Debatte Terror in Frankreich: Die populistische Obsession
Es arbeiten mehr Muslime für die französischen Sicherheitsdienste als für al-Qaida. Doch das will derzeit niemand wissen.
D ie Stimmung, die Frankreich nach dem Attentat auf Charlie Hebdo erfasst hat, ist mehr als eine Reaktion auf den Horror oder eine Solidaritätsbekundung. Denn auch der Terroranschlag war mehr als ein Verbrechen: Er ist ein politisches Ereignis, weil er eine einst intellektuelle Debatte in eine lebenswichtige Frage transformiert hat.
Nach der Verbindung zwischen Islam und Gewalt zu fragen bedeutet, den Platz von Muslimen in Frankreich zu diskutieren. Das berührt den grundsätzlichen Zusammenhalt der französischen Gesellschaft. Die vorherrschende Meinung geht von einer demografischen Bedrohung aus: Es werden immer mehr Muslime. Die antirassistische Minderheitenmeinung findet, dass der Zusammenhalt von der zunehmenden Islamophobie ausgehöhlt wird, ausgelöst durch den Terror Einzelner. Das Risiko für die Mehrheit sieht sie in der zunehmenden Verachtung der Muslime in Frankreich.
Die Frage nach dem Zusammenleben hatte sich bereits vor dem Attentat auf Charlie Hebdo gestellt, aber sie war noch „lokalisierbar“: die populistische Obsession gegen die Einwanderung, die Ängste einer konservativen Rechten oder die Religionsfeindschaft von linker Seite, die sich in einen Identitätsdiskurs verwandelt hat, den der Front National (FN) sich angeeignet hat.
ist französischer Professor für Politikwissenschaften am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Zu seinen letzten Buchveröffentlichungen auf Deutsch zählen: „Heilige Einfalt: Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“ (Pantheon 2011) und „Der falsche Krieg: Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens“ (Siedler Verlag 2010).
Doch nun hat sich die Debatte über Islam und Muslime in Frankreich (nein, es handelt sich nicht um einen französischen 11. September – ein bisschen Haltung und Zurückhaltung bitte!) verselbstständigt. Vereinfacht gesagt, dominieren zwei Diskussionen den öffentlichen Raum. Der bestimmende Diskurs widersetzt sich vorsätzlich der Political Correctness und wird darüber zum PC-Diskurs.
Er geht davon aus, dass Terrorismus ein extremer Ausdruck des „wahrhaften“ Islam ist. Dieser lässt sich auf die Ablehnung des Anderen zurückführen zugunsten der religiösen Norm (Scharia) und des Dschihad. Zugleich sollen Entscheidungen der Terroristen eher auf Fehleinschätzungen und Ressentiments beruhen und weniger auf der Gewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein.
Die Koran-Software
In diesem Sinne sind alle Muslime Träger einer im Unbewussten verankerten und koraninduzierten Software, die sie letztlich unassimilierbar macht, zumindest solange sie nicht laut ihre Konvertierung zum liberalen Islam – feministisch und „schwulenfreundlich“ – kundtun, am besten im Fernsehen unter der Kuratel eines gestrengen Journalisten, der sich der Beliebtheit bei den „großen Christen“ dieser Welt sicher sein kann.
Die Haltung wiederum, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann und die ich als „islamprogressiv“ bezeichnen würde, wird von mehr oder weniger gläubigen Muslimen und vor allem der antirassistischen Bewegung „Nicht in meinem Namen“ vertreten: Der Islam der Terroristen ist nicht mein Islam, ja es ist überhaupt kein Islam, denn der ist eine Religion des Friedens und der Toleranz. (Das übrigens ist ein Problem für die vielen Atheisten muslimischen Ursprungs, die zwischen dem Verdammungsüberangebot des Fundamentalismus und der Nostalgie eines „andalusischen“ Islam, den es nie gab, schwanken.)
Die wirkliche Bedrohung hier ist die Islamfeindlichkeit und die darüber legitimierte Ausgrenzung, ohne dass dabei die Radikalisierung der Jugendlichen entschuldigt wird. Die Aneinanderreihung beider Erzählungen und Diskussionen führt in die Sackgasse.
Um aus ihr wieder herauszukommen, gilt es zunächst, stur Fakten zu berücksichtigen, die man einfach nicht sehen will. Sie zeigen, dass die jungen Radikalen keineswegs die Avantgarde oder die Wortführer der frustrierten muslimischen Bevölkerung darstellen. Denn: Es gibt keine muslimische Gemeinschaft in Frankreich.
Fantasie heldenhafter Böser
Die jugendlichen Radikalen, die sich natürlich auf eine imaginäre muslimische Politik stützen (die „Umma“ aus der vorislamischen Zeit), haben mit dem Islam ihrer Eltern gebrochen und einen erfunden, der sich gegen das Abendland richtet.
Sie kommen vom Rand der muslimischen Welt (zur Erinnerung: gemessen an der Bevölkerungszahl „lieferte“ Belgien hundertmal so viele Dschihadisten für den IS wie Ägypten), sie bewegen sich in einer abendländischen Kommunikationskultur, einer westlichen Inszenierung von Gewalt, sie verkörpern einen Generationenbruch (die Eltern rufen die Polizei, wenn sich ihre Kinder nach Syrien aufmachen), sie sind nicht Teil der lokalen religiösen Gemeinden oder Moscheen im Viertel. Stattdessen praktizieren sie eine Selbstradikalisierung via Internet, interessieren sich für einen globalen Dschihad und nicht für konkrete Kämpfe in der muslimischen Welt (Palästina).
Kurzum: Sie arbeiten nicht an der Islamisierung ihrer Gesellschaften, sondern wollen ihre Fantasie vom heldenhafen Bösen verwirklichen („Ich habe den Propheten gerächt“). Auch der hohe Anteil der Konvertierten (laut französischer Polizei sind das 22 Prozent der Freiwilligen des IS), veranschaulicht gut, dass sich randständige Jugendliche radikalisieren und eben nicht das Herz der muslimischen Bevölkerung.
Sei der, der du nicht sein sollst
Zudem sind französische Muslime viel besser integriert, als ihnen nachgesagt wird. Jedes „islamistische“ Attentat forderte mindestens ein muslimisches Opfer unter den Sicherheitskräften: Der Soldat Imad Ibn Ziaten wurde von Mohamed Merah in Toulouse 2012 getötet; der Polizist Ahmed Merabet wurde getötet, als er versuchte, die Mörder von Charlie Hebdo zu stoppen.
Doch anstatt sie als leuchtendes Beispiel zu nehmen, missbraucht man die Getöteten als Gegenbeispiel: Denn der „wahre“ Muslim ist Terrorist und alle anderen sind Ausnahmen. Statistisch gesehen ist das falsch: In Frankreich arbeiten mehr Muslime bei der Armee, der Polizei und der Gendarmerie als für al-Qaida. Nicht zu reden von der Administration, dem Bildungssektor oder den Krankenhäusern.
Ein anderes Klischee besagt, dass Muslime den Terrorismus nicht verurteilen würden. Doch das Internet bordet über von Verurteilungen und Anti-Terrorristen-Fatwas. Wenn all diese Fakten der gängigen These der Radikalisierung widersprechen, warum werden sie stets übersehen?
Weil man der muslimischen Bevölkerung eine Vergemeinschaftung anlastet, um ihr anschließend vorzuwerfen, diese nicht zu nutzen. So wirft man Muslimen vor, eine Gemeinschaft zu sein, und verlangt von ihnen gleichzeitig, sich als Gemeinschaft gegen den Terror auszusprechen. Das ist ein klassisches Doublebind: Sei der, der du nicht sein sollst.
Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung
Auf lokaler Ebene, also in den Quartiers, lassen sich durchaus Formen der Vergemeinschaftung konstatieren, aber nicht auf nationaler Ebene. Muslime in Frankreich hatten noch nie das Bedürfnis, repräsentative Institutionen zu installieren oder gar eine muslimische Lobby. Es gibt nicht den Hauch einer islamischen Partei (schade für Houellebecq, aber er hat natürlich die Literatur-Entschuldigung). Politiker mit islamischem Hintergrund fügen sich ins bestehende Parteienspektrum ein, inklusive der Rechtsradikalen. Es gibt kein muslimisches Wahlverhalten, was die Parti Socialiste als Nachteil verbuchen musste.
Es gibt auch kein Netzwerk von muslimischen Schulen (es sind weniger als zehn in Frankreich), keine Mobilisierung der Straße (keine Demonstration zu islamischen Themen hat mehr als einige tausend Menschen versammeln können). Es gibt kaum große Moscheen, sondern vor allem viele kleine in der Nachbarschaft. Wenn es überhaupt Bestrebungen zur Vergemeinschaftung gibt, kommen sie von oben. Sie gehen vom Staat aus, nicht von den Bürgern. Der französische Rat der Muslime in der Großen Moschee von Paris etwa wird von der französischen und anderen Regierungen unterstützt, aber er besitzt keinerlei lokalen Rückhalt. Die muslimische Community leidet also an einem sehr gallischen Individualismus und verweigerte sich bislang dem Bonapartismus der Eliten. Eine gute Nachricht.
Trotzdem hört man nicht auf, von der famosen muslimischen Gemeinschaft zu sprechen, bei den Linken wie bei den Rechten – sei es, um den Integrationswillen von Muslimen zu denunzieren, sei es, um Opfer der Islamophobie zu konstruieren.
Die einander entgegengesetzten Diskurse vereinen sich im gemeinsamen Phantasma von einer imaginären muslimischen Gemeinschaft. Doch genau die gibt es nicht. Es gibt nur eine muslimische Bevölkerung. Allein diesen einfachen Umstand zur Kenntnis zu nehmen wäre ein wichtiger Schritt gegen die gegenwärtige Hysterie und gegen die, die noch kommen wird.
Aus dem Französischen: Ines Kappert
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