Debatte Herbst 89: Die Schauspielerklasse
Auch die DDR-Verfassung wird dieses Jahr 60 Jahre alt - doch ihre Verfassungspatrioten mussten bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten außen vor bleiben. Eine Erinnerung.
W ohl kein Wort ist im letzten Jahrhundert mehr missbraucht worden als das Wort Volk. Gefolgt vom Wort Patriotismus. Das Wort Verfassung hingegen ist vor Missbrauch weitgehend geschützt. Denn normalerweise ist eine Verfassung dem Volk zu abstrakt, als dass es sich viel dabei denken würde. Auch werden Verfassungen gemeinhin von oben gegeben wie das Jubiläumsgesetz dieser Tage.
Kluge Menschen haben den Verfassungspatriotismus längst zur einzig legitimen Form des Patriotismus erklärt. Man glaubt, solche Patrioten gibt es nur in der alten Bundesrepublik. Hier nun ist die Geschichte zu erzählen, wie das Teilvolk Ost ein Verfassungsbewusstsein bekam.
Und zwar ein DDR-Verfassungsbewusstsein, denn eine andere Verfassung besaß es nicht vor zwanzig Jahren. Da in Schriftstücken dieser Art aber meist sehr löbliche Sachen drinstehen und nie ein offenes "Wir unterdrücken euch alle!", konnte man selbst die DDR-Verfassung für revolutionäre Zwecke gebrauchen. Auch die Verfassung der DDR wird in diesem Jahr 60 Jahre alt, weshalb ihr an dieser Stelle wenigstens einmal gedacht werden soll.
Denn dass sich am 4. November 1989 eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz versammelte, hatte eine einzige große Legitimation: ebendiese Verfassung. Alles begann damit, dass drei Volksbühnen-Schauspielerinnen im Frühherbst 1989 keine Lust hatten, ordnungsgemäß den 40. Jahrestag der DDR zu begehen und winkend an Erich Honeckers Tribüne vorüberzuziehen. Da die drei Volksbühnen-Damen Annekathrin Bürger, Walfriede Schmitt und Marion van de Kamp aber die Gewerkschaft ihres Theaters repräsentierten, fühlten sie eine gewisse Restverpflichtung zur Konstruktivität, und eine sagte: Wir feiern einfach hier! Jemand ergänzte diesen Vorsatz durch die Idee, die anderen Theater der Republik auch dazu einzuladen, weshalb das Bühnenvolk des Landes auf den Demonstrationen zum 40. Jahrestag der DDR auffällig unterrepräsentiert war. Dass aber ebendieses Volk die große Demonstration in Berlin am 4. November anführen würde - Schauspieler als revolutionäre Vorhut des Volkes -, hatte auch hier seinen Grund.
In der DDR-Verfassung war ganz vorn "die führende Rolle der Arbeiterklasse" festgeschrieben. Das lag an der marxistischen Mythologie. Ein naiv-gefährlicher Artikel, Legitimationsartikel der Einparteienherrschaft. Dass der wegmuss, wird eines der ersten Dinge sein, die das bald siegreiche 89er-Volk wusste. Außerdem war er Unfug. Die Arbeiterklasse der DDR hatte diese Rolle nie ausgefüllt und im Herbst 1989 schon gar nicht. Sie war nicht die führende, sie war die abwartende Klasse. Manche nennen sie noch immer rückblickend eine strukturell reaktionäre, eine "Wir wollen Westgeld"-Klasse, aber das kommt später.
Für den Berliner Herbst 1989 sollte man - schon um der Konkretheit der Erinnerung willen - noch nachträglich "die führende Rolle der Klasse der Schauspieler" reklamieren. Dass sie schließlich auch eine halbe Million Nichtschauspieler führten, lag letztlich nur an einem kurzen organisatorischen Zwischenruf am Ende der Volksbühnen-Feierstunde am 7. Oktober, die zu einer Notberatungsstunde über die Lage der Nation geworden war. Die Gewerkschaftsvorsitzende Marion van de Kamp rief: "Die Gewerkschaftsvorsitzenden der anderen Theater bleiben bitte noch kurz da!" Und sie sprach den folgenreichen Satz, sinngemäß: Kinder, wir können doch nicht so einfach auseinandergehen, man muss das doch fortsetzen! Die anderen nickten.
Ein Rotationsprinzip wurde festgelegt. Um die Fortsetzung sollte sich das nächste Theater kümmern. Das war das Deutsche Theater: weshalb dieses näherhin die führende Rolle am 4. November übernahm, auch wenn die Rednertribüne nach Erinnerung von Beteiligten Lenins BE-Rednertribüne aus dem Stück "Lenins Tod" war, und die allgegenwärtigen grün-gelben "Keine Gewalt!"-Schärpen von der Kostümwerkstatt der Staatsoper geschneidert wurden - für die größte Oper, die sie je ausgestattet hatte.
Dass die Fortsetzung des 7. Oktober eine Demonstration sein müsste, wussten die Beteiligten bald. Aber wofür sollten sie demonstrieren? Die Leipziger hatten es gut, die sagten gar nichts, wenn sie aus ihren Kirchen traten.
Schaut doch mal in der Verfassung nach, wofür ihr demonstrieren könnt!, schlug ein kleiner Anwalt vor, ihr könnt zum Beispiel für die Artikel 27 und 28 der Verfassung demonstrieren! Die Theaterleute besahen irritiert den kleinen Anwalt, die Artikel waren ihnen in der Tat nicht ganz gegenwärtig. Die Hauptwörter der Artikel 27 und 28, erfuhren sie, lauten Freiheit und Öffentlichkeit. Es handelt sich also um Dinge, die es rein theoretisch geben müsste, auch in der DDR. Und wenn es die nicht gibt, so gebietet schon die Verfassung, sich darum zu kümmern! So wich die Demonstrationsverweigerung des 7. Oktober einer allgemeinen Demonstrationseuphorie.
Irgendwann in diesem Herbst begriffen viele, die noch nie in ihrem Leben über Verfassungen nachgedacht hatten, wie wichtig solche Grundsatzgesetzgebungen sind. Die fieberhafte Arbeit an einer neuen DDR-Verfassung begann, und dann kam die März-Wahl 1990. Innenminister Wolfgang Schäuble rief über die offene Mauer: Ihr tretet einfach bei, und er zeigte auf einen Artikel, mit dem das ging! Und die nach bisheriger DDR-Verfassung führende Klasse, die Arbeiterklasse, übernahm zum ersten und letzten Mal die führende Rolle: und wählte die DDR einfach ab. Sie wählte Kohls und Schäubles "Allianz für Deutschland", sie wählte die D-Mark und den Beitritt nach Artikel 23.
Ist doch ein prima Gesetz, sagt Schäuble noch immer. Recht hat er. Aber kann etwas, dem man nur beigetreten ist, zum Eigenen werden? Die verfassungspatriotische Berliner Kunstausstellung "60 Jahre, 60 Werke" glaubt das nicht. Das hat doch nichts mit euch zu tun, ihr gehört doch gar nicht dazu!, sagt sie nicht nur den Ostmalern, von denen kein vor 1989 entstandenes Werk zu sehen ist.
Vielleicht ist das der Preis. Wer sich keine Verfassung gegeben hat, hat auch keine Vergangenheit. Er wirft keine Schatten mehr, keine eigenen. Er wirkt so eigentümlich vergangenheitslos in die Welt gefallen wie unsere Kanzlerin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen