Debatte künstlerische Provokation: Das Recht auf Spinnerei
Die Freiheit der Rede, Meinung und Kunst darf nicht angetastet werden. Schmähungen prägen Diskurse – auch wenn sie misslingen.
Am 2. November 2004 ermordete Mohammed Bouyeri, ein religiöser Fanatiker, den Filmemacher Theo van Gogh. Mitten in Amsterdam, auf offener Straße. Van Goghs letzte Arbeit, ein Kurzfilm namens „Submission“, entstand nach einem Drehbuch der rechtsliberalen Politikerin Ayaan Hirsi Ali und handelte davon, wie muslimische Frauen unterdrückt werden.
Es war ein unsubtiler Film, eine jener Interventionen, bei denen die Sorge um Frauenrechte Gefahr läuft, als Vorwand zu dienen, damit man den Islam im Allgemeinen diskreditieren kann. Doch „Submission“ war nur ein Teil von van Goghs Werk, mit „Cool“ zum Beispiel hatte er einen zärtlichen Film über junge Holländer marokkanischer Herkunft gedreht, und es war alles andere als ausgemacht, ob er nun ein Provokateur im Dienste neurechter Positionen oder ein Trickster war, dessen Respektlosigkeit von einer progressiven Politik träumte.
Gut einen Monat nach dem Mord lud die Volksbühne in Berlin zu einer Veranstaltung, bei der Ausschnitte aus van Goghs Filmwerk präsentiert werden sollten. Flankierend gab es eine Podiumsdiskussion. Statt sich mit van Gogh, mit dessen Kolumnen, Filmen und Polemiken auseinanderzusetzen, sprachen die Teilnehmer der Diskussionsrunde in erster Linie über die wachsende Feindseligkeit gegen den Islam.
Voice-over der „Tagesthemen“
Das war durchaus klug, differenziert und informativ, und die Klage darüber, welche Wirkmächtigkeit ein Denken, das sauber zwischen „uns“ und „ihnen“ schied, gewann, hatte ihre Berechtigung (wie wirkmächtig dieses Denken heute noch ist, lässt sich an einem scheinbar unschuldigen „Tagesthemen“-Beitrag vom Mittwochabend erkennen.
Charlie-Hebdo-Karikaturen
Das Voice-over berichtet von islamistischen Gewalttaten, die Bilder dazu zeigen aber keine Gewalttaten, sondern Menschen beim Gebet: eine Text-Bild-Schere, die suggeriert, dass von Gläubigen eine Gefahr ausgehe). Dennoch erstaunte es mich damals in der Berliner Volksbühne, dass, obwohl die Veranstaltung einem brutal ermordeten Filmemacher gewidmet war, Empathie für diesen Filmemacher nur am Rande eine Rolle spielte. Mir schien es damals so, als würde der Mord mit einer gewissen Nonchalance zur Kenntnis genommen statt als das, was er war: ein verheerender Angriff auf die Freiheit der Rede, der Meinung und der Kunst.
Diese Freiheit ist aber nur dann etwas wert, so sie auch und besonders für Positionen gilt, die einem fremd und unlieb sind. Das ist ein Gemeinplatz; und es ist ein bisschen billig, es überhaupt zu betonen, weil man doch annehmen würde, dass dem niemand ernsthaft widersprechen wollte, außer denjenigen, die mit Schnellfeuerwaffen und einem Raketenwerfer in das Redaktionsgebäude einer Zeitung eindringen und dort Zeichner, Journalisten, Polizisten und zufällig Anwesende umbringen.
Und die (auch das ist ein Gemeinplatz) lassen sich von einem Plädoyer für die Freiheit des Wortes und der Kunst nicht berühren. Aber manchmal sind die Zeiten so, dass man das Selbstverständliche nicht oft genug wiederholen kann. Die Freiheit der Rede und der Kunst schließt Satire, irrwitzige Szenarien, Spinnereien, Geschmacklosigkeiten und brachiale Formen des Lächerlichmachens ein. Verheerend ist es, wenn diese Formen des Sprechens und Denkens eingeschränkt oder gar gestrichen werden, weil sich jemand davon beleidigt fühlen könnte.
Denn die Schmähung gehört zu dem, was der öffentliche Diskurs an Möglichkeiten bereithält, es gilt, sie auszuhalten oder ihr mit den Mitteln des Diskurses zu begegnen, auch wenn das schwerfällt. Gerade die zweite Option, die Antwort des Geschmähten, birgt etwas, was denjenigen, der beleidigend spricht, hart treffen kann: Denn die Beleidigung lässt sich als eine Form der Anrufung betrachten. Und eine Anrufung ist nötig, damit sich ein Subjekt überhaupt erst als solches konstituieren kann. Wer beleidigend angesprochen wird, rückt also in eine Position vor, von der aus er als Subjekt in Erscheinung treten kann: sprechend, parierend, seinerseits respektlos.
Jean Fisher und die „Trickster“-Theorie
Ob eine Grenzüberschreitung, eine derbe Parabel, eine verunglimpfende Karikatur scheitert oder glückt, darf nicht das Kriterium für ihr Recht zu existieren sein. Auch das, was missglückt, mag dazu führen, dass etwas entsteht, dessen Folgen im ersten Augenblick noch gar nicht abschätzbar sind. In einem Essay mit dem klingenden Titel „Zu einer Metaphysik der Scheiße“ beschreibt die Kunstkritikerin Jean Fisher eine Figur, die sie Trickster nennt und die mit ihren Provokationen und ihren Unflätigkeiten „mutwillig ein Rauschen erzeugt, um ein neues Beziehungsmuster ins Leben zu rufen“.
Die Funktion dieser Figur liege „nicht in der Konfliktlösung, sondern in der Entfaltung von Komplexität“. Eine Beleidigung räumt das Problem zwar nicht aus der Welt, aber sie öffnet möglicherweise einen neuen Raum, es zu diskutieren, und diesen Raum preiszugeben, ob aus vorauseilender Vorsicht oder aus Angst vor Terror, wäre fatal.
Sicherlich, dabei besteht das Risiko, dass sich Fronten verhärten, statt sich aufzulösen. Doch auch dieses Risiko meißelt nichts in Stein, denn selbst aus diskursiven Verhärtungen entsteht manchmal etwas Neues, Unerwartetes.
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