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Debatte Rechtspopulismus in EuropaDie linke Gretchenfrage

Kommentar von Aram Ziai und Franziska Müller

Identität oder Gleichheit? Zu einer linken Politik gehört immer beides. Eine Replik auf Winfried Thaas taz-Debattenbeitrag.

Soziale- und Geschlechter-Gerechtigkeit sind kein Widerspruch Foto: ap

I dentitätspolitik ist zur Chiffre für vieles geworden. Sie kann als selbst­ermächtigendes Vorhaben begriffen werden, aber auch als postmoderne Leerformel, in der, frei von gesellschaftlicher Anschlussfähigkeit, der Lifestyle queerer, schwarzer, feministischer und anderer Personen mit akademischem Hintergrund verhandelt wird.

Identitätspolitik glitzert gefährlich im Großstadtsonnenschein. Von ihr scheinen allerhand Gefahren auszugehen: für die Sozialdemokratie, für Marginalisierte, für AfD-Wähler. Wie, so lautet die bange Frage, halten wir's mit der Identitätspolitik? Und was würde Rosa Parks dazu sagen?

Ihren Kampf gegen die rassistischen Gesetze in den USA der 1950er Jahre würde sicherlich niemand als „postmodern“ werten, wogegen dieses Verdikt für Auseinandersetzungen um Sprache, Räume und Repräsentation sehr schnell benutzt wird.

Von Queerness bis Ungleichheit

In seinem Beitrag „In die Identitätsfalle getappt“ machte Winfried Thaa kürzlich an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass Antidiskriminierungspolitik durchaus kompatibel ist mit der Unterordnung der Gesellschaft unter die Zwänge der kapitalistischen Ökonomie. Thaa kritisiert zu Recht die Entfernung vieler akademischer Linker vom Arbeitermilieu. Ähnlich argumentieren Dirk Jörke und Nils Heisterhagen in der FAZ, wenn sie die Problematik von Identitätspolitik in ihrer Anschlussfähigkeit an eine neoliberale Agenda sehen.

Eine solche Argumentation schießt jedoch übers Ziel hinaus, wenn sie behauptet, die Linke habe durch ihren Fokus auf „postmoderne Identitätspolitik“ die Frage der sozialen Gerechtigkeit vernachlässigt und so Marginalisierte den Rechten in die Arme getrieben. Dem liegt eine fragwürdige Gleichsetzung zugrunde: Man verwechselt Lann Hornscheidt (kritisiert zweigeschlechtliche Anreden als respektlos gegenüber queeren Personen) mit Wolfgang Clement (definierte soziale Gerechtigkeit als „produktive Ungleichheit“) – oder wirft sie zumindest in einen Topf.

Warum sollen ausgerechnet die (immer noch in der Minderheit befindlichen) Linken, die sich um Feminismus und Antirassismus bemüht haben, verantwortlich für Hartz IV und die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie sein? Denn Letztere ist mit Sicherheit weit mehr als eine postmoderne akademische Linke dafür verantwortlich, wenn sich (meist biodeutsche) Marginalisierte im politischen System nicht repräsentiert fühlen und die AfD wählen. Der Vorwurf erlaubt es jedoch, gerade diejenigen Linken, die nicht nur für den weißen, männlichen Arbeiter eintreten, für den Aufstieg der Rechten verantwortlich zu machen – mithin Antidiskriminierungspolitik als grundsätzlich weniger relevantes, ja gefährliches Projekt zu diskreditieren und implizit die Privilegierung der weißen Männer zu verteidigen.

Warum sollen ­Feminismus und Anti­rassismus verantwortlich für Hartz IV sein?

An dieser Stelle gilt es außerdem zu fragen, inwieweit sich die parteipolitische und gewerkschaftliche Linke überhaupt als offen gegenüber identitätspolitischen Fragen gezeigt hat. Der Sound des Schulz-Zuges scheppert eher traditionell.

Zauberwort Intersektionalität

Dabei sollte klar sein, dass Ausgrenzung und Ausbeutung und deswegen auch Identitätspolitik und soziale Gerechtigkeit nicht als konkurrierende Prioritäten gedacht werden dürfen. Das Zauberwort dafür heißt Intersektionalität: die Überschneidung verschiedener Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus ist zu untersuchen.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die identitätspolitische Ausgrenzung von anderen immer auch dazu gedient hat, ihnen Arbeitsrechte oder gleiche Löhne vorzuenthalten und sie leichter auszubeuten. Das fängt mit den „faulen Eingeborenen“ im Kolonialismus an und hört mit dem Inländerprimat auf dem Arbeitsmarkt noch lange nicht auf – ganz zu schweigen von Frauen, deren Sorge­arbeit mit ihrer natürlichen Geschlechterrolle verbunden und deswegen gar nicht oder nur schlecht bezahlt wurde beziehungsweise wird. Das manifestiert sich auch im ALG Q, soweit dies idealtypisch den 55-jährigen Facharbeiter in den Blick nimmt, nicht aber die Patchwork-Mutter oder die Migrantin.

Und auch wenn Finanzminister Schäuble der Regierung in Athen Sparprogramme mit verheerenden sozialen Konsequenzen aufdrückt, geriert er sich dabei als strenger Familienvater gegenüber der vermeintlich unverantwortlichen Syriza-Regierung und den liederlichen Griechen, die angeblich über ihre Verhältnisse gelebt haben. Die Konstruktion von bestimmten Identitäten legitimiert und ermöglicht so Praktiken materieller Ausbeutung, deswegen ist gerade ihre Verknüpfung zentral.

Die alten Hauptwidersprüche

Daher sollte sich linke Politik weder in einer liberalen Gleichstellungspolitik erschöpfen noch angestaubte Hauptwidersprüche zwischen Kapital und Arbeit hervorkramen. Sie sollte lieber, da stimmen wir Thaa zu, gesellschaftspolitische Alternativen aufzeigen, die über ein verlängertes ALG I weit hinausreichen und Solidarität statt Konkurrenz zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens machen. Sie soll auch die Unterdrückung durch Klassenverhältnisse thematisieren, darf sie jedoch nicht als Priorität setzen und andere Formen nicht ernst nehmen.

Aktuell zeigen uns die transnationalen Proteste gegen die Dakota Access Pipeline in Standing Rock durch ihre spektrenübergreifende Mobilisierung und ihr globales Divestment, dass Identitätspolitiken in der Lage sind, sich zu pluralisieren und über ein einzelnes Diskriminierungsverhältnis hin­aus allianzbildend zu wirken.

Die Flexibilität, die in intersektionalem Handeln liegt, sich selbst zu ermächtigen, aber auch sich zu vernetzen und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit zu streiten, ist auch eine Stärke, die sich gerade gegenüber einer Vereinnahmung durch einen bürgerlichen Liberalismus oder durch „Managing Diversity“-Programme mobilisieren lässt.

Antidiskriminierungspolitik ist daher kein Irrweg und schon gar kein Wegbereiter der Rechten. Die Linke muss sich auch nicht zwischen Identitätspolitik oder sozialer Gerechtigkeit entscheiden. Es geht nicht um Freiheit oder Gleichheit. Es geht immer um beides.

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14 Kommentare

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  • „Keine Freiheit ohne Gleichheit! Keine Freiheit in einer Gesellschaft, die in den Händen weniger monopolisiert wird“

    - Louise Michel (1830-1905), französische Anarchistin, Autorin, Pädagogin, Kommunardin Paris 1871...

  • 3G
    32795 (Profil gelöscht)

    Schöne Verteidungsschrift. Und nu? Wie gewinnt man eine Wahl damit? Was hat die Mehrheitsgesellschaft konkret von der Identitätspolitik?

     

    Es ist den Leuten egal wer ihnen den Tag versaut. Ob die Neoliberalen ihnen das Geld abknöpfen oder ob Identitätspolitiker Minderheiten gleichstellen, es spielt keine Rolle. Am Ende des Tages bleibt die Frage wie die nächste Miete bezahlt werden kann.

     

    Von mehr Gerechtigkeit können sich viele Leute in etwa gleich viel kaufen wie von mehr Wirtschaftswachstum, nämlich gar nichts.

     

    Es ist noch schlimmer, auf die Zumutungen der neoliberalen Globalisierung setzt man jetzt noch die Identitätspolitik oben drauf. Erst zwingt man den Leuten die Konkurrenz durch Migration auf und dann verlangt man von ihnen die Migranten gleichzustellen.

     

    Wie will man damit Wahlen gewinnen?

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    "Das manifestiert sich auch im ALG Q, soweit dies idealtypisch den 55-jährigen Facharbeiter in den Blick nimmt, nicht aber die Patchwork-Mutter oder die Migrantin."

    Da wirkt mir der Geschlechterwiderspruch arg konstruiert.

    Ja, es gibt mehr männliche Fachkräfte als weibliche, aber Migranten werden genauso vergessen wie Migrantinnen. Alleinerziehende Väter sind genausowenig Ziel dieser Maßnahme wie Hartz IV-Empfänger*Innen.

     

    Der Begriff des Klassismus ist gar nicht falsch, aber er wird verwendet, um den Klassenwiderspruch wegzuerklären und nicht, um ihn zu erklären.

    Der Interessengegensatz zwischen Kapitalist*Innen und Lohnabhängigen ist nicht einfach aufgehoben, wenn ein paar Kapitalist*Innen nette Kapitalist*Innen sind und der Kapitalismus dadurch ein höflicher Kapitalismus wird.

    Eine feministische Frau (oder Mann, Queer-, Trans-Mensch) ist mir definitiv 1000mal lieber als Boss als ein chauvinistischer Sack. Trotzdem will ich sie nicht als Boss haben, sondern auf Augenhöhe kommunizieren, im "aufrechtem Gang" (Ernst Bloch), und das setzt Beteiligung am Kapital voraus.

    Dabei geht es nicht darum, die gesellschaftliche Arbeitsteilung aufzuheben, sondern an Grundsatzentscheidung basisdemokratisch teilhaben zu können, wobei jede*r auch einen ähnlichen oder gleichen Anteil am Kapital hat, denn das ist das Druckmittel in internen Konflikten.

  • "Warum sollen ausgerechnet die (immer noch in der Minderheit befindlichen) Linken, die sich um Feminismus und Antirassismus bemüht haben, verantwortlich für Hartz IV und die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie sein? "

     

    Genau das sind sie nicht, aber sie setzen häufig die sozialen Fragen über wirtschaftliche, das ist das Problem.

     

    Es mag den Autoren wichtig sein, dass in Dakota keine Pipeline gebaut wird. Ich erwarte aber von Politik, die auch meine Interessen vertreten soll, dass Einschnitte in das Sozialsystem verhindert werden.

     

    Das Fehlen der Linken die gegen "Neoliberalisierung" effektvoll agiert und eine Chance hat die schlimmsten Änderungen zu zu verhindern, ist das Problem.

     

    Beispielhaft ist die Agitation gegen Sarah Wagenknecht, die mit viel Sachverstand versucht diese Einschnitte zu bekämpfen. Sich Linksglaubende versuchen jede Äußerung als Angriff auf ihre Vorstellung von Antirassimus zu deuten. Leider sind diese Leute keine kleine Minderheit und führen zu der Situation wie wir sie haben.

     

    Linke Marginalität bei gleichzeitiger Selbstzerfleischung und Hoheitskämpfe um die bessere Moral.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Freiheit und Gleichheit sind ohne Solidarität (Brüderlichkeit) nichts wert. Die Rechten verfahren exakt nach dem Muster, das ihnen von den - vorgeblich linken - Identitätspropagandisten und Hedonisten/Individualisten aller Art vorgemacht wird: sie pochen auf ihre Partikularinteressen und stellen sich gegen jene, die diese in ihren Augen bekämpfen. So kann das nichts werden.

    • @849 (Profil gelöscht):

      Das ist doch Quatsch mit Soße, Genossin. Ich rate, sich nochmal zu vergewissern, was die Rechten genau fordern. Dort geht es nicht etwa um Partikular-, sondern um vermeintliche Volksinteressen, um Ethnopluralismus, und um einen Kapitalismus, der als nationaler Sozialismus daherkommt. Es geht um die Mobilisierung der Mehrheitsgewalt gegen spezifische Minderheiten. Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was die von Ihnen denunzierten Gruppen fordern.

       

      Letztere kämpfen genau gegen diese Gewaltausübungen und -androhungen, sie sind täglich davon betroffen und bedroht. Gegen Rechte sein, aber Linke denunzieren: SO! kann das nichts werden.

       

      Und der (politische) Hedonismus ist nicht etwa Individualismus, meine Gutste, sondern versteht sich "nicht als Motor einer dumpfen, materialistischen Spaßgesellschaft, sondern als Chance zur Überwindung des Bestehenden". So kanns vielleicht was werden...

      • 8G
        849 (Profil gelöscht)
        @Comandanta Ramona:

        Was sind vermeintliche Volksinteressen anderes als Partikularinteressen? Was wäre ein nationaler Sozialismus anderes als ein partikulärer? Dass es den Rechten um Ethnopluralismus ginge, wäre mir hingegen neu.

         

        Ich bezweifle, dass bei der Genese der neurechten Strömungen in der "gesellschaftlichen Mitte" der Gedanke an die Mobilisierung gegen Minderheiten Pate gestanden hat. Die Minderheiten haben sich lediglich als Vorwand angeboten für den Rekurs auf die eigene vermeintlich bedrohte Identität. Insofern ist diese Mobilisierung bloß Symptom.

         

        Sich als links verstehende Minderheiten mögen gegen Gewaltausübungen kämpfen, von welchen sie täglich betroffen sind. Mein Punkt war aber gerade, dass hier das solidarische Element fehlt, weshalb dieser Kampf partikulär bleibt.

         

        Wer Kritik an der Linken indes als Denunziation diskreditiert, tendiert selbst zu dem Autoritarismus, den er mit den Lippen zu bekämpfen vorgibt. Es geht bei dieser Frage um die Kritik der Ideologie, hier besonders der eigenen, und um linkes Selbstverständnis als deren Teil. Ohne eine solche wird es nie was mit der gewünschten und wünschenswerten Befreiung.

         

        Die Chance der Überwindung des Bestehenden unterliegt ihrer Dialektik. Wo Freiheit draufsteht, ist noch lange keine drin. Hedonismus ist kein Individualismus, da haben Sie recht, aber er versteht sich stets als solcher, wenn er mit freiheitlicher Programmatik aufgeladen wird.

        • @849 (Profil gelöscht):

          Natürlich sind Anrufungen des "Volkes" in politischer und ökonomischer Hinsicht partikular, der politische Anspruch ist aber dem der Minderheitengruppen gegenläufig.

           

          Ethnopluralismus ist ein U-Boot-Begriff der Neuen Rechten, der sich vielleicht irgendwie unrechts anhört, tatsächlich aber davon ausgeht, dass jedes Volk gefälligst da bleiben soll, wo es "natürlicherweise" hingehört. Mehr hier: http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/die-morgige-welt-muss-ethnopluralistisch-sein-eine-analyse-0

           

          Die Mobilisierung gegen Minderheiten halten sie lediglich für einen Vorwand? Das ist angesichts der zehn Angriffe auf Heime, Neuankömmlinge und UnterstützerInnen pro Tag eine erstaunliche Einschätzung. Es geht nicht darum, was "Symptom" und "Krankheit" ist, sondern den Zusammenhang von Gewalt, Selbststilisierung als "identitätsbedroht" und den weiteren politischen und ökonomischen Machtverhältnissen herauszuarbeiten. Da wird bei einer analytischen Schablone wie der Ihren schnell alles zum Symptom, oder alles zur Krankheit. Beides führt in die Irre.

           

          "Identitätspropagandisten" ist denunzierend im Ton, daran halte ich fest, das wird noch durch ihre Behauptung verstärkt, dass die auch noch das Muster für die Rechten bereit gestellt haben sollen. Und so sehr ich für Ideologiekritik auch in linken Kontexten bin (sie ist dringend notwendig), so darf sie nicht blind werden für die alltäglichen Erfahrungen der Angegriffenen, und für die Angreifer.

           

          Ansonsten stimme ich überein, dass Solidarität Mangelware ist, siehe meinen Kommentar zu dem Artikel weiter unten.

  • Kleine Anmerkung: Bitte nicht von Klassismus sprechen, wenn Klassenverhältnisse / -gegensätze / -herrschaft gemeint ist. Klassismus ist imho ein ungeeigneter konzeptueller Ansatz, der das Augenmerk auf kulturelle Marginalisierung unterdrückter Klassen richtet, aber die zugrundeliegende Unterdrückung selbst gar nicht thematisiert.

  • Wie alles andere im Leben kann auch Antidiskriminierungspolitik gut oder schlecht gemacht werden. Mit der pauschalen Behauptung, sie sei "kein Irrweg und schon gar kein Wegbereiter der Rechten", wäre ich also vorsichtig. Schlecht gemacht kann schließlich (beinah) alles Schaden anrichten. Und nicht einmal die Katholische Kirche erteilt Absolutionen schon vor dem Sündenfall.

     

    Davon mal abgesehen, muss und darf "die Linke" (who the fuck...?) tatsächlich "nicht zwischen Identitätspolitik oder sozialer Gerechtigkeit entscheiden". Es geht immer um beides: um Freiheit UND um Gleichheit. Das eine ist nämlich die wichtigste Voraussetzung des anderen – und umgekehrt.

     

    Dass wir nun gleich wieder ein "Zauberwort" brauchen, bezweifele ich allerdings. Die verschiedenen "Unterdrückungsformen" müssen meiner Ansicht nach weniger dringend "untersuch[t]" werden, als sie vermeiden werden müssen.

     

    Auch Menschen, die sich das Wort "Intersektionalität" nicht merken können, können begreifen, dass man anderen nicht antut, was man selber nicht erleiden will. Wer sich allerdings öffentlich äußern möchte, der sollte schon erkennen können, dass Unterdrückung in jeder noch so modischen Verkleidung doch Unterdrückung bleibt – und so empfunden wird von den Betroffenen.

     

    Wer wirklich "Solidarität statt Konkurrenz zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens machen" will, sollte sich, bevor er Kritik an anderen übt, jedenfalls vorher selbst kritisch hinterfragen. Klar, das ist schwer, vor allem wenn man voll von gutem Willen ist. Leider ist es unverzichtbar. Weil: Wo sich zwei Streiten, da kann oft ein Dritter profitieren. Der Dritte aber ist nicht selten einer, der weder was von Klassen noch was von Identitäten wissen will, sondern nur eine einzige Priorität hat: Sein eigenes Ego. Solche Leute noch größer zu machen in ihren eignen Augen, als sie schon sind, ist ziemlich überflüssig, finde ich.

  • "Es geht nicht um Freiheit oder Gleichheit. Es geht immer um beides."

     

    Allerdings behandelt der Artikel nur verschiedene Formen von Gleichheit. Wer eine dieser Formen als "Freiheit" bezeichnen möchte (im Sinne von "meine Freiheit ja, deine Freiheit nein"), muss die andere(n) Form(en) ebenso bezeichnen.

    Es geht um gesellschaftliche, ökonomische und politische Teilhabe.

    Und letzten Endes ist es ganz einfach: Die ökonomische Teilhabe (der berühmte Hauptgegensatz) lässt sich in Durchbrüchen (oder Rückschritten) messen, während die gesellschaftliche graduell und ein Prozess ist. Im politischen Bereich trifft sich beides bzw. ist beides anzutreffen, für ersteres ist das Politische jedoch wichtiger.

    Soll heißen: Verteilungsgerechtigkeit muss (sofort oder irgendwann) durchgesetzt werden, bei "liberaler Gleichstellungspolitik"/Antidiskriminierungspolitik kann man bei sich selbst anfangen und jeden Tag ein bisschen besser werden. Daher macht es durchaus Sinn, das eine als Hauptziel zu formulieren und das andere als Anspruch immer dabei zu haben.

  • Der Elephant im Raum hier ist der Begriff des politischen Kampfes, und um den machen die Autorinnen einen viel zu großen Bogen. Wenn sie Standing Rock zitieren und behaupten, dass "spektrenübergreifende Mobilisierung und ihr globales Divestment, dass Identitätspolitiken in der Lage sind, sich zu pluralisieren und über ein einzelnes Diskriminierungsverhältnis hinaus allianzbildend zu wirken", so stimmt das. Aber das hat auch für die vielen, mitunter kraftvollen Protest-Bündnisse der globalisierungskritischen Bewegung gegolten, und für viele andere Protestbewegungen. Allein, sie alle sind an ihrer Flexibilität und Pluralisierung eingegangen, bzw. sie konnten mit dieser dünnen Schicht an Soldarität kaum der staatlichen Repression widerstehen.

    Andersherum gesagt: Je pluraler und diverser ein Protest aufegestellt ist, desto nichtssagender sind die Forderungen, und desto leicheter ist es für die politischen Gegner, diese Bewegung zu spalten.

     

    Anstatt hier kompromissversessen ein "es geht auch immer beides, Freiheit UND Gleichheit!" zu skandieren, wäre es doch sehr schön, wenn endlich jemensch öffentlich drüber nachdenken würde, wie politischer Kampf von links die Neofaschisten zurückdrängt, drohende (ggf atomare) Kriege verhindert und Klimagerechtigkeit hergestellt werden. Erst wenn diese Ziele erstritten sind, werden wir uns ausgiebig wieder über Binnen-I und all die Sternchen unterhalten können.

    • @Comandanta Ramona:

      Zustimmung. Plurale Bewegungen entfalten immer da große Stärke, wo sie für oder (meistens) gegen ein konkretes Ziel kämpfen, besitzen darüber hinaus aber kaum Bindungskraft. Langen Atem gibt es eher bei umfassenden Zielen, in denen sich viele wiederfinden und die trotzdem hinreichend konkret sind (Kommunismus, Geschlechtergleichheit, Dekolonialisierung usw.) - das, was heute gern "große Erzählungen" genannt wird. Was man daraus folgern soll, ist mir allerdings einstweilen unklar...

  • Ich habe den Artikel 2 Mal gelesen, und nichts essentielles ist festzustellen.