Debatte Krise in Griechenland: Schockstarre in Euroland
Absolute Dominanz: Vier Wochen nach dem Krisengipfel zu Griechenland wagt es in Brüssel niemand mehr, Berlin zu widersprechen.
E s gibt Ereignisse, die sind so einschneidend, dass man sie lange nicht verarbeiten kann. Der Euro-Gipfel vom 12. und 13. Juli war so ein Ereignis. In einer bedrückenden, fiebrigen Nachtsitzung drückten Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble nicht nur Griechenland, sondern der ganzen Eurozone ihren Stempel auf.
Mit der Drohung, Athen „zeitweise“ aus dem Euro auszuschließen, setzten sie die härtesten Bedingungen durch, die es in der an Pressionen und Diktaten reichen Geschichte der Eurokrise je gegeben hat.
Seitdem hat sich nicht nur Griechenland erschreckend verändert – von einem stolzen Land, das ein trotziges „Ochi“ wagte, zu einer willenlosen Kolonie der wiederauferstandenen Troika. Ganz Europa wirkt wie gelähmt.
Die 19 Euroländer haben einem Deal zugestimmt, an denen sie selbst nicht glauben. Der Internationale Währungsfonds ist Teil einer „Rettung“ geworden, die er längst zum Scheitern verurteilt weiß. Doch niemand traut sich noch, Nein zu sagen. Europa steht unter Schock, eine bleierne Starre hat Euroland erfasst.
Fehlender Mut zur Analyse
Am deutlichsten lässt sich das an der EU-Kommission und ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker ablesen. Angetreten, die EU auf einen sozial verträglichen Erholungskurs zu bringen, wagt Juncker es heute nicht einmal mehr, eine Folgenanalyse zum neuen Spardiktat für Griechenland vorzulegen. Der Mann, der eine „politische Kommission“ leiten wollte und sich noch im Juni als selbstbewusster Vermittler präsentierte, bettelt heute in Berlin um Genehmigung für das neue Memorandum.
Auch die Eurogruppe hat sich verwandelt. Einst war sie von Frankreich erfunden worden, um den Grundstein für eine auf Wachstum orientierte „Wirtschaftsregierung“ zu legen. Doch heute ist in diesem informellen Gremium keine wirtschaftspolitische Debatte mehr zu führen. Der griechische Exfinanzminister Gianis Varoufakis hat es versucht – und ist krachend gescheitert. Die Eurogruppe ist unter Schäubles unheimlicher Leitung nur noch ein Club von Kleinkrämern, die sorgfältig darauf achten, dass deutsche „Stabilitäts“-Regeln eingehalten werden.
Volkswirtschaftliche Erkenntnisse spielen dabei ebenso wenig eine Rolle wie demokratische Gepflogenheiten. Im Gegenteil: In der Eurogruppe des Jahres 2015 gehört es zum guten Ton, sich über das Ergebnis von Wahlen und Volksentscheiden hinwegzusetzen und Entscheidungen auf der Basis geheimer, keiner öffentlichen Debatte zugänglicher „Non-Paper“ vorzubereiten. Schäuble hat dies vor dem Euro-Gipfel mit seiner Vorlage zum „Time out“ für Griechenland zu einer perfiden Perfektion getrieben.
Kommando statt Konsens
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass viele Menschen das Gefühl beschleicht, dies sei nicht mehr ihr Europa. Vor allem die Südeuropäer verlieren den Glauben an die Demokratie, wie ausgerechnet das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft herausgefunden hat. Aber auch in Deutschland wächst die Unzufriedenheit. Während Merkel und Schäuble neue Zustimmungsrekorde feiern, sind 56 Prozent der Deutschen der Meinung, die Griechenland-Krise sei schlecht gemanagt worden.
Beim Euro-Gipfel wurde zwar die unmittelbar größte Gefahr abgewendet: ein Grexit und seine chaotischen Folgen. Doch gleichzeitig ist das bisher wichtigste Gut zerbrochen: der europapolitische Konsens – und zwar sowohl bei den Bürgern als auch bei den Politikern. Zum ersten Mal in der EU-Geschichte haben Merkel und Schäuble einem Mitgliedsland unverhohlen mit dem Austritt gedroht. Und zum ersten Mal haben sie sich offen über Frankreich hinweggesetzt, das Griechenland im Euro halten wollte und die „Grexit“-Debatte ablehnte. Das wird Folgen haben.
Man muss nicht gleich so weit gehen wie Shahin Vallée, ein ehemaliger Berater des ehemaligen Ratspräsidenten Herman van Rompuy. Der Griechenland-Deal könne den Euro zerstören, weil er das Vertrauen zwischen Deutschland und Frankreich untergrabe, warnte der Franzose. Man muss auch nicht so schwarz sehen wie der Grieche Varoufakis, der Schäuble unterstellt, sein eigentliches Ziel sei es, Frankreich zu disziplinieren. Klar ist jedoch, dass der Euro-Gipfel einen Bruch im deutsch-französischen Verhältnis markiert.
Warm anziehen muss sich auch die EU-Kommission. Schäuble gibt sich nämlich nicht damit zufrieden, Juncker in die Schranken zu weisen und jede „Einmischung“ in die Geschäfte der Gläubiger zurückzuweisen. Als Nächstes möchte er auch noch die Kompetenzen der Brüsseler Behörde bei der Überwachung der EU-Verträge und im Wettbewerbsrecht beschneiden – etwa durch Schaffung einer unabhängigen Kartellbehörde. Offenbar will er die Gunst der Stunde nutzen, die Macht in Brüssel zu brechen.
Deutscher Durchmarsch
Der deutsche Durchmarsch in Griechenland wäre, so gesehen, nur das Vorspiel für einen viel größeren Kampf. Wenn es Berlin gelänge, Paris an den Rand zu drängen und Brüssel zu schwächen, hätte das „deutsche Europa“ gesiegt. Dann könnte sich niemand mehr deutschen Wünschen widersetzen – abgesehen vielleicht vom britischen Premier David Cameron, den Merkel und Schäuble für ihre Machtspielchen immer noch brauchen. Den Grexit planen, den Brexit verhindern, heißt deshalb Schäubles Devise.
Ob diese Strategie aufgeht, wird sich in den nächsten zwei Jahren zeigen – bis zum Referendum in Großbritannien und zur Präsidentschaftswahl in Frankreich. Auch in Deutschland wird 2017 gewählt. Auf die EU kommen deshalb die wichtigsten Monate ihrer Geschichte zu. In ihnen wird sich entscheiden, ob die Union zerfällt, ob sie sich noch einmal berappelt – oder ob sie sich in die scheinbar alternativlose deutsche Führung ergibt. Höchste Zeit also, eine Debatte über Europa zu führen – auch und gerade in Deutschland, wo die Strippen gezogen werden.
Doch diese Debatte kommt nicht in Gang. Nicht nur in Brüssel, auch in Berlin hat nach dem Debakel beim Euro-Gipfel im Juli eine posttraumatische Schockstarre eingesetzt, die das Denken lähmt. Das ist gefährlich. Denn es gibt Schäuble und den Apologeten des deutschen Europa eine Macht, die ihnen nicht zusteht.
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