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Debatte um die RenteMit 69 noch Pakete schleppen?

Barbara Dribbusch

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Barbara Dribbusch

Die Rentenkommission spricht über ein höheres Renteneintrittsalter. Berufe in „schwerer“ und „leichter“ einzuteilen, wie manche wünschen, ist heikel.

Den Paketboten zu fragen, wie lange er den Job durchhalten kann – das wagt man derzeit nicht Foto: Michael Buholzer/keystone/picture alliance

J etzt zur Weihnachtszeit spürt man als Kundin ein diffuses Schuldgefühl. Wenn der Zusteller kommt, hat er sich schon durch den Stadtverkehr gekämpft, auf dem Weg zu den 150 Haushalten pro Schicht, er ist schwer beladen. Paketboten gehören zu den Jobs, von denen sich niemand vorstellen kann, ihn noch mit 69 zu machen. In der Rentenkommission der Bundesregierung, die demnächst über Reformen in der Alterssicherung berät, wird indes darüber gesprochen, mittelfristig das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Aber wer könnte überhaupt bis 69 arbeiten? Die Ungerechtigkeiten liegen doch jetzt schon auf der Hand: Wer in verschleißenden Jobs ackert, verdient schlechter, lebt kürzer, hat also weniger Rentenjahre vor sich.

Der Arbeitswissenschaftler Hans Martin Hasselhorn von der Universität Wuppertal berichtet, dass Menschen in armutsgefährdeten Haushalten mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens im Alter von 65 Jahren eine niedrigere Lebenserwartung haben als wohlhabende Menschen, die über 150 Prozent des mittleren Einkommens verfügen: bei den Frauen sind es 3,7 Jahre weniger, bei den Männern sogar 6,6 Jahre. Würde man die Regelaltersgrenze für alle auf das 70. Lebensjahr anheben, würden sich diese Unterschiede weiter vergrößern, sagt Hasselhorn im Gespräch mit der taz.

Leute, die in körperlich belastenden Jobs arbeiten, bauen im höheren Erwerbsalter eher gesundheitlich ab, während dies bei Menschen in geistiger Tätigkeit weniger der Fall ist, hat der Arbeitswissenschaftler festgestellt. Aber wie kann man politisch mit diesen Ungerechtigkeiten umgehen, die sich verschärfen werden, wenn die Ausweitung der Erwerbsphase auf der politischen Agenda steht?

Theoretisch denkbar wäre, nach „schwerer“ und „leichter“ Arbeit zu differenzieren und entsprechend frühere Renteneintritte zu gewähren. „Es wäre nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen möglich, eine Liste besonders belastender Tätigkeiten zu erstellen“, sagt Hasselhorn, der auch lange als Betriebsarzt gearbeitet hat. In vielen Ländern gibt es solche Differenzierungen. So gilt beispielsweise Nachtarbeit in Kombination mit körperlich fordernder Tätigkeit und hoher Lärm-, Kälte- oder Hitzeexposition als sehr belastend.

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Auch der „psychische Stress“ spiele bei der Belastungsbeurteilung laut Hasselhorn eine Rolle. Der Lehrerberuf beispielsweise sei deswegen so aufreibend, weil die Päd­ago­g:in­nen immer volle Präsenz zeigen müssten vor einer oft unwilligen Klasse und sich nicht wegducken könnten. In der Pflege komme schließlich alles zusammen: körperlich schwere Arbeit, zu viele Patient:innen, Schichtbetrieb, bei vielen ständige berufliche Erreichbarkeit in der Freizeit.

Hängen die Belastbarkeiten nicht von vielen individuellen gesundheitlichen Faktoren der Ar­beit­neh­me­r:in­nen ab?

Aber es ist heikel, eine Liste der sehr belastenden Jobs zusammenzustellen und daraus einen Anspruch auf einen frühen Renteneintritt abzuleiten. Was, wenn jemand im Laufe seines Berufslebens die Tätigkeiten wechselt? Wenn er oder sie in Teilzeit arbeitet? Wenn die Pflegefachkraft als Pflegedienstleiterin vor allem mit Verwaltungskram beschäftigt ist? Und überhaupt: Hängen die Belastbarkeiten nicht von vielen individuellen gesundheitlichen Faktoren der Ar­beit­neh­me­r:in­nen ab und können gar nicht pauschaliert werden?

In Österreich gibt es seit vielen Jahren die „Schwerarbeitspension, bei der unter anderem auf den Kalorienverbrauch durch die Tätigkeit geschaut wird, um belastende Berufe zu bestimmen. Erst seit 2026 wurde dort die Pflege in den Katalog der Schwer­ar­bei­te­r:in­nen aufgenommen. Wer die Schwerarbeitspension, also einen früheren Renteneintritt, haben will, muss allerdings vorher 45 Jahre in die Sozialversicherung eingezahlt haben und mindestens 10 Jahre davon „Schwerarbeit“ geleistet haben. Das schaffen die meisten nicht, die Zugangszahlen sind relativ gering.

Der Sozialwissenschaftler Martin Brussig vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich seit Jahren mit den Übergängen in die Rente. Er hält es für „sehr schwer“, die besonders belastenden Berufe zu bestimmen. Nicht, weil das arbeitswissenschaftlich nicht möglich wäre. Sondern „weil es politisch und nicht arbeitswissenschaftlich entschieden würde“, sagt Brussig im Gespräch mit der taz. „Da kommen dann sofort Interessen ins Spiel, die Gewerkschaften werden für ihre Beschäftigtengruppen argumentieren, da wird man sich kaum einigen können.“

Frühere Berufsunfähigkeit

Eine Lösung des Problems sieht Brussig darin, den Menschen aus belastenden Tätigkeiten, die das 60. Lebensjahr überschritten haben und ihre bisherige Arbeit nicht mehr machen können, künftig eine Berufsunfähigkeit mit vorzeitigem Renteneintritt zuzugestehen. Das wäre anders als die geltende Erwerbsminderungsrente, die man nur bekommt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, überhaupt noch zu arbeiten.

Die Berufsunfähigkeit für den bisherigen Job „müsste durch arbeitsmedizinische Gutachten individuell festgestellt werden,“ sagt Brussig. Das Vorhaben erinnert an Rentenvorschläge der Grünen, die jetzige Rente mit 63 zu reformieren, und zwar so, dass „Menschen, die tatsächlich krank sind oder nicht mehr arbeiten können, ohne Abschläge früher in Rente gehen können“, erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andreas Audretsch der taz.

Es gäbe weitere Alternativen. Hochbelastete Ar­beit­neh­me­r:in­nen könnten ihre Wochenstunden in den Jahren vor der Rente reduzieren und der Staat kann die Rentenbeiträge so aufstocken, als hätten sie bis zum Renteneintritt zu 100 Prozent gearbeitet. Ähnliche Modelle gibt es im „Generatiepact“ der Metallindustrie in den Niederlanden.

Ob sich die Politik an eine Debatte über die Ungerechtigkeiten in Arbeitsbelastung und Rentenanspruch überhaupt heranwagt, ist die entscheidende Frage. Den Paketboten zu fragen, wie lange er den Job durchhalten kann – das wagt man derzeit nicht. Während man selbst vermutlich kaum eine einzige Schicht schaffen würde.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch). Kontakt: dribbusch@taz.de
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