupt nicht auftaucht? Dass die allermeisten Fachgesellschaften und etliche Fachleute die Methoden für schädlich halten. Mit Ausnahme derer, bei denen Befangenheit vorliegt.



    Sie schreiben, wer die harten Methoden mit praktischen Tipps aus der Apothekenumschau verwechselt, müsse das schon wollen.



    Nein, denn genau die gleichen Tipps wie im Film werden auch durch den der Klinik angegliederten Verein Allergie und Umweltkrankes Kind propagiert- auch zur Vorbeugung. Diese Methoden sollen eben genau als richtiger Umgang mit Kindern allgemein gestreut werden. Das sagt eigentlich schon der Titel Elternschule-so geht Erziehung. Er müsste sonst heißen-Therapie für Extremfälle oder so ähnlich.



    Schön wäre es, wenn sich Mal jemand journalistisch dahinterklemmen würde, warum diese Klinik immer noch so weiterarbeiten darf, obwohl Kinderschutzbund und etliche Fachgesellschaften vor den Methoden gewarnt haben. Wer kann Mal diesen Filz aufdecken?

  • Guten Abend Herr Grimberg,

    haben Sie beim Verfassen dieses Artikels darüber nachgedacht, was der Titel "Elternschule" den Zuschauern suggeriert? Anscheinend haben die Filmemacher die harten Methoden der Klinik mit den Tipps aus der Apothekenrundschau verwechselt.



    Er suggeriert Eltern, dass sie durch die Dokumentation aktuelle Erziehungsmethoden erlernen können.

    Abgesehen davon, dass dieser Film nunmal Gewalt an Kindern dokumentiert ohne dies zu kritisieren, unterstützt er durch Titel, Schnitt und Interviews der Filmemacher, dass Eltern annehmen, dass diese Methoden erfolgreich zu Hause angewandt werden können.

    Es ist schon traurig, dass Sie den Protest für Kinderrechte so verhöhnen. Tut es Ihnen wirklich gar nicht in ihrem Herzen weh, diese Machenschaften zu sehen, Kinder so leiden zu sehen?

    Ich wünsche Ihnen wirklich, dass Sie nochmal in sich gehen und darüber nachdenken, was Sie hier verfasst haben.

    Man darf auch einfach Mal zugeben, einen Fehler gemacht zu haben. Das würde unserer Gesellschaft sehr weiterhelfen. Einen Artikel zu verfassen, gegen eine Protestaktion, die Kinderrechte schützen möchte, das ist wirklich nichts, was ein guter Mensch auf seiner Bucket-List stehen haben sollte.

    Mir ist bewusst, dass viele Menschen Ihrer und auch meiner Generation Gewalt erleben mussten und das tut mir unglaublich Leid und tut mir immernoch weh und gerade das sollte doch Grund genug dafür sein, dass wir die nachfolgenden Generationen davor schützen wollen.

    Mit freundlichen Grüßen,



    Monica P.

  • Die Überschrift des Artikels müsste "Kontroversen ignorieren" statt Kontroversen aushalten lauten. Proteste des deutschen Kinderschutzbundes, zahlreichen renommierten Verbänden und allen voran des Kinderarztes Herbert Renz-Polster mit Shitstorm abzutun, nur weil sich bei so viel Prostest nicht jeder um höflichen Ausdruck bemüht hat, grenzt an Ignoranz. Und wenn man dann sagt, gerade weil der Film so viel Widerspruch ausgelöst hat, wird es zur Farce, wenn von Seiten der Filmemacher oder der Klinik nie jemand ernsthaft in die Diskussion mit Herrn Renz-polster eingestiegen ist.



    Ich bin sehr enttäuscht über einen derart oberflächliche Kommentare in der Taz.



    Wenn man einen Film "Elternschule" nennt und daraufhin in den ersten Rezensionen Applaus für die starke Erziehung aufbrandet, wonach der "Film ein Muss für alle Eltern ist" zeigt sich, dass ja bereits die Rezensenten Erziehung und Therapie verwechselt haben oder warum genau sollten sich sonst Eltern den Film anschauen?



    Der Film mixt in einem gefährlichen Maße pädagogische Wahrheiten (Kinder brauchen Führung/Leitung/Halt) mit unmenschlichen Schlussfolgerungen (ich führe es, indem ich es bis zur Erschöpfung hinter mir herstolpern lasse)



    Deswegen ist der Film für Eltern gefährlich.



    Preisunwürdig ist er, weil die Filmemacher die Kamera blind applaudierend auf Herrn Langer richten (zeigt sich in zahlreichen interviewaußerungen) und gar nicht merken, was sie da filmen/dass es längst andere Therapieansätze gibt/ dass Wahrheiten mit Grenzverletzungen und Gewalt an Kindern vermischt werden. Der Schnitt, die Musik betonen dieses unkritische Applaudieren nochmals. Das Wort neutrale Beobachtung müsste durch das Wort "naiv" ersetzt werden.

  • Ich habe die Doku gesehen und halte es für falsch, hier ohne genauere Einordnung von "sehr schweren Fällen" zu sprechen. Teilweise waren es einfach nur Kinder mit einer Neurodermitis, die- oh Wunder- nachts nicht schlafen konnten. Aber auch darüber hinaus halte ich es nicht für ungewöhnlich, wenn Kinder Probleme mit dem durchschlafen haben. "Besonders schwere Fälle", um mit einer solchen Formulierung überhaupt über Kinder zu schreiben, bedarf es schon einer sehr stark geprägten eigenen Sicht auf Kinder und Erziehung. Diese darf jede*r auch gerne noch über die 1950ger Jahre hinaus für sich bewahren, aber es sollte zumindest reflektiert und gekennzeichnet werden. So habe ich überwiegend auch die Kritik am Film gelesen.

  • Ich unterstütze die taz nun schon seit einiger Zeit finanziell und schätze sehr, dass Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Dennoch bin ich hier enttäuscht.

    Die Kritik am Film generell als Shitstorm abzutun gleicht der Abwehrhaltung, die fast alle etablierten Medien schon 2018 an den Tag legten. Es wurde bereits damals kolportiert, bei den Kritikern handle es sich um hysterische Mütter, die den Film nicht gesehen hätten. Diese Behauptung wurde auch nicht zurückgenommen, als sich Fachleute und Verbände, wie zum Beispiel der Kinderschutzbund ebenfalls sehr kritisch äußerten. Kurzum, eine Diskussion wurde nicht zugelassen.

    Als Organisator der damaligen Demonstration "Für eine gewaltfreie Kindheit" (also weder gegen Film noch gegen die Klinik), suchte ich vorab mehrfach das Gespräch mit den anderen Beteiligten. Dies wurde jedoch nie beantwortet, weder von der Klinik, dem Filmteam, noch von der Süddeutschen Zeitung, die dem Film in der Rezension bescheinigte "Für jeden, der selbst Kinder hat, ist der Film ein Muss." Und so wurde auch ich nur eine hysterische Mutter.

    Es geht nicht darum, dass der Film gemacht oder ausgestrahlt wurde, es geht um den fehlenden Kontext. Es geht eben darum, dass nicht eingeordnet wird, was in der Klinik geschieht. Es ist unbestritten, dass Menschen in Not geholfen werden muss. Hier wird jedoch nicht nur so getan, als seien die gezeigten Methoden alternativlos, sondern allein durch den Titel und die Bewerbung mit dem "Muss" für jeden, der selbst Kinder hat, wird so suggeriert, das seien generell geeignete Mittel, nicht nur in Extremsituationen.

    Auch die Bitte an die ARD, dem Film eine Diskussion vor- oder nachzuschalten wurden nicht beantwortet.

    Sollte es mal einen Film geben, der "Flüchtlingsschule" heißt und die Arbeit der libyschen Küstenwache unkommentiert zur "Diskussion" stellt, bin ich auf Ihr Urteil gespannt.

    Ich bin keine hysterische Mutter, nur ein müder Vater.

  • einen spielfim mit einer doku vergleichen, ok, ksnn man machen, aber: aepfel und birnen. die gelsenkirchner klinik ist nicht erst seit diesem film in verruf geraten. und kritisiert wird zunaechst mal die klinik und dann die kritiklose darstellung in dem film. das sollte man schon praesent haben, wenn man kommentieren moechte.

  • Kritik seitens Expert*innen einfach als shitstorm abtun ist übrigens eine dieser einfachen Antworten auf komplexe Fragen, mit denen sich die kritisierenden Stimmen im Gegensatz zum Dokumentarfilmer (keine Einordnung/Kommentierung) auseinander setzen.

    Um ehrlich zu sein, erwarte ich gerade von der taz einen ausgewogeneren Artikel, der auch die Beiträge auf Twitter und Facebook von betroffenen Menschen betrachtet, die durch diese Behandlung mussten.



    (Die übrigens auch bei Neurodermitis angewendet wurde, was eine Volkskrankheit und kein 'schwerster Fall der Realität' ist)