Debatte Zivilgesellschaft: Keine Angst vor dem Monster
Es tobt der Hass auf Feminismus, Migranten und auch gegen den Islam. Einer Gesellschaft im Zustand moralischer Panik hilft nur Vernunft.
D er Soziologe Stanley Cohen (1942–2013), den sein Lebensweg von Südafrika über Israel nach England führte und der sich, wo immer er war, für Vernunft, Toleranz und Menschenrechte einsetzte, ist heute ziemlich vergessen. Hierzulande ist nicht einmal sein grandioses Werk „Folk Devils and Moral Panics“ (1972) erschienen.
Die „moralische Panik“, die nach Cohens Modell periodisch in Gesellschaften wie unserer auftritt, ein kollektives Gefühl der Bedrohtheit, das in Aggression umschlägt, ist nicht ohne die Wirkung von Medien zu sehen. Sie sind vielleicht nicht Erzeuger, wohl aber Verstärker dessen, was Cohen die „Abweichungsverstärkungsspirale“ (Deviancy Amplification Spiral) nennt: In einer Gruppe von Menschen, die sich miteinander identifizieren, werden alle Elemente übersteigert und rituell beschworen, die sich als bedrohlich oder „anders“ darstellen. Der Mainstream gruppiert sich um die Abwehr des Abweichenden und kommt überein, Werte und Gebote außer Kraft zu setzen.
Im Zustand der moralischen Panik erlaubt sich die Gesellschaft passiv den Verzicht auf Solidarität, Nächstenliebe oder Toleranz und aktiv Hetze, Abwertung, schließlich Gewalt. Eine solche Panik kann sich in einer Straße ausbreiten, in der sich etwas „Abweichendes“ oder „Fremdes“ niederlässt; zum makrosozialen Ereignis aber wird sie nur durch mediale Verbreitung.
Warnung vor Rockern
1972 entwickelte Cohen sein Modell an der Reaktion auf die Auseinandersetzungen von Mods und Rockers in London. Jahre später erkannte man, wie sehr das Erscheinungsbild der Mods und Rockers und nicht zuletzt ihre Auseinandersetzungen untereinander ein Erzeugnis der Medien waren, die vor ihnen warnten. Das eigentliche Geschehen war in seinen sozialen Auswirkungen ungleich geringfügiger als die moralische Panik, die mithilfe von Zeitungen, Fernsehen und Illustriertenberichten ausgelöst worden war.
Moralische Panik-Attacken können wir seitdem gegenüber „Linken Chaoten“ und Hippies, gegenüber Feminismus und Queer Liberation, gegenüber Migranten und nun gegenüber dem Islam beobachten. Immer scheinen die sozialen Normen (in der entsprechenden Propaganda „Werte“) durch die Abweichungen in Gefahr, die dann konsequent übertrieben und zum Teil erst erzeugt werden. In der moralischen Panik werden Dinge, die die sozialen Normen verändern könnten, moralisch verdammt.
Wie Regierungen dann handeln, ist eigentlich das Dümmste und Destruktivste, was vorstellbar ist: Sie versprechen eine rigide Kontrolle des Abweichenden. In jeder Panik-Welle geht ein Stück Demokratie verloren. Möglicherweise ein für alle Mal.
In einer Abweichungsverstärkungsspirale wird jede Mahnung zu Augenmaß und Kritik als Verrat empfunden. Stattdessen entsteht eine Bereitschaft, selbst ernannten Führern und Experten zu folgen, die der moralischen Panik ein scheinrationales Gewand geben.
Einmal eingetreten, lässt sich die Panik wohl auch von jenen nicht mehr kontrollieren, die an ihrer Entstehung maßgeblich beteiligt waren. Es ist fast gleichgültig, wie die Medien über AfD, Pegida und Co berichten, die moralische Panik wird in jedem Fall verstärkt, und Schweigen oder Erinnerung an Konzepte von Vernunft und Demokratie sind keine Lösungen. Der Mechanismus einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ist in Gang gesetzt. Dann setzt ein, was Cohen in einem anderen Werk als „States of Denial“ charakterisiert, Techniken der Verleugnung und des Ausblendens, gerade des im Status der moralischen Panik begangenen Unrechts.
Offensichtlich häufen sich Anlässe zur Panik. Pegida, AfD und andere Nutznießer aktualisieren zwar reaktionäre Energien gegen Flüchtlinge und ihre „Unterstützer“, aber lassen genüsslich auch die „alten“ Themen wieder hochkochen: gegen Linke, Feministen, Schwule, Migranten.
Erst die Abweichungsverstärkungsspirale macht es möglich, dass Menschen auf das Leiden anderer so roh und blind reagieren, wie wir es augenblicklich bei einigen Zeitgenossen in Hinsicht auf das Flüchtlingselend erleben. Jene Rechte, die Abweichungsängste schüren, meinen stets mehr: die Abweichung als solche. Islamophobie, Homophobie, Xenophobie, Antisemitismus, Antifeminismus finden zu einem geschlossenen Weltbild zusammen, in dem aus Panik kalter Hass geworden ist.
Den Feind selbst erschaffen
Kein theoretisches Modell ohne Selbstreflexion: Könnte es sein, dass wir, VertreterInnen einer aufgeklärten, demokratischen Zivilgesellschaft, selber in den Zustand einer moralischen Panik angesichts der so offen antidemokratischen und menschenfeindlichen Reaktion geraten sind? Sind auch wir, so wie Pegida sich ihren Feind erschafft, an der Erzeugung des Monsters mit beteiligt? Die Gefahr besteht. Die Panik wirkt stets ansteckend; sie erfasst auch den passiven Mainstream und schließlich ihre Kritiker.
Dabei ist es entscheidend, furchtlos vernünftig zu bleiben. Aufklärung, Wissenschaft und Kritik haben der Zivilgesellschaft Möglichkeiten gegeben, sich selbst genügend zu verstehen, um nicht immer wieder denselben Spiralen anheimzufallen. Aber genau das geschieht derzeit. Die Gesellschaft versteht sich selbst nicht mehr, und ein Großteil will es auch gar nicht. Die Fremden sind dann nur noch die Sündenböcke dafür. Die größte und genaueste Kritik muss jenen PolitikerInnen, Medien und „Experten“ gelten, die sich die Panik zunutze machen und sie verstärken.
Im „State of Denial“ beschreibt Cohen Menschen, die Zeugen von Unrecht und Unmenschlichkeit wurden und es trotzdem vor sich und anderen leugnen. Es ist dieser Verdrängung des Unrechts geschuldet, wenn aus dem Zustand der moralischen Panik eine „Machtergreifung“ folgen kann. Oder eine seehoferistische Integration der Panik in den Mainstream. Oder eine schlichte Gewöhnung an Zustände, in denen sich Demokratie in moralische Panik als Dauererregung auflöst.
Jeder klare Gedanke tut jetzt gut. Und wenn man dafür zurückkehren muss zu Leuten wie Stanley Cohen, der übrigens ein eher milder Kritiker seiner Zeit war, unduldsam nur da, wo es um Opportunismus und Korruption ging.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“