Debatte um Kinderaufbewahrung: Hauptsache betreut?
In Bremen fehlen Hunderte von Kitaplätzen, aber auch anderswo ist die Betreuung alles andere als gut. Behörden und Eltern nehmen das in Kauf, denn: Die Kinder müssen weg
In Niedersachsen soll die Kindertagesbetreuung nichts mehr kosten. Das versprach vor zwei Wochen Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil für den Fall, dass die SPD nächstes Jahr weiterregieren wird. Er begründete sein Wahlversprechen unter anderem damit, die „Barrieren vor der ersten Stufe unseres Bildungssystems absenken“ zu wollen, wie er auf seiner Homepage schreibt. „Frühkindliche Förderung ist entscheidend für die weitere Entwicklung, das belegen unzählige Studien.“
Offensichtlich traut er Eltern nicht zu, ihre Kinder selbst zu fördern. Oder nicht in der Weise, die er für richtig hält. Dabei ist Weil bei Weitem nicht der einzige, der so denkt. Die Vorstellung, dass es für manche Kinder besser sei, wenn sie möglichst wenig Zeit mit ihren Eltern verbringen, ist nicht nur unter Sozialdemokraten weit verbreitet.
Gemeint sind damit vor allem die Familien, die nicht schon seit Generationen in Deutschland leben. So wünschte sich vor zwei Jahren der Bremer Senat, den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, vor allem der Ein- bis Dreijährigen, in der Kindertagesbetreuung zu erhöhen.
Einwanderer meiden die Krippen
Diese Kinder besuchen seltener eine Tageseinrichtung als die ohne Zuwanderungsgeschichte. Wie viel weniger, weiß niemand so ganz genau, weil die verfügbaren Statistiken nur eine begrenzte Aussagekraft haben. Laut Statistischem Bundesamt gingen im Jahr 2015 in Niedersachsen fast alle Drei- bis Sechsjährigen, deren Eltern in Deutschland geboren sind, in den Kindergarten – und nur 77 Prozent derjenigen mit Migrationshintergrund. Ganz ähnlich sieht es in Schleswig-Holstein aus. Das ist in beiden Ländern sogar noch weniger als der Bundesdurchschnitt, der bei 90 Prozent liegt. Die noch kleineren Kinder aus Migrationsfamilien werden noch seltener in die Krippe geschickt: In Niedersachsen sind es nur 15 Prozent, in Schleswig-Holstein so viele wie im Bundesdurchschnitt: 22 Prozent.
Für Hamburg und Bremen fehlen vergleichbare Werte in der Bundesstatistik, aber die Stadtstaaten haben eigene Berechnungen aufgestellt, denen zufolge auch dort deutsch-deutsche Eltern ihre Kinder häufiger in Kindertageseinrichtungen unterbringen als solche, deren Vorfahren in jüngerer Zeit eingewandert sind.
Dass allerdings das Geld die entscheidende Rolle spielt, ob Eltern ihre Kinder Fremden anvertrauen, ist ein Gerücht. Eine Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration kam 2013 zu dem Ergebnis, dass die Barrieren nicht finanzieller, sondern „qualitativer und interkultureller“ Natur sind. Das heißt: Sie haben sich noch nicht an eine Gesellschaft angepasst, in der von Eltern erwartet wird, schon Einjährige wegzugeben und keine hohen Ansprüche an die Betreuung zu stellen.
Aber was sollen Parteien, die gewählt werden wollen, auch machen? Verraten, dass so ein Wahlversprechen wie das von Weil – oder vor sechs Jahren von Olaf Scholz (SPD) in Hamburg – in erster Linie der Mittelschicht zugute kommt? Die muss, abhängig von Wohnort und Einkommen, auch mal 400 Euro im Monat zahlen. Während Familien ohne Geld in den meisten Kommunen ohnehin von der Beitragspflicht ausgenommen sind oder die Kosten vom Amt übernommen werden.
Nee, lieber davon sprechen, dass so die Bildungschancen erhöht werden. Warum dazu der Kindergartenbesuch notwendig sein soll und Kinder nicht gemeinsam mit ihren Eltern Deutsch lernen können, wird nicht erklärt. Weil das, was früher verpönt war – die Fremdbetreuung –, heute als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Überall fehlen Plätze – außer in Hamburg
Dabei kann man angesichts der teilweise desolaten Lage in den meisten Bundesländern berechtigte Zweifel daran haben, dass es den Kindern im Kindergarten zwangsläufig besser geht als zu Hause. Es fehlen überall ErzieherInnen und – außer in Hamburg – auch Plätze.
Bremen schießt in dieser Hinsicht gerade den Vogel ab. Weil die Behörden versäumt haben, rechtzeitig neue Kindergärten zu bauen, stehen derzeit die Eltern von 750 Kindern ohne Betreuungsplatz da, weitere 950 haben sich damit abgefunden, dass sie auf neues Glück nach den Sommerferien hoffen müssen. Dann sollen 1.000 Drei- bis Sechsjährige und 350 Ein- bis Dreijährige in Containern untergebracht werden.
Weil auch das nicht reicht, befürchten Opposition und Elternvertreter, dass die Gruppen noch einmal vergrößert werden. Dabei betreuen in Bremen bereits jetzt Erzieherinnen mehr Kinder als sie selbst für vertretbar halten. Wahrscheinlich geht es gar nicht anders, denn Container kann man unendlich viele aufstellen, aber pädagogische Fachkräfte sind Mangelware. Mittlerweile nicht nur in Süddeutschland, wo das Problem schon länger bekannt ist, sondern auch im Norden. 780 zusätzliche Vollzeitstellen braucht etwa Bremen bis zum Jahr 2020, hat der Senat ausgerechnet.
Bremen lässt Kitas verrotten
In den anderen Bundesländern sieht es nicht viel besser aus. Hamburg schafft es dank einer flexiblen und dezentralen Planung, allen Kindern einen Betreuungsplatz anzubieten, und das in der Regel wohnortnah. Auch befinden sich die Kindertageseinrichtungen in Hamburg in einer echten Konkurrenz zueinander, was auch dazu führt, dass Gebäude regelmäßig saniert werden und an die Bedürfnisse von kleinen Kindern angepasst werden. Anders als etwa in Bremen, wo einige städtische Kindergärten regelrecht verrotten.
Aber für alle Bundesländer gilt, dass die behördlichen Vorschriften für Gebäude und Betreuungsschlüssel nicht pädagogisch begründet sind, sondern finanziellen Zwängen folgen. Eine reiche Kommune ist dabei noch kein Garant für einen guten Betreuungsschlüssel, wie Hamburg zeigt. Weil die Versorgungsquote so hoch ist und das Land fünf Stunden täglich kostenlos anbietet, wird beim Personal gespart.
Laut dem Ländermonitor der Bertelsmann-Stiftung hat sich der Personalschlüssel in Hamburg zwischen 2012 und 2015 im Bundesvergleich mit am stärksten verbessert. Aber in keinem der norddeutschen Bundesländer wird ein Betreuungsverhältnis erreicht, das KindheitsexpertInnen für notwendig halten.
Idealerweise sollte sich eine Erzieherin um maximal drei Kleinkinder zwischen ein und drei Jahren kümmern müssen. Laut dem Bertelsmann-Ländermonitor schafft Bremen das knapp, aber die Daten, mit denen die Stiftung arbeitet, sind rechnerische Größen zum Personaleinsatz und keine Umfrage-Ergebnisse zum Krippenalltag. Erlaubt ist in Bremen eine Betreuerin für fünf Kleinkinder – und das wird auch eingehalten. In Hamburg sind es laut der Bertelsmann-Stiftung ebenfalls fünf. Für Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat die Stiftung einen etwas besseren Schlüssel als Hamburg errechnet – aber ob der wirklich eingehalten wird, hängt von der Kommune ab, in der sich die Einrichtung befindet. Das Gesetz in Niedersachsen lässt ebenfalls fünf Kleinkinder und eine Erzieherin zu.
Empfohlene Relation
Bei den älteren Kindern, den Drei- bis Sechsjährigen, sieht es ähnlich aus. Empfohlen wird eine Relation von 1:7,5 – eingehalten wird das nur in Bremen. Glaubt die Bertelsmann-Stiftung. Tatsächlich darf aber eine Erzieherin in Bremen bis zu 20 Kinder betreuen – auch wenn in der Realität den überwiegenden Teil des Tages zwei anwesend sind.
Wie viele Kinder sich in einer Gruppe um eine Erzieherin drängeln, von ihr wahr genommen, gewickelt und getröstet werden wollen: Das ist kein Zahlenspiel, sondern das entscheidende Kriterium, wenn es darum geht, die Qualität der sogenannten frühkindlichen Bildung zu messen. Denn gut entwickeln können sich Kinder nur dann, wenn sie sich sicher aufgehoben fühlen.
Angst vor der Schublade
Wer behauptet, dass es für Kinder besser ist, sich über die Hälfte des Tages nicht zu Hause aufzuhalten und wie Niedersachsens Ministerpräsident Weil „unzählige Studien“ als Beleg aufführt, der sollte dazu erwähnen, dass dieselben Studien auch noch etwas anderes sagen: Das gilt nur für Fremdbetreuung, die qualitativ hochwertig ist. Ist sie es nicht, dann kann sie die Entwicklung beeinträchtigen. Und: je jünger die Kinder, desto größer der Schaden.
Darüber wird selten gesprochen, aus Angst davor, mit den Herdprämien-Befürwortern von der CSU in eine Schublade gesteckt zu werden. Viel fortschrittlicher klingt es dagegen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fordern – auch Stephan Weil tut dies in seinem aktuellen Vorstoß. Das sei vor allem für Frauen ein Problem, sagt er. Stimmt.
Und das bleibt es auch. Eine Ausweitung der Kindertagesbetreuung führt nämlich nicht dazu, dass Väter vermehrt in Teilzeit arbeiten. Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet: Nach der Arbeit in den Kindergarten hetzen. Wer sieht nach, ob genügend Ersatzklamotten in der Kita parat liegen und sammelt Geld ein für ein Geburtstagsgeschenk für den Erzieher? Nach wie vor arbeiten Frauen weniger als Männer, mit allen bekannten Folgen. Und das unabhängig davon, ob sie alleinerziehend sind oder nicht.
Und wie reagiert die Gesellschaft auf dieses Problem? Dann müssen die Kindergärten eben länger geöffnet sein, nicht „schon“ um 16 oder 17 Uhr schließen und für Schichtarbeiterinnen braucht es eine 24-Stunden-Kita! Ja, es braucht sie wirklich – aber nur, weil nicht über Alternativen nachgedacht wird.
Stattdessen geht es um mehr Betreuung, längere Zeiten, für immer jüngere Kinder und für möglichst viele von ihnen. Die Arbeitgeber sind glücklich. Und die Familien? Wie wäre es damit anzuerkennen, dass manche Eltern gern Zeit mit ihren Kindern verbringen? Klar, wer den ganzen Tag allein mit einem Kind ist, dem oder besser der fällt die Decke auf den Kopf. Und dem Kind erst.
Es gibt Beispiele, wo sich Eltern zusammentun und immer eine Mutter oder ein Vater auf zwei oder mehrere Kinder aufpasst. Solche Modelle könnte der Staat auch finanziell unterstützen, genau so, wie er die 43.470 Tagespflegepersonen bezahlt, von denen laut statistischem Bundesamt nicht einmal ein Drittel eine pädagogische Ausbildung durchlaufen hat. Von wegen frühkindliche Bildung, die es nur außerhalb der Familie gibt.
Unterschichts-Kinder beglücken
Was genau es mit dieser frühkindlichen Bildung auf sich hat, können wahrscheinlich die wenigsten erklären, die sich dafür einsetzen, dass auch Unterschichtskinder damit beglückt werden. Klingt nach ersten Kontakten zu Buchstaben und Zahlen und Experimenten mit Wasser und Schwerkraft. Als solche missverstehen es auch manche Kindergärten, wie die Münchner Professorin für Frühpädagogik Fabienne Becker-Stoll in einem Interview mit der Zeit erzählte. Da präsentierte ihr eine teure private, mehrsprachige Einrichtung mit überdurchschnittlich gutem Personalschlüssel ihre naturwissenschaftliche Bildung – und ignorierte zum Entsetzen der Forschergruppe die Bedürfnisse der Kinder nach Zuwendung und Kontakt.
Das ist mit Sicherheit ein extremes Beispiel. Es gibt viele sehr gute Einrichtungen und hoch engagierte Erzieher und Erzieherinnen. Und solche, die eine ganz ordentliche Arbeit machen, wo sich Schaden und Nutzen die Waage halten. Das Problem ist, dass es wenig Möglichkeiten gibt, auf die Qualität Einfluss zu nehmen. Behörden – das zeigte gerade eine Anfrage der taz beim Bremer Landesjugendamt – haben kaum Einblick in das, was vor Ort geschieht. Auch Eltern gucken häufig lieber nicht so genau hin, aus Sorge, am Ende ohne Betreuungsplatz da zu stehen.
Ihre Kinder machen es ihnen leicht, weil sie sich auch an die widrigsten Umstände anpassen. Enge Räume ohne Schallisolierung? Mittagessen mit 60 anderen Kindern? Keine Möglichkeit für einen Mittagsschlaf? Erzieherinnen, die sie zwingen, ein Essen zu probieren, das nicht schmeckt? Oder die keine Zeit zum Vorlesen haben, weil sie drei Kinder wickeln müssen, während sie noch einen Streit schlichten?
Macht alles nichts. Die wenigsten Kinder reagieren darauf mit einem Verhalten, das es Eltern unmöglich macht, sie weiter in den Kindergarten zu bringen. Kinder haben keine Wahl, weil sie abhängig von den Erwachsenen sind und sich um ihres Überlebens willen nach ihnen richten. Deshalb kann man besorgten Eltern auch so leicht raten, sich nicht so anzustellen.
Dies ist kein Plädoyer gegen Kindergärten. Dieser Artikel kann nur geschrieben werden, weil es sie gibt. Aber wer den Segen der frühkindlichen Bildung preist, soll auch ehrlich sein und sagen, dass sie sehr viel mehr Geld kostet als derzeit ausgegeben wird. Weil mehr und besser qualifizierte Erzieher und Erzieherinnen eingestellt werden müssen und das nur geht, wenn sie so bezahlt werden, wie es den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, angemessen wäre.
Eltern, die sich über Wahlgeschenke freuen, könnten noch einmal darüber nachdenken, ob ihnen das nicht erst mal wichtiger ist.
Lesen Sie mehr in der gedruckten taz.am wochenende: Schwerpunkt SEITE 43-45
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül