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zur "strukturellen Gewalt" und vielen der Beispiele möchte ich widersprechen. Gewalt ist zunächst mal etwas völlig natürliches. Ohne die Zähmung durch Gesetze und Regel würde sich jeder nehmen, was er will, der Starke gewinnt immer und der Schwache muss hoffen, dass er einen noch schwächeren findet.
Das ist der "Naturzustand", der in modernen Gesellschaften mehr oder weniger abgemildert wird.
Die "strukturelle Gewalt" ist letztlich nur ein Misslingen der Milderung dieser Machtverhältnisse.
@Dr. McSchreck „Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“ (Johan Galtung)
@Rainer B. dann sind wir alle mehr oder weniger tagtäglich Opfer "struktureller Gewalt" und der schlimmste Gewalttäter von allen ist die Natur, die dem Menschen einfach nicht gehorchen will.
@Dr. McSchreck Ja, „mehr oder weniger“. Die „Natur“ als das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde, spielt in dieser Betrachtung überhaupt keine Rolle, schon allein deshalb, weil sie keine „vermeidbare Beeinträchtigung“ darstellt.
@Rainer B. natürlich ist die Natur eine "vermeidbare Beeinträchtigung". Ob Sie Behinderung nehmen oder unerfüllten Kinderwunsch, heute hat die Menschheit viele Hilfen erfunden, von der Natur geschaffene Beeinträchtigungen abzumildern. So dass man es durchaus als strukturelle Gewalt empfinden könnte, wenn einzelnen - z.B. Reichen -diese Mittel zur Verfügung stehen und anderen nicht.
Ihr letzter Satz trifft es ja schon ganz gut.
Was die „Natur“ angeht, sollten Sie sich aber erst einmal selber Klarheit darüber verschaffen, ob das jetzt eine Gewalt ist, „die dem Menschen einfach nicht gehorchen will“, oder ob es eine „vermeidbare Beeinträchtigung“ ist.
Beides geht miteinander einher. Die Natur schafft ständig neue Ungleichheiten, die der Mensch in Ansätzen auszugleichen versucht, dabei aber immer unvollkommen bleiben muss. Allein schon, weil international riesige Unterschiede bestehen, wenn man zB das Beispiel "Behinderung" nimmt: wo hier versucht wird, volle Teilhabe zu ermöglichen, ist man in anderen Ländern froh, wenn die Leute wenigstens Krücken kriegen, nachdem ihnen die Beine amputiert wurden.
Mit anderen Worten gilt weiter das, was ich in allen Beiträgen schrieb: alles, was der Mensch an Gleichheit herstellt, ist eine Abmilderung des Naturzustandes. Und weil der Mensch fehlbar und weit entfernt von der Macht eines Gottes ist, wird dieses Werk auch immer unvollkommen bleiben.
Ich sehe daher weiter nicht, wieso es ein Recht auf Gewalt geben sollte, weil es nicht gelingt, jede Ungleichheit zu beseitigen. Im Gegenteil ist es ein Grund dankbar zu sein für jeden von Natur her eher Schwachen, wenn ihm aufgrund der sozialen Grundlagen unserer menschlichen Gesellschaft vieles ermöglicht wird, was ihm in einer rauen "jeder-gegen-jeden"-Welt versagt bliebe. Leider gibt es ja Regionen der Welt, wo man die andere Variante - der Mensch ist des Menschen Wolf - besichtigen könnte.
@Dr. McSchreck Bei „struktureller Gewalt“ geht es aber genau nicht um Ungleichheiten, die die Natur geschaffen hat, sondern um Ungleichheiten, die der Mensch zum Nachteil anderer Menschen schafft. Von einem „Recht auf strukturelle Gewalt“ war nie die Rede und kann auch gar keine Rede sein.
nein, es war von einem "Recht auf Widerstand gegen strukturelle Gewalt" die Rede.
Zu Ungleichheiten, die der Mensch schafft, kann man durchaus zählen, dass Menschen in Europa viel mehr Hilfe in "naturbedingten" Notlagen bekommen als anderswo. Die Frage der Abmilderung von Härten ist also sehr "menschgemacht", weil die Mittel endlich sind und der Staat also immer Prioritäten setzt, wofür er das Geld einsetzt.
Damit wäre jeder, der der Meinung ist, bei diesen Prioritäten mit seinen Problemen nicht ausreichend beachtet worden zu sein, zur Gewalt berechtigt.
@Dr. McSchreck Wenn es sich um vermeidbare Beeinträchtigungen grundlegender menschlicher Bedürfnisse des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist, handelt, dann wird strukturelle Gewalt ausgeübt. Und Gewalt führt, wenn sie nicht konstruktiv überwunden werden kann, in aller Regel früher oder später zu Gegengewalt.
wir drehen uns etwas im Kreise, daher zum Schluss von mir: ein jeder Mensch ist dann Opfer von struktureller Gewalt, denn theoretisch wäre es immer möglich, dass die Gesellschaft mehr auf seine Bedürfnisse eingeht und bei anderen etwas mehr spart.
Die Frage ist für die Herrschenden, wie sie die Ressourcen verteilen. Das ist aber eben immer Mangelverteilung. Das sage ich und das haben Sie bisher nicht wirklich widerlegen könen, falls Sie es überhaupt so verstanden haben, wie ich es meine.
Nöö. Strukturelle Gewalt entsteht aus politisch gewollter Ungleichheit und davon ist nie „jeder Mensch“ betroffen.
Wenn es z.B. Wassermangel gibt, weil es nicht genug regnet, so trifft das in regenarmen Gebieten zunächst einmal alle gleichermaßen. Das nennt man Naturgewalt.
Gibt es Wassermangel, weil ein großer Staudamm gebaut wurde und die Flüsse unterhalb vertrocknen, so ist das strukturelle Gewalt für all die, die davon negativ betroffen werden. Capice?
@Dr. McSchreck "Naturzustand" ist eine Fiktion aus der physiokratischen Aufklärung. Natürlich für den Menschen ist das Agieren in kooperierenden sozialen Gruppen.
erzählen Sie das mal den Leuten in "failed states" wie augenblicklich Somalia. Natürlich ist man in der Gruppe stärker als allein, aber dann konkurrieren Gruppen untereinander nach den Regeln des Rechts des Stärkeren.
Daran, dass "der Staat" bzw. "die Gesellschaft" das wilde, gewaltbereite nur zähmt, ändert sich dadurch nichts.
Gewaltige "Parteifreunde"
Auch Arbeitslosigkeit ist eine Form von Gewalt!
Das wird leider oft verharmlost.
Und auch in den hiesigen politischen Parteien herrscht Gewalt. Da gibt es das übliche Hauen und Stechen zwischen den "Parteifreunden". Wie heisst die Steigerung von Feind? Feind - Todfeind - Parteifreund.
...
Gewalt ist nicht zuletzt der schmutzige Blindfleck des Neoliberalismus. Da haben die Libertären ihren perfekten Markt mit seinen effizienten Gleichgewichten, den Tauschverhältnissen und Verträgen, alles ganz mathematisch, steril und vornehm und ohne igitten Staat natürlich. Aber irgendjemand muss nunmal den säumigen Mieter aus seiner Wohnung prügeln, den Bankrotteur aus seinem Hypotheken-haus, jemand muss mit der Waffe in der Hand
@kleyrar ...die Luxuswaren und Konsumträume vor den frustrierten Habenichtsen schützen.
Der beste taz-Artikel seit langem. Er bestätigt auch meine Wahrnehmung, wie ich sie an anderer Stelle hier mehrfach zum Ausdruck gebracht habe - „Gewalt ist die Norm, nicht das Extrem“.
Da und nur da, wo sichtbar Blut fließt, wird Gewalt bewußt wahrgenommen und stellt sich sofort „Abscheu“, „Entsetzen“, „Betroffenheit“ und „wehrhafter“ Aktionismus ein. Der politisch gewollte Entzug der Lebensgrundlagen ganzer Bevölkerungsgruppen wird dagegen nicht als Gewalt empfunden - nicht in Afrika, nicht in Indien, nicht in Amerika, nicht in Deutschland und sonstwo. In solchen Fällen wird Gewalt regelmäßig als „Schicksal“, oder „persönliches Unvermögen“ umgedeutet. Schuld können so immer nur die Opfer selbst sein - etwa, weil sie beizeiten nichts „Ordentliches“ gelernt haben.
" Zahllos die Vergewaltigungsfantasien, die in WLAN-Netze von Schrebergartenkolonien eingetippt werden."
Wer kann mir diesen Satz erklären?
Bin ich zu wenig internetaffin?
Wahrscheinlich treiben Sie sich einfach nur zu wenig in Schrebergartenkolonien mit WLAN-Netzen herum. Tut mir leid, aber ich wüßte jetzt so spontan auch nicht, wo man sowas finden kann. Da müssen Sie wohl schon selber mal rausgehen und suchen.
„Das Glück ist mit den Tüchtigen“ (Oma)
"Unser Verhältnis zur Gewalt ist nur psychiatrisch zu verstehen. Wir sind süchtig nach ihr, wir konsumieren Gewalt durch Nachrichten und Unterhaltungsmedien in einem zuvor nie gekannten Ausmaß – und wir tabuisieren sie zugleich."
Hier wird unsauber argumentiert. Wir konsumieren vor allem fiktionale Gewalt in den Medien. Gewalt ist teil der Menschlichen Geschichte und kann nicht ignoriert werden. Eine Sucht sieht aber wohl anders aus. Würde ja bedeuten, bestimmte Menschen könnten ihren Tag nicht ohne Gewaltkonsum Tabuisiert wird die tatsächliche Gewaltanwendung im Zusammenleben. Das ist gut so!
"Die westlichen Nationen haben eine lange Geschichte der gewaltförmigen Einflussnahme, über die regelmäßig mit Jahrzehnten Verspätung berichtet wird, und dann in einem Tonfall, als sei derartiges in der Gegenwart ganz und gar unmöglich. Schmutzige Gewalt war immer gestern."
Mmh, was ist mit Irak, Afghanistan, Lybien und anderen Kriegsschauplätzen mit westlicher Beteilgung?
Alte Hüte
Alles bekannte Debatten, die schon 1968 geführt wurden.
Das ist mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert her...
@Hartz Es gibt immer Leute, die immer schon über die Sache hinaus sind, denen nichts Neues unter diesem Erdenhimmel je aufgeht, die wie im Märchen der Igel all schon da sind. Nach aller Erfahrung versteckt sich hinter diesem billigen Trick, den jeder halbwegs aufgeweckte Student im ersten Semester draufhat, ein gerüttelt Maß an Ignoranz, mithin schlicht Dummheit.
Unterstellungen...
Ich hatte schliocht ein Faktum genannt.
Und das ist lange kein Grund, hier persönlich zu werden ("Dummheuit").
So kann man leider nicht diskutieren..
Schon NIetzsche schreibt von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen". Oder war der auch "dumm"?....
Völlig einverstanden. Gewalt gehört zur poltischen Aktion und wird je nach ideologischer Sichtweise als Terrorismus oder als Widerstand klassifiziert. So war die Résistance für die deutschen Besatzer eine terroristische Vereinigung. Die Methoden waren es: Bombenanschläge, Sabotageaktionen, Morde aus dem Hinterhalt....aber im Wesentlichen gegen Militär. Für die Franzosen war das legitimer Widerstand und die Widergeburt der Republik. Im Algerienkrieg war es dann andersherum, die FLN wurde von den Franzosen als terroristische Mörderbande eingestuft, die mit den gleichen Mitteln bekämpft wurde, die die deutschen Besatzer gegen französische Widerstanstandskämpfer angewendet hatten. Gerechtfertigt wurde das mit der Ausweitung des Terrors auf die Zivilbevölkerung, mit den Bomben, die in Cafés während der Schlacht um Algier explodierten. Folter und standrechtliche Erschiessungen wurden auf höchster Ebene abgesegnet. Das zeigt uns ganz eindeutig, dass eine demokratisch legitimierte Regierung mit den gleichen Mitteln gegen politische Gegner vorgehen kann wie Diktaturen. Um mal ein anderes Beispiel zu nennen. Wie wird die EU reagieren, wenn die spanische Regierung nach dem von ihr illegal erklärten Referendum in Katalonien die Armee schickt, um im Falle eines Sieges der Unabhängigkeitsbefürworter, deren Unabhängigkeitserklärung für null und nichtig zu erklären, notfalls mit Waffengewalt?
@82236 (Profil gelöscht) Katalonien ... Da malen Sie sich aber einen Teufel zusammen. Was wird die EU machen wenn sich Schottland für unabhängig erklärt? Edinburgh bombardieren?
@Rudolf Fissner Dann lesen Sie die Erklärungen Rajoys diesbezüglich. Falls Sie einen Schimmer von spanischer Innenpolitik haben, werden Sie ja wissen, dass die Regierungspartei immer noch von der frankistischen Ideologie gesteuert wird mit einem modernen Outfit. Die Debatte um die Unaghängigkeit Kataloniens wird hier äusserst heftig geführt und nichts kann ausgeschlossen werden.
Die hilflosen G20 Gegendemonstranten sind nicht das Gewaltproblem, der Staat ist das Gewaltproblem. Spätestens an der Stelle biete ich Zusammenarbeit an. Neues Konzept, neue Zielsetzung, neue Vorgehensweise. Goal united, future option.
„Kritisch“ statt „bedingungslos“ müsse Solidarität sein – dafür plädierte die Gruppe Demontage. Wie sieht sie den Hamas-Support einiger Linker von heute?
Debatte Wahrnehmung von Gewalt: Nirgendwo ein Gewalttäter mit Macht
Seit dem G20-Gipfel wird über Gewalt debattiert. Aber die Frage ist: Für wen ist was wann Gewalt? Die meiste Gewalt ist für uns unsichtbar.
„Ich distanziere mich von der Gewalt der Polizei“ – Schwarzer Block bei G20-Demo Foto: dpa
Die Debatte über Gewalt, wie sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg geführt wird, hat einen blinden Fleck. Sie spart nämlich die Frage der Wahrnehmung aus: Für wen ist was wann Gewalt? Eine Antwort darauf zu suchen, ist nicht weniger als der Kern emanzipatorischen Denkens. Dazu drei Anregungen.
Erstens: Die tatsächliche Dimension institutioneller und struktureller Gewalt setzt sich selten in unsere Alltagswahrnehmung um. Deshalb wirkt ein Jean Ziegler, der immer wieder die blanken Zahlen des „Imperiums der Schande“ benennt, die täglich Verhungernden, wie ein Don Quichotte der Weltöffentlichkeit, ein verrückter Sehender, irre in seinem Unbeirrtsein.
Framing, eigentlich ein Begriff der Medienwissenschaft, prägt unsere Sicht von Gewalt: Wir blicken durch einen zu kleinen Rahmen. In diesem Ausschnitt wirkt, wer sich gegen das große institutionalisierte Unrecht auflehnt, immer falsch, weil der eigentliche Gegner nicht sichtbar ist. Unter westeuropäischen Bedingungen leidet oppositionelle Gewalt dann an einer doppelten Unangemessenheit: Sie ist einerseits zu klein, weil sie den Agenten der institutionellen Gewalt nicht weh tut. Und andererseits zu groß, weil sie die Falschen trifft, die bloßen Statthalter, die Unbeteiligten.
Zweitens: Unser Verhältnis zur Gewalt ist nur psychiatrisch zu verstehen. Wir sind süchtig nach ihr, wir konsumieren Gewalt durch Nachrichten und Unterhaltungsmedien in einem zuvor nie gekannten Ausmaß – und wir tabuisieren sie zugleich.
Wir sind süchtig nach Gewalt wie nie zuvor – und tabuisieren sie zugleich
In jedem Fernsehkrimi geschändete Mädchen, abgeschnittene Finger, Leichen. Obligatorisch die Szene beim Rechtsmediziner, damit wir die Leiche noch mal in Naheinstellung haben, bläuliches Fleisch, gewendet nach allen Seiten. Daneben, wie unverbunden, die Tausenden Toten im Mittelmeer, doppelt unsichtbar, versunken im Meer und nie gehoben über den Level von Verdrängung hinaus. Fast müsste man den Identitären, die im Meer Rettung zu verhindern suchen, dankbar sein: Sie entschleiern die institutionelle Gewalt, machen sichtbar, dass Tod oder Leben eine Folge von Entscheidungen ist.
Süchtig danach, Gewalt zu konsumieren
Wie wir uns nähren am Konsum von Gewalt, mit der wir scheinbar nichts zu tun haben, entblößt gerade ungewollt eine ARD-Eigenwerbung, die solche Sendungen als „schwere Kost“ bezeichnet. Viele Medien lechzen nach Gewalt, und es bleibt im Dunkeln, ob sie ihr Publikum damit erziehen oder nur dessen verborgene Gier spiegeln. Zahllos die Vergewaltigungsfantasien, die in WLAN-Netze von Schrebergartenkolonien eingetippt werden.
Drittens: Es ist eine Mär, dass es in der politischen Auseinandersetzung eine klare Grenze zwischen legitimer und nicht legitimer Gewalt gäbe. Welche Regime unter Einsatz von Gewalt bekämpft werden dürfen, das unterliegt immer dem Kriterium der Opportunität. Jüngstes Beispiel: Venezuela. Die schöne durchtrainierte Steinewerferin wird zur Fotoikone hiesiger Medien; zugleich erkennt das Auswärtige Amt ein formell illegales Referendum der Opposition als „legitimen Ausdruck“ des Wählerwillens an.
Wie zögerlich wurde der Putschversuch in der Türkei verurteilt – und was wäre, wenn morgen gegen Erdoğan geputscht würde? Iran: Neue US-Gedankenspiele über einen „Regimechange“, während gerade die letzten Akten über den Staatsstreich von 1953 freigegeben wurden. Und ach, VW Brasilien soll mit einem Folterregime paktiert haben?
Die Bewertung des Motivs entscheidet
Die westlichen Nationen haben eine lange Geschichte der gewaltförmigen Einflussnahme, über die regelmäßig mit Jahrzehnten Verspätung berichtet wird, und dann in einem Tonfall, als sei derartiges in der Gegenwart ganz und gar unmöglich. Schmutzige Gewalt war immer gestern.
Ob ein Akteur als Oppositioneller, Krawallmacher, Gewalttäter oder Terrorist bezeichnet wird, hängt davon ab, wie seine Motive bewertet werden, zumal durch die Medien. Meist herrscht hier der seltsam gleichklingende Schnellzugriff der Bewerter; nur in Bezug auf Palästinenser geht es oft holperiger zu: Man will sich ein bisschen von der israelischen Terminologie absetzen, doch nicht allzu sehr. Auch zeigt dieses Beispiel: Wenn Tausende etwas tun, was bei einem Einzelnen als illegitim erachtet wird, gewinnt Handeln an Legitimität.
Hässlichster Missbrauch von Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen, aber weit und breit kein Gewalttäter
Der Begriff Gewalttäter, sprachlich scheinbar neutral, ist bemerkenswert ideologisch aufgeladen. Selten finden sich derart Bezeichnete in der gutbürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Hässlichster Missbrauch von Schutzbefohlenen bei den Regensburger Domspatzen, aber weit und breit kein Gewalttäter. Das Wort zieht eine Grenze, es meint immer die da draußen, dunkel in Vermummung oder Teint, und wir betrachten sie wie bei „XY…ungelöst“ schaudernd aus der warmen Stube heraus. Der Gewalttäter ist das Böse außerhalb unserer selbst.
Bauzäune einreißen als Gewalt?
Dass dieses Wort die Beschädigung von Sachen mit der Gewalt gegen Menschen sprachlich gleichstellt, das war nicht immer so. Am Beginn der Anti-AKW-Bewegung stand vor 40 Jahren die Parole „Der Bauplatz muss wieder zur Wiese werden“, das schloss das Niederreißen der Bauzäune selbstverständlich ein, und keiner hätte in diesem Zusammenhang von Gewalt gesprochen.
Das staatliche Gewaltmonopol zu einem Goldenen Kalb zu machen und es auch noch als Gewaltmonopol der Polizei misszuverstehen, das war das Endprodukt einer langen Auseinandersetzung bei den Grünen. Begleitet wurde sie von der zunehmenden Fixierung auf Parlamentarismus. Denn Militanz (auch die gewaltfreie) geht davon aus, dass man den Mächtigen direkt entgegentreten kann und muss, weil sie sich dem Einfluss eines Parlaments ohnehin entziehen.
„Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“
Man mag dem zustimmen oder nicht. Sicher aber ist: Was in einem emanzipatorischen Diskurs unter Gewalt verstanden wird, daran lässt sich ermessen, wie weit die intellektuelle Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse gediehen ist.
Der Brecht’sche Satz „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ hat heute eine irgendwie moosbesetzte Radikalität. Es ginge darum, solche Sätze neu zu denken, neu zu sprechen.
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Kommentar von
Charlotte Wiedemann
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