Debatte Identitätspolitik: Multikulturalismus als Medizin
Dass Identitätspolitik Rechtspopulismus verursacht, stimmt schlichtweg nicht. Allerdings ist sie zum Mittel einer falschen linken Politik geworden.
D ie „Identitätspolitik“ ist in den Feuilletonspalten deutscher Zeitungen angekommen. Definiert wird der Begriff selten, aber im Tenor ist man sich weitgehend einig: Identitätspolitik spalte die Linke oder gleich die ganze Nation – und sei obendrein Schuld am Aufstieg des Rechtspopulismus.
Diese These ist nicht neu. Arthur Schlesinger war einer von mehreren Kritikern der Identitätspolitik in den 1990er Jahren in den USA, die den angeblichen Identitätsfimmel der Neuen Linken für die Erfolge der Konservativen verantwortlich machten. Auch Ed Milibands Blue-Labour-Fraktion in Großbritannien führte ähnliche Gründe als Erklärung dafür an, dass in den 2000er Jahren viele WählerInnen aus der Arbeiterklasse von New Labour zu den Tories abwanderten.
Der dieser Tage auch im deutschen Feuilleton präsente amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla formuliert also nur die aktuellste Neuauflage dieser These, wenn er die Spaltung der Nation durch die Identitätspolitik beklagt und für den Sieg von Donald Trump verantwortlich macht.
Anhand dieser Beispiele wird auch deutlich, warum diese Erklärung für SozialdemokratInnen in Europa so attraktiv ist: Die politischen Misserfolge der letzten Jahre können auf eine angeblich spaltende Kultur der Identitätspolitik zurückgeführt werden, womit jegliche Eigenverantwortung abgewehrt wird. Daher taucht diese Argumentation auch treffsicher immer dann auf, wenn sich sozialdemokratische Politik in der Krise befindet.
Der neoliberale Konsens
Daneben gibt es jedoch eine weitere Tradition linker Kritik an Identitätspolitik, die auf etwas anderes hinaus will. Diese versteht Identitätspolitik – anders als die meisten Debattenbeiträge in Deutschland – nicht als Synonym für Antirassismus und Feminismus, sondern vielmehr als eine Strategie karrieristischer und ökonomisch erfolgsorientierter Gruppen innerhalb sozialer Bewegungen, die diese Bewegungen uminterpretieren und mit dem neoliberalen Konsens versöhnen wollen.
Diese Kritik stammt meist aus den USA und es wäre ein Fehler, die hiesigen Auseinandersetzungen anhand derselben Eckpunkte und Begriffe zu führen. Aber in Europa finden sich einige Beispiele dafür, die eine vorsichtige Übertragung dieser Kritik angezeigt erscheinen lassen. In Großbritannien etwa war Identitätspolitik in den 1980er Jahren keine Angelegenheit sich organisierender Minderheiten mehr, sondern sie wurde als multikulturalistische Strukturpolitik von der Labour-Partei zur Entschärfung sozialer Probleme eingesetzt.
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre überzog eine Reihe an Aufständen britische Städte. Angeführt wurden sie von radikalisierten Jugendlichen aus asiatischen, afro-karibischen und weißen Familien. Ursächlich für die Unruhen waren rassistische Polizeigewalt, der Terror durch die faschistische National Front und die durch den ökonomischen Abschwung produzierte Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Gefordert wurde vor allem das Ende der Ungleichbehandlung und Polizeigewalt.
Multikulturalistische Strukturpolitik
Der Scarman-Report, der die Aufstände untersuchen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass fehlender Respekt anderer für und eigener Stolz auf die Gemeinschaft unter den MigrantInnen ausschlaggebend gewesen wären. Die politischen Unruhen wurden solchermaßen ethnisiert und kulturalisiert. Als Antwort auf die Aufstände wurde in den 1980er Jahren daher von mehreren von Labour geführten Verwaltungsbehörden eine Strategie erprobt, die als Multikulturalismus bezeichnet wird.
Die multikulturalistische Strukturpolitik setzte praktisch um, was Identitätspolitik theoretisch vollzieht. Ethnische Identitäten werden als homogene Gemeinschaften ohne interne Differenzierung aufgefasst, die eine einheitliche Kultur teilen, von der sich gewisse Sonderinteressen ableiten lassen. Innerhalb der migrantischen Bevölkerungsgruppen wurden rigide ethnische Kategorisierungen eingeführt.
Die Verwaltungen suchten nach SprecherInnen der oft erst durch die Beamten definierten und erschaffenen Communitys, die vor allem in religiös-konservativen Organisationen gefunden wurden. Die antirassistische und oft linksradikale Politik der jungen MigrantInnen, die sich in den Aufständen geäußert hatte, sollte auf diesem Weg in Anerkennungsfragen übersetzt und weg von der Straße geholt werden. Verhandlungen zwischen VertreterInnen ethnischer Minderheiten und lokalen Regierungen waren nun der Ort für diese Belange.
Die Strategie zeigte Wirkung: Thatchers Angriffe auf die Gewerkschaften, die Deindustrialisierung, die Neoliberalisierung der Sozialdemokratie und der Untergang des Realsozialismus machten linke Wege aus der gesellschaftlichen Misere immer schwerer denkbar.
Zugleich wurde das ethnische Führungspersonal mit finanziellen und politischen Ressourcen ausgestattet. Ein neues Denken über Unterdrückungserfahrungen wurde forciert. Von nun an wurden nicht Ausbeutung, vorenthaltene Gleichheit und ökonomische Perspektivlosigkeit als Probleme definiert, sondern es wurde ein Recht auf Differenz eingefordert und angeblich fehlender Respekt vor religiösen Praktiken kritisiert.
Der problematische Kulturbegriff
Unter der New Labour Regierung ab 1997 wurde der zuvor nur lokal angewandte Multikulturalismus zur Staatsdoktrin und die Community-VertreterInnen erlangten gesamtgesellschaftlich die Definitionsmacht darüber, was die Interessen der ethnischen Minderheiten denn eigentlich seien.
Damit stärkte der Staat aber oft die reaktionärsten Elemente der migrantischen Bevölkerung. Die Labour-Partei, die diese Politik forcierte, machte selbst seit den 1980er Jahren eine ideologische Umorientierung durch. Kultur, Gemeinschaft und Anerkennung sollten die nach Meinung vieler StrategInnen veraltete Klassenfrage ersetzen. Der von Margaret Thatcher verfolgte Neoliberalismus wurde auf ökonomischem Gebiet weitgehend akzeptiert.
Der Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Konservativen wurde nun vor allem auf kulturellem Gebiet verortet: Auf den autoritären Antimigrationsdiskurs der Tories antwortete Labour mit Multikulturalismus. Dieser hatte jenem jedoch kaum etwas entgegenzusetzen. Vielmehr reproduzierte der Multikulturalismus den Antimigrationsdiskurs unter umgedrehten Vorzeichen.
Der problematische Kulturbegriff der Neuen Rechten wurde so auch für Linke immer selbstverständlicher, die nun anfingen, für ein Recht auf Differenz einzutreten. Kulturen seien an sich wertvoll und bedroht, hieß es jetzt, weswegen sie beständig gehegt und beschützt werden müssen. Was eine Ethnie künftig tun soll, um ihre Kultur zu erhalten, wird aus dem abgeleitet, was ihre Vorfahren taten. Abstammung wird erneut zum obersten Prinzip, wodurch der Kulturbegriff zum trojanischen Pferd rassistischer Diskurse werden konnte.
Erst in den letzten Jahren fiel der Multikulturalismus in Großbritannien in Ungnade. Er wird nun für das Erstarken des islamischen Fundamentalismus verantwortlich gemacht. Dabei wird jedoch nicht die ethnisierende Strukturpolitik und das dazugehörige Denken, sondern kulturelle Diversität überhaupt zum Problem erklärt. Was nach Meinung der britischen Regierung fehle, sei Assimilation vonseiten der MigrantInnen, denen nun traditionell britische Werte abverlangt werden sollen. Damit nähert sich Großbritannien dem deutschen Modell der „Leitkultur“ an.
Das Problem mit linker Identitätspolitik
Auch in Deutschland werden in den vergangenen Jahrzehnten immer öfter Strategien verfolgt, die stark an den Multikulturalismus von New Labour erinnern. Unter dem Label „Migrantenselbstorganisation“ werden Minderheiten zur kulturellen Selbstbestimmung angespornt und AnsprechpartnerInnen bestimmt, die mit Ressourcen und politischem Einfluss ausgestattet werden. Nicht selten werden dabei säkulare zugunsten religiös-konservativer bis fundamentalistischer Organisationen übergangen.
Das Problem mit linker Identitätspolitik besteht darin, dass sie die durch den Rechtsruck beschleunigte Ethnisierung und Kulturalisierung verstärkt. Den Ideologien, die Ausschlüsse anhand von „Rasse“, Nation und Religion legitimieren, eine Politik entgegenzusetzen, die für ebenjene Kategorien Anerkennung und Respekt einfordert, führt unweigerlich zu deren Reproduktion.
Die Kulturkämpfe der Gegenwart sind demnach Ergebnis des Niedergangs der alten Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen sowie der sozialen Bewegungen gegen Diskriminierung. Individuelle Abstiegserfahrungen und -ängste, die mit dem anhaltenden ökonomischen Abschwung seit den 1970er Jahren zusammenhängen und mit Migration wenig bis nichts zu tun haben, werden als Verlust von Identität und Kultur interpretiert.
Eine neue Klassenpolitik, wie sie auch die deutsche Linke gerade diskutiert, muss einen Universalismus entwickeln, der es ermöglicht, das Feld der Kulturkämpfe hinter sich zu lassen. Selbst dort, wo sie einigermaßen erfolgreich sind, scheitern Linke in Europa jedoch derzeit an diesem Projekt. Die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn feiert zwar Erfolge, bleibt aber weiter dem Duktus der abgetrennten kulturellen Communitys verhaftet.
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