Debatte Politischer Extremismus: Wenn Dämme brechen
Politische Prognosen sind oft unzuverlässig, vor allem bei der Vorhersage von Extremereignissen. Ein Blick aus der Katastrophenforschung.
W ie real sind die Gefahren des politischen Extremismus für den Fortbestand des demokratischen Rechtsstaats? Naheliegender Anlass für diese Frage ist der Aufstieg rechtspopulistischer, nationalistischer und zumindest in Teilen antidemokratischer Parteien in Europa, mitunter schon in Regierungsverantwortung. Im Parlament des größten EU-Landes ist eine rechte Partei vertreten – und zwar als drittstärkste Kraft.
Drängend ist die Frage auch angesichts des bevorstehenden Abgangs der letzten Zeitzeugen des Holocaust – jener zivilisatorischen Katastrophe, die noch immer zentraler Referenzrahmen der politischen Identität in Deutschland ist. Dieser Verlust von authentischer Zeugenschaft schmerzt besonders in Zeiten, in denen Stimmen laut werden, die in der Erinnerungskultur „eine Wende um 180 Grad“ fordern. Zuschüsse für Schulfahrten zu KZ-Gedenkstätten, um nur ein Beispiel zu nennen, sollen gestrichen werden.
Die Angriffe auf die Grundfesten unseres historischen Selbstverständnisses machen fassungslos. Zugleich versucht man sich zu vergewissern, dass diese Meinungen niemals mehrheitsfähig werden. Man hört sich selbst zuflüstern, es handle sich um eine jener Phasen, die die europäische Politik immer wieder durchmacht, die aber vorbeigehen, ohne unseren liberalen Gesellschaften ernsthaft zu Leibe zu rücken. Auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren gibt zu verstehen, dass unser Staatssystem auf recht festem Grund steht und sich nicht von einem versprengten Haufen Verfassungsfeinde aus den Angeln heben lassen wird.
Der Haken ist nur, dass politische Prognosen dazu tendieren, sehr unzuverlässig zu sein. Besonders problematisch wird es bei der Vorhersage seltener Extremereignisse. Warum dies so ist, beschäftigt die Katastrophenforschung. Im Zentrum stehen hierbei meist Naturgefahren und technische Desaster. Politische Katastrophen werden hingegen kaum berücksichtigt. Dabei liefert diese Forschung beunruhigende Hinweise auf unseren Umgang mit den Gefahren der politischen Polarisierung, Radikalisierung und Dehumanisierung. Drei Punkte erscheinen besonders wichtig.
Der erste Punkt betrifft die Erinnerung an vergangene Katastrophen. Diese verblassen erstaunlich schnell. Sobald der Fluss einige Zeit nicht mehr über die Ufer getreten ist, beginnt man wieder näher am Ufer zu bauen. Eine besondere Herausforderung in Einwanderungsgesellschaften ist hierbei, lokale Gefahren und Risiken Neuzugezogenen zu vermitteln.
Katastrophen sind nie unausweichlich
Zweitens werden überraschende Ereignisse häufig als Sonderfall abgetan und die eigenen Grundannahmen nicht überprüft. Mithilfe von Ad-hoc-Erklärungen, beispielsweise menschlichem Versagen, werden die etablierten Prognosemodelle geschützt. So zeigen Studien, dass Unfälle in Kernkraftwerken deutlich häufiger auftreten, als die gängigen Modelle dies vorhersagen. Auch bei diesem Aspekt fällt es nicht schwer, Parallelen zum Umgang mit der NS-Diktatur zu erkennen. Die Mär vom anständigen deutschen Volk, das von wenigen Scharlatanen verführt wurde, hält sich trotz zahlloser gegenteiliger Beweise hartnäckig.
Eine dritte Erkenntnis ist, dass die wahrgenommene Stabilität der bestehenden Verhältnisse leicht zu einer Vernachlässigung der Vorkehrungen für den Ernstfall führt. Wichtige Schutzmechanismen gelten schnell als ineffizient und unnötig. Dieses in der Forschung als Verwundbarkeitsparadox bekannte Phänomen tritt umso stärker auf, je sicherer wir uns fühlen.
ist Pädagoge und Herausgeber (u. a. „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“). Er ist Mitinitiator der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen.
Beispielsweise sind viele Haushalte in Ländern mit instabiler Stromversorgung deutlich besser auf einen Blackout vorbereitet als jene in hochentwickelten Staaten. Übertragen auf politische Risiken stellt sich die Frage, ob wir uns auch hier nicht ein Stück zu sicher fühlen und so die Vorsorge vernachlässigen. Was bedeutet das für den Umgang mit dem Rechtsextremismus?
Zivilisatorische Katastrophen sind immer und überall möglich. Entscheidend ist: Katastrophen sind nie unausweichlich. Wie auch im Umgang mit Naturgefahren sind allerdings permanente Anstrengungen notwendig, um sich gegen schleichende Erosionen zu verteidigen. Vorhandene Dämme müssen erneuert, neue Schutzmechanismen errichtet werden.
Vorsorge muss in sicheren Zeiten getroffen werden
Der wichtigste Schutzwall zur Vorbeugung politischer Risiken ist die wehrhafte Demokratie. Sie stützt sich auf den Rechtsstaat, der denjenigen, die die demokratischen Werte verhöhnen und negieren, Grenzen aufzeigt. Zudem ist die Zivilgesellschaft gefordert. Denn die historische Erfahrung zeigt, dass selbst der stärkste Staat allein keinen vollumfänglichen Schutz gewährleisten kann.
Terroristische Angriffe können trotz hochgerüsteter Polizei und Nachrichtendienste nicht vollständig verhindert werden. Welchen langfristigen Schaden solche Attacken haben, hängt jedoch entscheidend davon ab, wie widerstandsfähig, aber auch wie anpassungsfähig die Gesellschaft im Umgang mit neuen Herausforderungen ist. Die Katastrophenforschung spricht hier von systemischer Resilienz. Diese speist sich aus den Fähigkeiten und Ressourcen aller gesellschaftlichen Akteure.
ist Politikwissenschaftler und forscht an der ETH Zürich zu den Themen Katastrophenvorsorge und gesellschaftliche Resilienz.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass ein hohes Maß an gesellschaftlichem Engagement sowie gegenseitigem Vertrauen notwendige Voraussetzungen für eine effektive Risikovorsorge sind. Wichtig ist nicht zuletzt eine Selbstwirksamkeitserwartung aufseiten der Bürger, das heißt, dass jeder das Gefühl hat, dass es auf ihn ankommt.
Egal ob im Umgang mit Naturgefahren oder politischen Risiken, entscheidend ist, dass Vorsorge in (vermeintlich) sicheren Zeiten getroffen wird. Die Worte des Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer dienen hier als Warnung: „Geschichte wiederholt sich zwar nicht, was aber einer Minderheit geschah, kann in anderen Formen und Zeiten anderen Minderheiten widerfahren. Steht für die Werte unserer Demokratie ein und verteidigt sie – und zwar rechtzeitig.“ Kommt es erst einmal zur Katastrophe, ist es dafür zu spät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands