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Debatte Reform der JugendhilfeKinder stärken statt den Staat

Kommentar von Wolfgang Hammer

Die geplante Reform der Kinder- und Jugendhilfe ist eine beispiellose Verschlimmbesserung. Die Warnungen der Fachwelt werden ignoriert.

Abenteuerspielplätze und Spielmobile stellen für Familien eine wichtige Alltagsentlastung dar. Doch an ihnen wird gespart Foto: dpa

D ie Fachwelt kämpft seit August 2016 in großer Einigkeit gegen eine familienfeindliche Sparreform der Kinder- und Jugendhilfe, die die Rechte der Betroffenen schwächen und die Eingriffsrechte des Staates stärken will. Diese Reform wird das Gegenteil dessen bewirken, was sie verspricht.

Unter dem Namen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sollen Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung eingeschränkt, Leistungen für junge Erwachsene abgebaut und Eingriffe in das Sorgerecht und die dauerhafte Unterbringung in Heimen erleichtert werden. Damit würde die schon bestehende Schieflage, dass es immer weniger präventive Hilfen und immer mehr Eingriffe in Familien gibt, noch erheblich verschärft.

Schon jetzt ist die Situation desolat: So sind allein von 2006 bis 2015 über 3.200 Jugendhäuser, Abenteuerspielplätze und Spielmobile, die gerade für Familien in Deutschlands Armutsre­gionen eine wichtige Alltagsentlastung darstellen, eingespart worden. Gleichzeitig steigt die Zahl der Sorgerechtsentzüge und Inobhutnahmen von Jahr zu Jahr. Dabei hat das System gerade hier eine Schwäche: Fast jede zweite Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien muss ungeplant beendet werden. Die Verweildauer in Heimen hat sich von durchschnittlich 27 auf 20 Monate, die in Pflegefamilien von 50 auf 40 Monate verkürzt.

Kritik am Familienministerium

Eine Unterstützung von überforderten Familien ist alternativlos und muss daher im Zentrum einer Reform stehen, wenn nicht noch mehr Kinder in Heimen landen sollen. Doch statt diese Hilfe zu stärken, soll künftig schon zu Beginn eine auf Dauer ausgerichtete Perspektivklärung erfolgen, also zum Beispiel eine dauerhafte Heimunterbringung ohne Option zur Rückkehr in die Herkunftsfamilie. Die hohe Kinderarmut spielt in dieser Reform keine Rolle und wird auch nicht benannt, obwohl sie einer der Hauptgründe für Hilfebedarfe ist.

Betroffen von dieser Reform sind rund 4 Millionen Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern, etwa 800.000 hauptamtliche Fachkräfte und Hunderttausende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Heute soll es nun in der vom Familienausschuss des Bundestags veranstalteten öffentlichen ExpertInnenanhörung zu einer Abrechnung der Fachwelt mit dem Gesetzentwurf kommen.

Der Widerstand gegen diese Reform beschränkt sich inzwischen längst nicht mehr nur auf die Fachleute. Nachdem die Bedenken gegen die Reform inzwischen auch bei den Jugendämtern und freien Trägern angekommen sind, haben sich die beiden großen Gewerkschaften dem Protest angeschlossen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) haben inzwischen erklärt, dass sie das Gesetz ebenfalls ablehnen. Die GEW hat die Abgeordneten des Bundestages aufgefordert, der Reform nicht zuzustimmen.

Gemeinsam gegen die Reform

CDU und Linke haben sich die Argumente der Fachwelt zu eigen gemacht und kämpfen nun gemeinsam gegen die Reform oder zumindest gegen wesentliche Teile. Bündnis 90/Die Grünen haben einen Antrag eingebracht, der in Übereinstimmung mit der Fachwelt darauf abzielt, die Hilfen für junge Erwachsene zu verbessern.

Aus diesem breiten Widerstand kann geschlossen werden kann, dass gegen das geplante Kinder- und Jugendstärkungsgesetz insgesamt Vorbehalte bestehen, auch wenn zum KJSG keine Stellungnahme abgegeben wurde. Selbst die SPD-Fraktion leidet darunter, vom Familienministerium nie ernsthaft in den Reformprozess eingebunden worden zu sein. So haben viele Abgeordnete den Protest oft erst in ihren Wahlkreisen zu spüren bekommen und die Informationen häufig über das Internet erhalten – nachdem sie dort schon kommentiert wurden.

Die Entstehungsgeschichte des KJSG ist ein Lehrstück organisierter Unverantwortlichkeit von Bund, Ländern und Kommunen. Die hehren Reformziele passen nicht zu den Machtfantasien von staatlicher Steuerung. Dazu kommt noch die gegenseitige Schuldzuweisung, wenn es um die Finanzierungsfolgen geht. Das Chaos wird auch deutlich an den über 50 ­Änderungsanträgen des Bundesrates und den Stellungnahmen von Kommunen und Ländern sowie der Reaktion der Bundesregierung.

Dass vor diesem Hintergrund das Licht der Öffentlichkeit gescheut wurde, verwundert nicht. Gerade bei der wichtigen Zukunftsfrage, wie Familien mit geringem Einkommen besser gefördert werden können, wie Ausgrenzung und Bildungsbenachteiligung entgegengewirkt werden kann, braucht es ein Zusammenwirken von Politik und Fachwelt – so wie dies bisher auch gute Tradition war.

Nun auch Wahlkampfthema

Als junger Mensch war für mich der Aufruf von Willy Brandt, „Mehr Demokratie wagen“, ein zeitloser Anspruch an die Gestaltungsprozesse in der parlamentarischen Demokratie. Eine Politik der Hinterzimmer und der gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und die Angst vor dem Diskurs mit Fachleuten und Betroffenen ist für mich deshalb nicht vereinbar mit demokratischen Ansprüchen.

Ein Ergebnis dieses Prozesses ist allerdings, dass nun die gesamte Fachwelt, der Gewerkschaften und Fachverbände so politisiert sind, dass es in die nächste Legislaturperiode hineinwirken wird.

Die lokalen und regionalen Bündnisse werden das Thema auch im Bundeswahlkampf zu einem zentralen Thema machen. Sie erwarten unabhängig vom Ausgang der politischen Entscheidung zum KJSG einen Neustart, der sich auch im Koalitionsvertrag und im Regierungsprogramm niederschlägt. Wer glaubt, man könne Gerechtigkeit zum Wahlkampfthema machen, ohne die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe und die Kinderarmut ernsthaft in Angriff zu nehmen, wird scheitern.

Es ist an der Zeit, Vertrauen in die politische Kultur von Reformprozessen zurückzugewinnen. Es ist an der Zeit, dass Reformen verbessern und nicht verschlechtern. Und es ist an der Zeit, nach der Bundestagswahl eine Enquetekommission im Deutschen Bundestag einzurichten, in der die Eckpunkte einer Reform der Kinder- und Jugendhilfe gemeinsam mit der Fachwelt erarbeitet werden.

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9 Kommentare

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  • "Unter dem Namen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) sollen Rechtsansprüche auf Hilfen zur Erziehung eingeschränkt, Leistungen für junge Erwachsene abgebaut und Eingriffe in das Sorgerecht und die dauerhafte Unterbringung in Heimen erleichtert werden."

     

    Man sollte vergleichend untersuchen, wie viele kriminelle Erwachsene z. B. von 100, die zum ersten Mal ins Gefängnis kamen zu Wiederholungstätern wurden. Geschlossene Anstalten und sonstige Einrichtungen, wo Kinder und Jugendliche von deren Eltern getrennt leben, sind durchaus mit Gefängnissen zu vergleichen.

  • Deutschland ist doch nur Konsequent bei seiner Haltung geblieben" Wer arm war und ist selber Schuld"

     

    Wer nicht Arbeitet braucht auch nicht zu essen, war es nicht Müntefering von der "SPD" welcher diesen zynischen Satz, ohne großen Widerspruch äußerte?

     

    Stammt der zynische Satz: "Sozial ist was Arbeit schafft" nicht in leicht abgewandelter Form aus der NS Zeit? Hieß es da nicht noch "Sozial ist wer Arbeit schafft"? Auch von der SPD?

     

    Richtig ist, man will sich einen Teil der Bevölkerung als billige Arbeitskräfte halten, man nimmt Ihnen die Menschenwürde nehmen das Existenzminimum, sie werden u. a. bewusst an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Wirft ihnen aber das auch noch selber vor?

     

    Halten wir fest, wenn ich für Armutslöhne mich ausbeuten lassen muss, davon aber nicht überleben kann, ist das politisch so gewollt.

     

    Wenn ich keine Arbeit bekomme, bin ich nicht "frei" sondern zur Ausbeutung frei gegeben. 2,8 Mio. Arbeitssuchende stehen ca. 800tsd. offene Stellen gegenüber, also was aber machen die restlichen 2,0 Mio? die sind ja alle selber "Schuld".? So die Lesart des Mainstreams und der Herrschenden in Politik und Wirtschaft.

     

    Wie hoch hier in Deutschland Facharbeiter geschätzt werden, sieht man doch bei den Löhnen. Armutslöhne nennt man zynisch "Mindestlohn" davon kann man weder im Arbeitsleben überleben, erst Recht nicht bekommt davon eine Rente die zum Überleben reichen würde. Mit dem heutigen "Mindestlohn" muss jemand mindestens 63 Jahre einzahlen, um bei Grundsicherung mit allen negativen Folgen zu landen. Armut per Gesetz eben. Und das wird so lange so bleiben, solange sich die Mehrheit nicht wehrt, und wir einen Corbyn, Sanders oder Melchelon in Deutschland bekommen.

  • Es interessiert leider viel zu wenige Menschen, was es auf sich hat, mit diesen Gesetzen, Maßnahmen, Angeboten und Initiativen. Dabei bestimmt der Umgang mit Kinder- und Jugendlichen, deren Förderung und Hilfe bei z. B. Vernachlässigung doch so grundlegend unsere Gesellschaft.

     

    Naja, Hauptsache bei der HSH Nordbank läufts.

  • Schade, kein Kommentar bisher, obwohl ein wichtiges Thema.

    Ein Satz ärgert mich besonders, dass Armut nicht thematisiert werden, obwohl sie ein Hauptgrund sei.

     

    Als ob Armut und Erziehungskompetenz irgend etwas miteinander zu tun haben. Jedenfalls nichts, was Geld ändern könnte.

     

    Der einzig erkennbare Zusammenhang ist, dass eine schlechte Erziehung dazu führt, dass Kinder in Armut bleiben werden mit der nächsten Generation, weil ihnen alle Kompetenzen vorenthalten bleiben, die es im Arbeitsleben braucht oder für eine Selbständigkeit.

    • @Dr. McSchreck:

      Nach Oben wird gebuckelt, nach Unten wird getreten" Das war und wie man an Ihrem Kommentar sieht, hat sich das bis heute noch nicht groß geändert.

    • @Dr. McSchreck:

      Ergänzen möchte ich zur Klarstellung, dass ich damit vor allem sagen will, dass es durchaus viele Arme gibt, die eine gute Erziehungskompetenz haben. Leider ist die Hauptsaussage neben der "Ausnahme" etwas undeutlich geworden.

      • @Dr. McSchreck:

        Egal wie sie ihren Auswurf auch betiteln, Armut hat sehr wohl etwas mit Erziehungskompetenz zu tun, zumindest für die Behörden. Im Umfeld der Schule meiner Tochter sind Kinder aus ihren Familien gerissen worden, weil sie angeblich vernachlässigt wurden, nur weil sie nicht der Norm entsprechend Gekleidet waren. Es sind zwei Kinder aus ihrer Familie geholt worden, weil die Mutter in ein Krankenhaus eingewiesen wurde und der Vater aufgrund dessen seinen Job als Fernfahrer aufgeben musste, um sich um die Kinder zu kümmern, Also war erst einmal zu wenig Geld vorhanden, so dass die Kinder nicht jeden Tag frisch geschmierte Brote hatten. Innerhalb von 3 Tagen wurden diese Kinder abgeholt und in einer Pflegefamilie untergebracht. Frage: warum wurde das Geld zur Unterbringung der Kinder nicht dem Vater zur Verfügung gestellt, während er auf die Bewilligung von Hartz IV warten musste, und somit kein Geld zur Verfügung hatte, erklären sie mir mal wie sie diese Dinge rechtfertigen wollen, schauen sie sich einmal in einer ländlichen Gegend um un fragen sie nach, wie schnell es geht, dass ihnen ihre Kinder wegen finanzieller Schwierigkeiten die Kinder entzogen werden. Ich selbst kann auch einiges dazu erzählen, wenn auch nur am Rande aus eigener Erfahrung!!!

        • @urbuerger:

          sollte das fehlende Geld der Grund sein, heißt das überhaupt nichts zu der Frage, ob die Eltern erziehungskompetent sind. Sondern dann hat einfach das Jugendamt falsch gehandelt, weil immer der Verbleib in der Familie Vorrang haben muss und daher Hilfen in der Familie immer erst geleistet werden müsse und erst bei deren Scheitern die Kinder aus der Familie genommen werden dürfen - wenn es nicht gerde um Leben und Tod oder ähnlich schwere Gefahren geht, wo man einfach nicht warten kann.

        • @urbuerger:

          Wo ich lebe, würde so etwas nicht vorkommen. Ich habe daher auch Zweifel, ob Ihre Berichte so zutreffen und die Kinder aus den von Ihnen genannten Gründen aus den Familien genommen wurden.

           

          Wenn das der Fall sein sollte, dann heißt es noch immer nicht, dass Armut mit Erziehungskompetenz zusammenhängt, sondern nur, dass das Jugendamt falsch gehandelt hat: weil es nicht das Kindeswohl mit dem mildesten zur Verfügung stehenden Mittel gesichert hat. Das wäre - sogar, wenn die Eltern nicht mit Geld umgehen können - zunächst mal eine Hilfe in der Familie, bevor man die Kinder herausnimmt. Dies darf immer erst das letzte Mittel sein, wenn alles andere gescheitert ist.