Debatte Iran und Saudi-Arabien: Ungleiche Rivalen
Iran und Saudi-Arabien bestehen nicht nur aus zwei Regimen, sondern auch aus zwei Gesellschaften. Und die sind grundverschieden.
S ind Iran und Saudi-Arabien eigentlich menschenleere Gebiete ohne Bürger, ohne Gesellschaften? In diesen Tagen wird über beide Länder oft gesprochen, als bestünden sie nur aus Regimen. Dieser eingeschränkte Blick zeichnet dann zwei gleichermaßen unsympathische und von Religion besessene Systeme, deren Rivalität schon deshalb kaum überrascht, weil hier eben zwei Ähnliche miteinander ringen.
Und diese Ähnlichen, so folgt die Logik auf dem Fuße, nehmen das Einzige, was sie wirklich trennt, eben essenziell wichtig: die Konfession – Sunnitentum und Schia.
Wenn wir den Blick ein wenig weiten, entsteht ein anderes Bild. Dann sehen wir zwei Gesellschaften, die sich in sehr unterschiedlichem Takt modernisieren und in denen trotz verwandter sozialer oder wirtschaftlicher Probleme das Wichtigste doch grundverschieden ist: Lebensgefühl, Geschichtsbewusstsein, zivilgesellschaftliches Niveau.
Eben aus Saudi-Arabien zurückgekehrt, fällt mir auf, wie selten mir dort etwas passiert, das in Iran so häufig ist: Junge Frauen, neugierig und weltoffen, sprechen eine Ausländerin an, mit Fragen nach dem Woher und Wohin, mit Lust auf Austausch. Gleichaltrige Saudis scheinen reservierter, selbstbezogener, vielleicht unsicherer.
Dabei dominiert in beiden Ländern heute eine gebildete junge Generation; allen Stereotypen zum Trotz machen in Iran wie in Saudi-Arabien mehr Frauen als Männer einen Universitätsabschluss. Ähnlich ist auch eine hohe Scheidungsrate, die auf die Risse im Gefüge familienzentrierter Kulturen verweist; mehr Scheidungen werden dabei von Frauen beantragt.
Die Frauen
Deren Lage ist in beiden Ländern ein Indikator des Wandels – allerdings mit einem gefühlten halben Jahrhundert Abstand. In Saudi-Arabien gilt ein bizarres Vormundschaftsrecht, es macht Frauen lebenslang zum Mündel. Dagegen regt sich Widerstand, jedoch bisher nur von einer kleinen Minderheit. In Iran hat hingegen die Masse der Frauen durch Bildungshunger und Berufstätigkeit die Alltagskultur rasant verändert.
Die Iranerinnen sind heute im öffentlichen Leben so präsent, dass bei der zurückliegenden Präsidentschaftswahl jeder Bewerber um ihre Stimmen warb. Obwohl Iranerinnen über anhaltende Benachteiligung klagen, empfänden sie es als Beleidigung, mit den saudischen Schwestern auf eine Stufe gestellt zu werden.
Gewisse Freiheiten sind in beiden Systemen käuflich. Reiche haben Bars und Swimmingpools, ob im nördlichen Teheran oder hinter den Mauern saudischer Villen. In beiden Ländern wurde die ominöse Religionspolizei in jüngster Zeit zurückgepfiffen – vielleicht wird sie hier wie dort als obsolet betrachtet angesichts der Umbrüche, die durch Wirtschaftskrisen und die absehbare Endlichkeit des Öls erzwungen werden.
Doch bleibt in der saudischen Gesellschaft religiöser Extremismus viel stärker beheimatet als in Iran. Auf einer Liste von Ländern, aus denen die meisten Pro-IS-Tweets kommen, steht das Königreich ganz oben. Die völlige Abwesenheit von Religionsfreiheit war jetzt im Ramadan besonders augenfällig: Vor dem Fastengebot kuschen öffentlich auch Zigtausende nichtmuslimische Arbeitsmigranten von den Philippinen oder aus Nepal. Keine Kirche im Land zu dulden, keine Synagoge, wäre für Iraner dagegen undenkbar.
Das Internet
Junge Saudis sind netzaffin; die Iraner sind es bereits viel länger, sie machten vor, wie man sich Kanäle zur Selbstverständigung schafft, jenseits von Staatsmedien oder klerikaler Zensur. Aber das Netz spiegelt heute hier wie dort auch den politischen und religiösen Kampf um Köpfe und Herzen, es ist längst nicht mehr alleinige Domäne von Freigeistern oder Dissidenten, sondern ebenso eine Bühne von Konservativen und Hardlinern.
Die saudischen Aktivistinnen gegen das Fahrverbot haben eine virtuelle Anhängerschaft, doch sie kann sich nicht mit dem Millionenpublikum einer erzkonservativen Predigerin messen. Auch die männlichen Twitterstars der Saudis sind meist Religiöse.
Was beide Gesellschaften indes am deutlichsten trennt, nenne ich ihr „In der Zeit sein“: Iraner beziehen ihren Nationalstolz vor allem aus der vorislamischen Epoche, aus einer Jahrtausende langen Kulturtradition. Die Saudis betrachten hingegen die Zeit, bevor der Prophet Mohammed ihre sandige Bühne betrat, als dunkle, vorzivilisatorische Ära. Vielleicht können sie deshalb den iranischen Stolz auf das einstige Persische Reich nur als Ausdruck heutigen Teheraner Hegemonialstrebens interpretieren.
Als der Staat Saudi-Arabien 1932 auf dem jetzigen Territorium gegründet wurde (nach zwei kleineren Vorläufern), hatten die Iraner bereits eine konstitutionelle Revolution auf die Beine gestellt, ein Parlament etabliert, eine Verfassung debattiert, Gewerkschaften gegründet.
Bürgerrechtliches Ringen
Nach Zentralarabien kam die Modernisierung verspätet mit den US-amerikanischen Ölfirmen, und sie beschränkte sich aufs Technisch-Materielle. Die Iraner blieben hingegen das ganze 20. Jahrhundert über in Unabhängigkeitskämpfe verstrickt. 1953 verstaatlichten sie ihr Öl, als Strafe folgte ein von USA und Briten inszenierter Putsch. Die Revolution von 1979 war Teil einer langen Kette immer neuer Anläufe, die bis in unsere Tage reicht. Dieser lange Atem bürgerrechtlichen und intellektuellen Ringens ist der saudischen Gesellschaft fremd, mit Ausnahme Einzelner.
Irans Versuch, nach 1979 einen revolutionären Islam zu exportieren, auch in die sunnitische Welt, scheiterte. Anders die Saudis: Sie betrieben im selben Zeitraum erfolgreich die reaktionäre Mission, trugen ihren Wahhabismus bis in die hinteren Winkel Westafrikas und Indonesiens.
Irans Revolutionsführer Ali Chamenei nannte Saudi-Arabien kürzlich eine „rückwärtsgewandte Stammesgesellschaft“, während in Iran gerade 40 Millionen Menschen zur Wahl gegangen seien. Viele Iraner, auch wenn sie dem Regime nicht nahestehen, dürften sich in dieser Beurteilung wiederfinden. Wie Donald Trump sie schmäht und die Saudis preist, empfinden sie als große Kränkung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen