Debatte um Identitätspolitik: Deal with it
„Bürgerliche Medien“ bekommen wegen deren Debatte zur Identitätspolitik den Negativpreis „Goldene Kartoffel“ – auch die taz.
In Jörg Fausers Roman „Rohstoff“ bekommt der rebellische Jungdichter Harry Gelb Anfang der 1970er Jahre in Frankfurt am Main einen lukrativen Schreibauftrag. Er soll für das neu eröffnete Musikcafé Zero ein „Kommuniqué“ verfassen, „die Leute müssen wissen, dass es uns gibt“.
Harry macht sich an die Arbeit, das Resultat enttäuscht aber seine Auftraggeber. „Oh nein, oh nein, das ist viel zu politisch.“ Und: „Warum bist du denn so aggressiv, Harry? Willst du, dass die Stadt uns zumacht?“ Da fällt bei Harry der Groschen, und er schreibt noch mal neu unter dem von Timothy Leary geliehenen Titel „Die Revolution ist vorbei – Wir haben gewonnen“. Dafür bekommt er Lob und einen doppelten Bacardi.
Es gehört zu den Eigenheiten der 68er-Revolte, dass sie von ihren Zielen praktisch alle erreicht hat, nur nicht das, womit sie zentral angetreten war: die Überwindung des Kapitalismus beziehungsweise des bürgerlichen Schweinesystems. Dass wir heute mit den zahlreichen identitätspolitischen Bewegungen von MeToo bis Black Lives Matter ein neues 68 erleben, ist inzwischen so oft gesagt worden, dass wir vielleicht noch mal drüber nachdenken sollten, was an dieser Analogie wirklich stimmt.
Tatsache ist, dass sich die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren zumindest in ihrer Rhetorik und in der Auswahl der Themen, die überhaupt öffentlich verhandelt werden, so sehr verändert haben, dass den alten weißen Männern (AWM) – die selbstverständlich weder Männer noch weiß, noch alt sein müssen – tatsächlich nichts mehr einfällt, als etwa die stockstrukturkonservative Bundesrepublik einen „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ zu nennen.
Bei Freddy Quinn war 1966 der Inhalt seines Antijugendgassenhauers „Wir“ zwar genauso dumpf wie Mathias Döpfners aktuelle Einlassungen, aber es klang wenigstens schön. Die smarteren AWMs hingegen fordern heute wie einst zum Dialog mit der rebellischen Jugend auf und warnen vor der Spaltung der Gesellschaft. Damit warnen sie vor nichts anderem als vor Politik selbst. Deren Kern ist Spaltung, das Sezieren von Interessen und Machtverhältnissen sowie der Kampf für ein besseres und gerechtes Leben für alle. Wer vorwurfsvoll von Spaltung der Gesellschaft redet, outet sich also als konservativ; und wie ließe sich das seit jeher besser verbergen als dadurch, dass man sich selbst als letzten wahren Linken abfeierte?
Den Beharrungswillen, der der anti-identitätspolitischen Warnung vor gesellschaftlicher Spaltung innewohnt, hat die US-Autorin Joan Didion bereits 1992 analysiert; Bill Clintons damals verkündetes „Bekenntnis zur Mitte“ schließe laut Didion die Absage ein, die Interessen der Armen und der Minderheiten zu vertreten, wie es sehr lang Kernaufgabe der Demokraten gewesen sei.
Aber Deutschland ist langsam und Provinz, kein todbringender Dieselskandal und kein Bunga-Bunga bei Springer wird hierzulande aufgedeckt ohne die Hilfe des amerikanischen Freundes – und da haben wir von der Befreiung vom Faschismus noch gar nicht gesprochen. „Kein Wort“, schreibt Didion, sei auf dem Parteitag der Demokraten über diese ehemalige Kernwählerschaft verloren worden; so wie bei den aktuellen Gesprächen zur Regierungsbildung in Deutschland kein Wort verloren wurde über den Kampf gegen Rassismus, bewaffneten Rechtsextremismus und Polizeigewalt.
Bei der Mehrheitsfindung spielen diese Themen keine Rolle; so, wie es für die Mehrheit keine Rolle spielt, dass die Schriftstellerin Jasmina Kuhnke nicht auf die Buchmesse kommen kann, weil sie dort Nazis bedrohen. Klar, ein paar Autorinnen solidarisieren sich mit ihr, aber der Betrieb läuft ungerührt weiter. Wer mit sexualisierter Gewalt konfrontiert ist, bekam von der anti-identitätspolitischen Internationalen einst den Rat: Dann mach doch die Bluse zu. Wer sich einer spezifisch rassistischen Bedrohung nicht aussetzen möchte, der wird gesagt: Dein Problem.
Das ist nicht ausschließlich schlecht – auch weil es vielleicht tatsächlich andere, kollektive Widerstandsformen zu etablieren gälte. Vor allem aber ist es die Realität. Die identitätspolitische Bewegung ist, wie die Revolte von 68, eine Jugend- und Elitebewegung. Allerdings waren die 68er als geburtenstarke Jahrgänge viele, die antirassistische, queerfeminstische, antiautoritäre Generation heute ist schon den nackten Zahlen nach in der Minderheit. Sie lebt und agiert unter der Herrschaft der Boomer und Alten.
Wenn nun neben anderen „bürgerlichen Medien“ auch die taz die Goldene Kartoffel 2021 „für die unterirdische Debatte über ‚Identitätspolitik‘ “ bekam, dann mussten die den Preis vergebenden Neuen deutschen Medienmacher*innen zwar einiges an Texten, die in der taz in den letzten Jahren erschienen sind, ausblenden – aber Recht haben sie trotzdem: Der Diskurs, der sich von den immer gleichen, tendenziell allerdings aggressiver werdenden AWM-Tiraden absetzt, hat offensichtlich das Bild nach außen nicht geprägt. Das ist die Lage – deal with it.
Im Deutschlandfunk wird gegendert, Konzerne geben sich divers und handeln oft sogar so, die Fenster sind wenigstens gekippt worden. Aber der erste große Impuls der emanzipatorischen Bewegung hat an Power verloren und trudelt jetzt wie ein Ballon durch eine gewohnt stickige Atmosphäre. Bei den 68ern endete die Selbsttäuschung mit der Integration in die sozialliberale Epoche, oft genug aber auch in Verzweiflung oder narzisstischem Terror. Doch die Geschichte muss sich nicht wiederholen. Wie Harry Gelb am Ende von „Rohstoff“, in die Gosse geworfen, resümiert: „Wenn das so ist, dachte ich, kannst du auch aufstehen.“
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