Debatte Macchiato-Mütter: Projektkinder der Edeleltern
Die Macchiato-Eltern tun alles für ihre Kinder und versäumen, ihnen etwas Wichtiges zu vermitteln: Scheitern ist nicht das Ende der Welt.
I n Ostberlin, Stadtteil Prenzlauer Berg, macht sich, wer auf sich hält, am Samstagvormittag auf Richtung Wochenmarkt. Dort, zentral am Kollwitzplatz situiert, gibt es dann ein großes Hallo. Männer Ende dreißig, das sich bereits lichtende Haupthaar kunstvoll drapiert, belagern die Coffeebar. Gestiefelte Frauen in kurzen bunten Kleidchen sichten das Schnittblumenangebot und trinken den ersten Latte macchiato des Tages. Währenddessen umspielen zahllose Kinder, angezogen wie kleine Lords und Ladys auf Studienreise, ihre Knie, rasen mit dem Laufrad zwischen den Erwachsenen umher oder rütteln probehalber an den Auslagen des Gemüsehändlers. Beschwert sich jemand, gibt's böse Blicke.
Das große Missverständnis
Ja, auf dem Berliner Kollwitzmarkt lässt sich allwöchentlich sehr schön das neue Missverständnis beobachten, dem die urbane Elterngeneration, die so genannten Macchiatomütter und -väter, erlegen ist. Es lautet: Das Kind ist unser Lebensinhalt. Es ist alles in einem, muss es sein: Glück, Sinn, Statussymbol, Jungbrunnen. Das aber ist ein folgenschwerer Irrtum. Wer kein eigenes Leben hat, den wird eben dieser Lebensentwurf enttäuschen, enttäuschen müssen.
Selbstredend ist ein Kind etwas Wunderbares. Von niemandem wird ein Erwachsener so vorbehaltlos geliebt, kein anderer Mensch sieht so über offenbare Schwächen hinweg und schenkt für die bloße Existenz als Mutter oder Vater dermaßen viel Bewunderung. Großartig. Problematisch aber wird es, wenn das Kind herhalten muss für etwas anderes Sinnstiftendes – einen interessanten Job etwa oder die Frage, ob die eigene Beziehung noch trägt. Wenn es zur Ausrede wird dafür, sich beruflichen oder sozialen Konflikten nicht stellen zu müssen.
Gar nicht so selten entscheiden Frauen sich für ein weiteres Kind, wenn es beruflich gerade hakt oder die Beziehung einen Kick braucht. Anzunehmen, dass es seit der Einführung der Vätermonate auch bei immer mehr Männern diese Idee gibt. Ein Kind ist ja nicht nur ein gesellschaftlich akzeptierter Grund, eine Auszeit zu nehmen. Es macht in unserer demographisch gebeutelten Gesellschaft zugleich aus seiner Mutter und seinem Vater sozial höherstehende Edelwesen, die sich ihres privilegierten Status verdammt sicher sein können. Denn machen wir uns nichts vor – der Habitus, mit dem gerade in Großstädten Eltern mit ihren Tausendeurokinderwagen oder Hightechfahrradanhängern die Gehwege entlang pflügen, ist mitunter eine Zumutung. Er postuliert eine Hoppla-hier-komm-ich-Haltung und macht deutlich, dass hier aus dem Weg zu springen hat, wer sich nicht fortpflanzt.
Parkettkinderzimmer
Gemessen in Lebenszeit ist dies jedoch ein kurzer Triumph. Denn was Außenstehende nicht sehen, ist: hinter den Türen der Altbauwohnungen, in den Wohnküchen und Parkettkinderzimmern wächst eine Generation heran, die ihre Eltern fest im Griff hat. Kinder, die schon jetzt ihre Familie dominieren und die den Teufel tun werden, wenn es darum geht, später einmal Verantwortung für andere zu übernehmen. Denn für sie gilt stets: Me first. So erleben sie es Tag für Tag von ihren Eltern, die sich ihnen als Personal zur Verfügung stellen.
Es gibt sie tatsächlich, Mütter und Väter, die sich den Urlaub sparen, weil sie meinen, ihrer Charlotte unbedingt die bilinguale Privatschule zahlen zu müssen. Freiberufler, die sich keine Unfallversicherung leisten, weil Jonathan sich die Reitbeteiligung offenbar so sehr wünscht. Vollzeitmütter, die kein eigenes Leben mehr haben, weil sie wie eine amerikanische Soccer Mom das ihrer Kinder organisieren und optimieren. Jederzeit verfügbar. Heraus kommen Hochdruckkinder, die Mandarin lernen und Schlagzeug, und deren Mütter nur noch andere Mütter kennen und die alles dafür tun, dass das Leben ihres Kindes gelingen möge. Weil sie wenigstens das zufrieden machen könnte.
Und was ist mit ihrem Leben? Was mit Arbeit, eigenen Freunden, erwachsenen Interessen, der Beziehung? Warum sind Eltern bereit, für ihre Nachkommenschaft alle eigenen Träume fahren zu lassen? Es ist das Politische, das hier ins Private schwappt. Eine Gesellschaft, der die Sinnhaftigkeit von Arbeit verloren gegangen ist, die keine einigermaßen planbaren Biographien mehr kennt und als Ersatz für berufliche Entwicklung sich selbst aufgebende, steuerfinanzierte Elternschaft anbietet, ist tief verunsichert.
Verunsicherte Hedonisten
Das Kippelige ist ja exakt das Gegenteil von dem, was sie von zu Hause kennen. Und wie dramatisch wird es erst, wenn der eng gestrickte Familienplan auch noch scheitert – weil einer arbeitslos wird oder krank, oder weil vor lauter Happy Family das Paar selbst auf der Strecke bleibt. Sex, Humor, sowas. Da heißt es dann, wenigstens die Sache mit den Kindern gut hinbekommen.
Diese neuen protestantischen Hedonisten bringen Bestimmerkinder hervor. Kinder, die es gewöhnt sind, dass alles in ihrem Sinne entschieden wird. Für die es das Normalste ist, dass, für sie das Beste gerade gut genug ist. Die andere, die dysfunktionale Versagerwelt da draußen, soll mal schön draußen bleiben, das kann dann später der Sozialkundelehrer erklären.
Seit der Wende sind achtzig Prozent der ursprünglichen Bewohner aus dem Prenzlauer Berg weggezogen. Statt ihrer sind vor allem jene gekommen, die der kleinstädtischen Enge ihrer Eltern entfliehen wollten. Sie haben in den Neunzigern noch ein bisschen Party gemacht und was mit Medien. Unterwegs ist ihnen, und zwar meist den Frauen, irgendwie der Studienabschluss aus dem Blick geraten, erst recht, als die Kinder kamen. Dann haben sie halt das gemacht. Und sie haben Schulen gegründet, Tempo-30-Zonen erstritten, Wohnungen gekauft und schließlich sind sie wieder in die Kirche eingetreten.
Samstags ziehen sie sich und den Kindern was Hübsches an und brechen auf zum Kollwitzmarkt. Großes Hallo. Kleinstadt halt. Abends wird mit befreundeten Elternpaaren Biowein getrunken. Und wenn spätnachts besoffene Touristengruppen die Kollwitzstraße entlangmarodieren, reißen sie die Energiesparfenster ihrer Eigentumswohnung auf und kreischen „Ruhe, hier schlafen Kinder!“ Oder sie holen gleich die Polizei.
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