Debatte Giftanschlag auf Exspion Skripal: Seht her, wie es Verrätern ergeht
Die Auseinandersetzung um das Attentat auf den Exagenten zeigt, welche Rolle die soziale Medien heute in der Propaganda spielen.
D as Attentat auf den ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter Julia ist noch nicht aufgeklärt. Zwar sind die Diplomaten wechselseitig ausgewiesen, jede Seite hat ihrer Empörung über die Verworfenheit der Gegenseite lautstark Ausdruck verliehen und denkt über weitere Gegenmaßnahmen nach. Aber auch ohne eindeutiges Resultat, kann der Fall helfen, einige Unterscheidungen zu beachten.
Die auf Chemiewaffen spezialisierten Forscher wüssten mehr, wenn man sie nachschauen ließe. Vor allem aber gibt es diese Wissenschaftler, und mit ihnen nicht nur die Kontrolleure, sondern auch die Produzenten von Chemiewaffen. Der Vertrag zu deren Begrenzung hat sie nicht beseitigt, aber in geheime Lagerstätten verbannt und so die Verdachtsmöglichkeiten vermehrt:
Der Kampfstoff Nowitschok wurde einst in der Sowjetunion produziert und nach deren Ende von der internationalen Gemeinschaft kontrolliert vernichtet. Also haben alle jetzt daran Beteiligten sehr präzise Kenntnisse, aber sie unterliegen der Geheimhaltung und damit der geheimdienstlichen Kontrolle. Und damit gibt es auch folgenreiche Vermutungen über Zusammenhänge und Verschwörungen, die „höchstwahrscheinlich“ sind.
Einiges verweist gerade in diesem Fall auf Veränderungen des Kampfgeschehens, die leicht übersehen werden. Auf eine scheinbare Ungereimtheit hat die russische Informationsmaschine verwiesen: Skripal wurde in Russland rechtskräftig verurteilt, saß seine Zeit ab und kam 2010 über einen Austausch von Spionen mit den USA in den Westen. Was er verraten konnte, hat er verraten. Warum also sollte man jetzt die Notbremse ziehen? Man hätte ihn problem- und spurlos verschwinden lassen können. Die gleiche Entlastung gilt aber auch für die Gegenseite: Warum sollte die Briten oder andere den alten Herrn töten?
Allerdings war das Attentat sorgfältig und öffentlichkeitswirksam inszeniert. Wie wir inzwischen durch britische Experten wissen, verlangte seine Durchführung einen hohen Grad an Wissen und Umsicht. Wer Nowitschok einsetzte, wusste, dass es in der Sowjetunion produziert worden war. Der zuständige russische Geheimdienst würde auf jeden Fall in Verdacht geraten. Das Gift hatte sich auf der Klinke der Haustür befunden. Dafür musste man es für seinen Einsatz kenntnisreich verändern. Es durfte bei der Berührung nicht unangenehm auffallen, etwa nass wirken, so dass das Opfer seine Hände abwischte. Es durfte aber auch nicht zu fest auf der Klinke aufsitzen, sondern musste auf die Haut übergehen. Offensichtlich also war das Attentat eine Inszenierung, eine Botschaft.
Dahinter könnte eine westliche Strategie stecken: Sie zeigt, dass die russische Seite internationale Abkommen bricht und so tut, als sei dies nicht der Fall. Sie zeigt damit auch die Unschuld des Westens, der guten Seite also. In diesem Sinne argumentiert höchst empört der russische Außenminister Lawrow. Allerdings war der parallele Fall Litwinenko von 2006, in dem radioaktives Polonium eingesetzt wurde, nicht weniger auffällig. Dass in ihm russische Dienste verwickelt waren, ist nicht nur wahrscheinlich. Immerhin wurde einer der beiden mutmaßlichen Mörder ins russische Parlament platziert.
Aber es ließe sich auch eine russische Inszenierung denken. Im Westen würden die meisten ohnehin von einer russischen Schuld ausgehen. Das Attentat wäre dann eine Warnung an Funktionsträger der russischen Seite, sich mit westlichen Diensten einzulassen.
lehrte von 1994 bis 2009 Soziologie an der Universität Potsdam, vorher an der UC Berkeley und an der FU Berlin. Er war 1985 taz-Redakteur für Osteuropa und schrieb auch danach in diesem Bereich immer wieder einmal Artikel, vor allem zu Russland und zur Transformation der Sowjetunion.
Die westliche Empörung
Immerhin haben sich Russlands Koordinaten in den letzten Jahren weiter verändert. An die Stelle des Sozialismus ist ein verpflichtender Patriotismus getreten. Der Nationalstolz kann helfen, die Komplexität von Geschichte und Gegenwart zu übertünchen. Der Verräter wird da zu einem wichtigen Bezugspunkt. Als klassische Figur ist es der die Seiten wechselnde Geheimagent. Aber auch einfachen Oppositionellen kann dieses Etikett angehängt werden, auch sie sind dann für weitere Maßnahmen freigegeben.
Gerade die große westliche Empörung könnte der russischen Seite helfen, die Botschaft zu übermitteln, die man in den eigenen Medien nicht transportieren kann, weil das Faktum geleugnet werden muss: Seht her, wie es den Verrätern ergeht, wir kriegen alle überall. Früher betrieb jede Seite ihre Selbstdarstellung als gute Seite und versuchte die andere Seite zu diskreditieren. Jetzt würde man also die Empörung der Feinde nutzen, um die eigene Seite anzusprechen. Dass die russische Dienste die modernen Medien geschickt nutzen können, haben sie bewiesen.
Die Propaganda ist in einer Weise weiterentwickelt worden, die das Problem der Glaubwürdigkeit besser mitdenkt und das Vertrauen bei spezifischen Zielgruppen sucht. Zur Verbreitung von falschen und echten Nachrichten bedarf es einer Kenntnis dessen, was das Publikum für glaubhaft hält. Alles lässt sich folgenreich vortäuschen, wenn es glaubhaft wirkt.
Die Rolle der sozialen Medien
Die neuen sozialen Medien sind zu einer Sphäre geworden, in der sich über Falschmeldungen oder Inszenierungen politische Wirkungen erreichen lassen, sofern sie auf spezifische Überzeugungsgemeinschaften zugeschnitten sind. Sie können Hass lenken und steigern oder von gefährlichen Wahrheiten ablenken. Das aber muss mit Wissen, Umsicht und Skrupellosigkeit ins Werk gesetzt werden. Das Wissen braucht man, um nur das Mögliche zu wollen.
In diesem Rahmen macht die Inszenierung des Skripal-Attentats einen durch die neuen Medien getragenen Wandel erkennbar, auch wenn die Frage, wer was getan hat, ungelöst bleiben sollte. Noch hat der Westen einige rechtsstaatliche Qualitäten, die ihn verwundbar, aber sympathisch machen. Russland hingegen spielt im globalen Machtpoker mit schwachen Karten, aber das tut es meisterhaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben