Debatte Lage auf dem Balkan: Korruption und Krise
Im Norden von Mazedonien explodierte vergangene Woche die Gewalt. War das ein Auftakt neuer bewaffneter Kämpfe in der vernachlässigten Region?
A m vergangenen Samstag umzingelte die mazedonische Polizei in einem Vorort der Stadt Kumanovo eine schwer bewaffnete albanische Gruppe. Die Gefechte dauerten den ganzen Tag. Panzerfahrzeuge und schweres Gerät wurden eingesetzt. Für kurze Zeit herrschte Kriegszustand. Mindestens 22 Menschen wurden getötet, 8 Polizisten und 14 Terroristen, teilte das mazedonische Innenministerium mit.
Dutzende Menschen auf beiden Seiten wurden verwundet, Dutzende an den Gefechten beteiligte Albaner festgenommen, viele mit einer kosovarischen Staatsbürgerschaft. War das ein isoliertes Phänomen oder die Ankündigung neuer bewaffneter Auseinandersetzungen auf dem im Schatten der EU-Krise, der Ukraine und des „Islamischen Staates“ vergessenen und vernachlässigten Westbalkan?
Über die Hintergründe der Aktion in Kumanovo, über die Vorhaben der bewaffneten albanischen Bande weiß man wenig. Mazedonische Behörden behaupten, sie hätte terroristische Aktionen geplant, und feiern nun die, trotz der vielen Opfer, „gelungene“ Operation. Sicher ist jedoch eines: Viele, sehr viele, wahrscheinlich die meisten Menschen in dieser ethnisch gemischten und geteilten Region werden das Blutbad nicht als eine Abrechnung der Polizei mit einer illegalen Truppe betrachten, sondern als Zusammenstoß der slawisch-orthodoxen Mazedonier mit Albanern.
Egal was tatsächlich geschah, geschieht, oder geschehen wird, die Serben hegen zwangsläufig Sympathien für die orthodoxen mazedonischen Brüder und Abneigung gegen die Albaner. Und umgekehrt, die Albaner aus dem Kosovo und Albanien werden sich a priori hinter die in Serbien, Mazedonien, Griechenland und Montenegro verstreuten Volksgenossen stellen. Das nationale Empfinden steht über jeder Ideologie.
Keine Überraschung
Niemanden, der sich die Zeit nahm, zwei und zwei der regionalen Missstände zusammenzuzählen, hat das Gemetzel in Kumanovo überrascht. Die Arbeitslosigkeit in der Region liegt zwischen 30 und 90 Prozent.
Am schlimmsten ist sie im Kosovo, das die jüngste Population in Europa hat. Millionen junger Menschen leben in Armut, haben keine Perspektive, keine Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Frust ist groß, der Unmut gewaltig, auch wegen der Korruption, wegen ungelöster ethnischer und staatlicher Verhältnisse. In extremen gesellschaftlichen Zuständen ist man anfällig für extremistische Ideen.
Der Frieden in Mazedonien beruht auf dem 2001 nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Mazedoniern und Albanern unterzeichneten Abkommen von Ohrid. Obwohl seitdem eine albanische politische Partei stets an der Regierung beteiligt ist, leben sich die Mazedonier und die rund 30 Prozent Albaner auseinander. In Skopje hat sich, ganz so wie in Belgrad, ein autoritäres, autokratisches Regime etabliert, das die Form einer Demokratie aufrechterhält, im Wesentlichen jedoch die Idee einer freien, bürgerlichen Gesellschaft mit unabhängigen Medien und unabhängiger Justiz erstickt und Polizei und Geheimdienste missbraucht.
Kosovo geht in Korruption und organisiertem Verbrechen vor der Nase der EU-Mission Eulex und der internationalen Friedenstruppe unter, die Anerkennung wird von Serbien, mit der Unterstützung Moskaus, wo immer es geht, blockiert. Bosnien und Herzegowina ist ein ethnisch geteilter, funktionsunfähiger Staat, der nicht zusammenwächst. Es gibt nicht den geringsten Fortschritt.
Wachsende Frustration
Manche würden sagen, ja, aber Hauptsache ist, dass nicht mehr gemordet wird. Wie lange noch? Beziehungsweise: Hat es mit Kumanovo schon wieder begonnen?
Der Frieden kehrte nach Bosnien und Kroatien (im jüngsten EU-Staat liegt übrigens die Arbeitslosigkeit ebenfalls bei rund 27 Prozent) vor genau zwanzig Jahren zurück. In Serbien werden es in diesem Oktober fünfzehn Jahre nach der demokratischen Wende sein. Das Land hat im Januar 2014 die Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen, kein einziges Kapitel wurde jedoch bisher geöffnet, der europäische Integrationsprozess Serbiens wird an die Lösung der Beziehungen mit Prishtina geknüpft.
Die Geschichte lehrt uns, dass aus dem Zustand der Massenarbeitslosigkeit, der unverheilten Kriegswunden, der gegenseitigen Schuldzuweisung, der Aussichtslosigkeit und Verzweiflung nichts Gutes herauskommen kann. Die Völker des Balkans sind Demut gewöhnt, aber das Bewusstsein, dass sich sozial und wirtschaftlich nichts verbessern wird, verbreitet sich unaufhaltsam – und somit die Ungeduld. Der Glaube an die EU verschwindet.
Das Spiel mit dem Feuer
Und das bekannte Muster für Machterhaltung liegt allen regionalen Machthabern und denen, die es werden wollen, zur Hand: der anderen Nation die Schuld an der eigenen Misere zuzuschieben, mit einem nationalistischen Kampfaufruf die eigenen Reihen zu schließen. Man kennt es: Auch wenn man nicht wirklich größere Konflikte provozieren möchte, das Spiel mit dem Feuer auf der Spielwiese der allgemeinen Frustration gerät leicht außer Kontrolle und verwandelt sich in ein Fegefeuer.
In Belgrad betrachtet man die Krise in Mazedonien in Zusammenhang mit der großalbanischen Idee, der „ungelösten albanischen Frage“. Erst neulich sorgte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama für Aufregung mit der Aussage, dass Albanien und der Kosovo „gezwungen sein werden, sich auf klassische Weise“ zu vereinigen, sollte ihre Vereinigung im Rahmen der Europäischen Union zu lange auf sich warten lassen. Großalbanische Landkarten umfassen neben Albanien und dem Kosovo Teile Serbiens, Mazedoniens, Montenegros und Griechenlands.
Man stelle sich vor, acht Polizisten wären in Berlin oder Paris im Gefecht mit Terroristen nichtdeutscher oder nichtfranzösischer Abstammung getötet worden. Die gesamte westliche Welt wäre auf den Beinen. Es geschah aber in Mazedonien, weit von Kerneuropa entfernt, dort, wo schon zweieinhalb Jahrzehnte keine Ruhe einkehrt. Die EU, die USA, die OSZE und so weiter riefen alle da unten auf, sich zurückzuhalten und sich zu vertragen.
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