Debatte Gesundheitspolitik: 24 Milliarden zu vergeben
Die gesetzlichen Krankenkassen haben riesige Überschüsse. Sie sollten vor allem in die Verbesserung der Pflege fließen.
M itten in der größten Finanzkrise der Europäischen Union beschäftigt die deutsche Politik etwas, das man fast als „Luxusproblem“ bezeichnen könnte: Wohin mit den inzwischen 24 Milliarden Euro Überschüssen in der gesetzlichen Krankenversicherung? Mit ihrer Verwendung tut sich die Bundesregierung schwer.
Zu übermächtig sind die Begehrlichkeiten von allen Seiten der sogenannten Leistungsanbieter. Die Ärzte sind gerade dabei, eine Erhöhung ihrer Honorare auf 1,5 Milliarden Euro durchzuboxen. Die Apotheken dürfen wieder mehr für den Verkauf ihrer Arzneimittel abrechnen. Und die Pharmakonzerne fordern eine Entlastung von den Rabattverpflichtungen und Festbeträgen beim Vertrieb ihrer Medikamente.
Fragt sich allerdings: Wo bleiben die 70 Millionen Versicherten, die 2,4 Millionen Pflegebedürftigen und die über 1,4 Millionen Menschen in den Pflegeberufen? Die Kette von gravierenden Mängeln bei der Pflege in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen oder bei den ambulanten Pflegediensten reißt ja nicht ab. Gleichzeitig hält der Personalnotstand in den Pflegeberufen an.
, 69, ist Honorarprofessorin an der Bundeshochschule für Arbeit und Vorsitzende des Arbeitskreises Sozialversicherung beim Sozialverband Deutschland
Die Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte sind vor allem zu Lasten von Versicherten und Beschäftigten erfolgt: durch Zuzahlungen, Leistungsverschlechterungen, Praxisgebühren und insbesondere den ständigen Abbau von Personal in der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung.
Röslers Meisterwerk
Zum 1. Januar 2011 trat mit einem weiteren Reformgesetz in der Krankenversicherung der Einstieg in den Ausstieg aus der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft. Von dem FDP-Vorsitzenden und damaligen Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler als Meisterstück gepriesen, wird darin der Beitragssatz auf 15,5 Prozent angehoben und der Arbeitgeberanteil auf 7,3 Prozent festgeschrieben.
Die Arbeitnehmer müssen somit nicht nur 0,9 Prozent mehr leisten, sondern auch alle weiteren Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung alleine tragen.
Diese werden infolge des demografischen Wandels und der Erhöhung der Altersstrukturen sowie der Entwicklung von Medizin und der massiven kommerziellen Interessen im Gesundheitswesen mit Sicherheit kommen. Das Gesetz wurde 2010 im Eiltempo von der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag als angeblich „alternativlos“ durchgepeitscht. Dabei malte Rösler das Menetekel eines Defizits in der Krankenversicherung von 11 Milliarden Euro an die Wand.
Aus dem prognostizierten Defizit wurde auch mit Hilfe der guten Konjunktur und der von den Gewerkschaften durchgesetzten Lohnsteigerungen in kurzer Zeit ein mehr als doppelt so hoher Überschuss. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kürzte umgehend den Bundeszuschuss für den Gesundheitsfonds für 2013 um 2 Milliarden Euro.
Geld gegen Fachkräftemangel
Ginge es nach dem in der Politik immer wieder beschworenen Verursacherprinzip, wären die Überschüsse vorrangig für die Versicherten, Pflegebedürftigen und Beschäftigten in den Pflegeberufen zu verwenden. Laut Statistischem Bundesamt fehlen bereits jetzt zwischen 30.000 und 40.000 Fachkräfte in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten. Bis 2025 soll diese Fachkräftelücke auf bis zu annähernd 200.000 anwachsen.
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Pflegeleistungen geht von einem noch weit höheren Personalmangel aus. Dabei trifft der demografisch bedingte Alterungsprozess nicht nur die Kranken und Pflegebedürftigen, deren Anzahl und Anforderungen an medizinische Versorgung und Pflege zunehmen, sondern auch die in diesen Berufen beschäftigten Menschen. Davon sind über 80 Prozent Frauen.
Unabhängig davon, welche Zahlen für den Personalnotstand in den Pflegeberufen für die Zukunft zugrunde gelegt werden, sind die gefährlichen Auswirkungen des Mangels bereits jetzt deutlich spürbar. Für die Beschäftigten in der Pflege bedeutet dies eine ständige Leistungsverdichtung ihrer körperlich wie geistig besonders belastenden Arbeit. Die Folge ist eine außergewöhnlich kurze Zeitdauer ihrer Tätigkeit. Sie beträgt zwischen 8 und 15 Jahren.
Dazu kommen hohe Ausfälle wegen Krankheit sowie schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen und Erwerbsminderungen. Dringend erforderlich ist auch die spürbare Anhebung des Lohnniveaus in den Pflegeberufen, das für Fachkräfte im Schnitt zwischen 2.100 und 2.400 Euro brutto liegt. Dies steht weder in einem Verhältnis zu den Belastungen noch zu den Anforderungen und der Verantwortung für Gesundheit und Leben der ihnen anvertrauten Menschen.
Arbeitszeiten aufstocken
Auch die im europäischen Vergleich außergewöhnlich niedrige Wochenarbeitszeit, deren Konsequenz eine entsprechend geringe Entlohnung bis hin zu 400-Euro-Jobs ist, muss angehoben werden. Armut trotz Arbeit und Arbeit im Alter sind andernfalls vorprogrammiert. Die seit August 2010 geltenden Mindestlöhne für einen Teil der Pflegetätigkeiten liegen mit 8,50 Euro West und 7,50 Euro Ost am untersten Rand. Sie müssen nicht nur steigen, auch deren Unterwanderung muss unterbunden werden.
Da die Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa ausbleibt, werden schon wieder Stimmen mit der Forderung laut, Pflegekräfte aus Ländern außerhalb der Europäischen Union anzuwerben. Alle Beteiligten, also Krankenversicherungen, Arbeitgeber, Versicherte und Pflegepersonal, sollten zunächst die Ausstattung mit qualifiziertem Personal, dessen Entlohnung und die Arbeitsbedingungen in Deutschland verbessern. Damit wären mehr Menschen in der Bundesrepublik für diese Tätigkeiten zu gewinnen.
Die Überschüsse in der Krankenversicherung sind ein gutes Startkapital. Durch die Wiederherstellung und Stärkung der Solidarität in der Krankenversicherung sollte diese Politik in Zukunft weiter fortgeführt werden. Das Konzept der Bürgerversicherung bietet hierfür einen geeigneten organisatorischen Rahmen – und die notwendige Finanzierung.
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