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Debatte FlüchtlingshilfeWillkommenskultur? Hilfsbereitschaft!

Kommentar von Hilal Sezgin

Diese Wochen zeigen uns, wer der Herr im Hause des solidarischen Wohlfahrtsstaates ist. Der Staat selbst hat das Haus längst verlassen.

Spontane Solidarität: Massen an Kuscheltieren, die von Helfern gespendet wurden. Foto: dpa

W as viele Leser nicht wissen: Es ist für Autoren leichter zu kritisieren als zu loben. Am einfachsten kann man Zustimmung und Lacher nämlich dadurch erzielen, dass man etwas benörgelt. Nichtsdestotrotz will ich heute loben und notfalls sogar sentimental werden. Ich will sagen: Seit einigen Wochen vollzieht sich etwas vor unseren Augen, das für mich das schönste und ermutigendste politische Geschehen ist, das ich je selbst erlebt habe. Schöner als der Mauerfall, und bewegender noch als die Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg im Jahr 1990.

Nie ist mir das Herz so aufgegangen und habe ich etwas mitverfolgen dürfen, das so sehr an das oft ersehnte Gute im Menschen glauben lässt, wie die derzeitigen Anstrengungen von Privatleuten, Geflüchteten zu helfen.

Das Wort „Willkommenskultur“ finde ich unzutreffend. Man hört es aus zu vielen Politikermündern triefen; genau sie aber hätten längst für diese „Kultur“ und die nötigen Gesetze sorgen sollen. Das simple „Hilfsbereitschaft“ trifft es besser. „Spontane Solidarität.“ „Einfach machen“, wie die Hamburger sagen, oder wie die Internetseite der Hamburger Kleiderkammer für Flüchtlinge heißt: zusammenschmeissen.de.

Seit Wochen hole ich mir auf deren Facebook-Seite jeden Morgen eine Frühstücksportion Glauben an die Menschheit (“2.000 Hygienesets gepackt. Wir brauchen mehr Duschgel!“). Unglaublich auch all die Österreicher, Schweden und Deutschen, die mit Privat-Pkws über Grenzen fuhren und Geflüchteten jene Bewegungsfreiheit zurückgaben, die ihnen Gesetze verwehrten.

Mitglieder der Initiative „Mastanlagen Widerstand“ stopfen wiederholt Kleinbusse mit Kochgerät und Essen voll und fahren nach Ungarn und Kroatien, um für Geflüchtete zu kochen, die an den Grenzen festgehalten werden. In Röszke trafen sie übrigens auch auf Mitarbeiter einer großen internationalen Hilfsorganisation, die fragten, ob es für sie etwas Warmes gebe. Die Veganer gaben auch ihnen heißen Tee und bekochten weiterhin Hunderte mit Tomatenreis und Sojaschnetzeln.

„Ich habe nichts gegen Helfer, aber...“

Auch bei so viel Hilfe lockt natürlich die Versuchung, zu nörgeln und nicht zu loben. Überall, wo Menschen etwas machen, ließe sich theoretisch etwas besser machen. Und so ist in den letzten Tagen immer öfter auch von „Linken“ zu hören und zu lesen: „Ich habe nichts gegen Helfer, aber …„ Ein Vorwurf lautet, die privaten Helfer würde es versäumen, den Staat in die Pflicht zu nehmen.

Aber was soll dieser Verweis auf den Staat? Wir haben in Deutschland lange geglaubt, wir hätten ein funktionierendes System der Strafverfolgung. Dann kam der NSU-Skandal. Wir dachten, unsere Privatsphäre werde geschützt. Dann kam der NSA-Skandal. Wir dachten, für jeden Not- und Katastrophenfall liege in ordentlichen deutschen Schubladen ein Plan A, und B, und C bereit. Schließlich schicken wir deutsche Schäferhunde in Erdbebengebiete – unsere Hilfe ist die beste, nicht wahr?

Dann kamen Flüchtlinge, und es zeigte sich: Es gibt weder Plan A noch Plan B. Hunderte von Erwachsenen und Kindern schlafen in kalten Nächten vor den Behörden. Zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten fällt irgendeinem Offiziellen ein, dass man Geflüchtete irgendwohin bringen könnte. Klos gibt’s nicht, und solche Nebensachen wie Bettdecken können dann ja die Anwohner fix über Facebook organisieren.

In Hamburg rufen die Erstaufnahmeeinrichtungen oft bei der Kleiderkammer an und sagen: Wir brauchen für paar hundert Menschen Zahnbürsten und Monatsbinden. Und die Helfer fahren palettenweise Zahnbürsten und Monatsbinden hin.

Natürlich müssten staatliche Institutionen all das leisten, aber zu beklagen, dass sie es nicht tun, heißt, noch zu viel Vertrauen in dieses System zu haben.

Wenn sich die Verhältnisse irgendwann wieder umkehren sollten, müssen staatliche Stellen erst mal beweisen, dass sie das genauso gut können wie die privaten Helfer. Diese Wochen zeigen uns, wer der Herr im Hause solidarischer Wohlfahrtsstaat ist. Der Staat selbst hat dieses Haus längst verlassen, Teile der Bevölkerung haben es besetzt, instand gesetzt und erfüllen es mit Leben. Die Folgen für unser Verständnis von „offizieller“ Politik sind, so glaube ich, noch gar nicht zu ermessen.

Anerkennung hilft uns, weiterzumachen

Ein weiterer Vorwurf an die Helfer lautet, sie würden dies bloß machen, um sich gut zu fühlen, und sich dafür auf die Schulter klopfen. Was ist daran schlimm, sich gut zu fühlen, indem man etwas tut, was auch für andere gut ist? Wäre es besser, wenn Menschen abends nur auf der TV-Couch abhängen wollten, anstatt freudig Schals und Schuhe zu sortieren? Oder wäre es besser, sie würden dabei ständig einen Flunsch ziehen?

Und was ist falsch daran, sich nach stunden- und wochenlangem Einsatz auch mal auf die Schulter zu klopfen? Es gibt Leute, die sind stolz, wenn sie ein Kilo abgenommen haben, und ich feiere mich sogar, wenn nur mal wieder der Kühlschrank abgetaut ist. Anerkennung hilft uns weiterzumachen. Es mag peinlich berühren, wenn Menschen allzu großes Getue um ihre Leistungen machen, aber noch peinlicher und nachgerade ätzend ist es, wenn Menschen andere Menschen, die Großartiges leisten, kleinzureden versuchen.

Helfen und darüber reden

Einen dritten Vorwurf hört mensch: Hier würden weiße Helfer helfen, um qua dieser Hilfe ihren eigenen (persönlichen und strukturellen) Rassismus zu überdecken. Wie verquer! Und diejenigen, die helfen, sind gar nicht nur weiße Deutsche. Es sind Menschen mit Eltern und Großeltern aus allen Teilen der Welt, und auch Geflüchtete schließen sich, sobald sie etwas Fuß gefasst haben, den Helfern an.

In diesen Wochen der Hilfe kommen alle möglichen Menschen zusammen und tun gemeinsam das Naheliegende, das Richtige, das Gute – also genau das, gegen das es tausend Vorschriften und Einwände gibt. Sie tun es trotzdem. Dieses Tun ist nicht „nur“ karitativ, es ist hochpolitisch. Helferinnen und Helfer, ich bewundere und danke Euch.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.
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12 Kommentare

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  • "In diesen Wochen der Hilfe kommen alle möglichen Menschen zusammen und tun gemeinsam das Naheliegende, das Richtige, das Gute – also genau das, gegen das es tausend Vorschriften und Einwände gibt."

     

    Welche Vorschriften sprechen denn dagegen, dass ehrenamtliches Engagement gezeigt wird?

    Ich kenne nur diesen Staat, der alle bisherigen sozialen Jobs durch Ehrenamtler ersetzen will.

     

    Gibt es eigentlich irgendwelche Untersuchungen schon darüber, wer die Helfer sind. Der Autor scheint sie zu kennen. Ist es ein gesellschaftlicher Durchschnitt? Steht Frau Quandt da neben dem Hartz-IV-Bezieher und alle geben gleich viel an Teddybären ab?

    Gut, dass es in der BRD nur noch Menschen gibt, die was abgeben können und nicht so lange arbeiten müssen, um ihren Lohn zusammen zu bekommen, sondern noch nebenher einen ehrenamtlichen Full-Time-Job machen können.

  • Unser

    kurzer Sommer

    der Menschlichkeit erwärmt

    vielleicht auch ein versteinertes

    Herz

    © karin hutter

  • Problem ist natürlich, dass die Helfer letztlich denen in den Rücken fallen, die das System komplett ablehnen und damit auch jede Hilfe "im System" kontraproduktiv finden.

    Zwar haben diese Leute oft gute Gründe, warum sie trotzdem ganz gern von diesem System alimentiert werden (sonst heißt es "Berufsverbot!!"), aber das ist was anderes.

    Vor ein paar Tagen war ein ganz guter Artikel des Sportredakteurs hier zu lesen zu dieser Frage, wie weit Kompromisse mit der Realität gehen können. Die großen Theoretiker, die nie einen Finger rühren, kennen wir ja alle. Die haben immer gute Gründe, warum es falsch ist zu helfen oder überhaupt was zu tun. Umgekehrt gibt es dummerweise sogar eher konservativ orientierte (Till Schweiger, man lese seine sonstigen politischen Statements), die einfach helfen....

    • @Dr. McSchreck:

      "Zwar haben diese Leute oft gute Gründe, warum sie trotzdem ganz gern von diesem System alimentiert werden..."

       

      Die haben schlichtweg einen Anspruch darauf, schließlich finanzieren sie das System mit ihren Steuergeldern.

  • Ja. Bei all den Helfern handelt es sich einfach um Leute, die trotz Schweinesystem integer geblieben sind. Mit Staat, Schland oder Kultur hat das alles nix zu tun - das sind Dinge, die sich Politiker und andere Wichtigtuer aufs Brot schmieren in diesen Tagen, solche, deren Denken von -ismen und Interessen vernagelt ist. Genau jene Politiker übrigens, die seit Jahrzehnten ein weltweites System stützen, welches genau jene Folgen zeitigt, die Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Insofern alles wie gehabt: Politik und Bonzen fahren den Karren in die Scheiße, die namenlosen kleinen Leute versuchen so gut es eben geht, ihn wieder rauszuziehen.

  • Wahrlich großes Lob für alle die Ihre Zeit dafür aufbringen Hilsbereitschaft (in welchem Ausmaß auch immer) zu zeigen.

     

    Zu diesem Statement "Diese Wochen zeigen uns, wer der Herr im Hause solidarischer Wohlfahrtsstaat ist. Der Staat selbst hat dieses Haus längst verlassen" möchte ich folgendes ergänzen: Auf europäische Ebene zeigt sich nun wie es um die (insb. europäische) Solidarität bestellt ist: Wenig zu sehen von der immer wieder betonten europäischen Idee, Solidarität der Mitgliedstaaten etc. die u.a. auch zur Verleihung des Friedens-Nobelpreises geführt hat in puncto Flüchtlingsstrombewäktigung.

    Gut, sicher bei den aufgehobenen Einfuhr/Ausfuhr Zöllen soll das Gemeinschaftsgefühl gelten, damit die Wirtschaft gedeiht. Ebenso bei der Vorratsdatenspeicherung; Und ebenso beim SWIFT-Abkommen: alle Daten - nur her damit, auch weiterverpackt zu unseren Superpartnern in den USA.

     

    Beim Flüchtlingsthema hört man außer "kein Rütteln an der Dublin-Verordnung" und seit etwa zwei Jahren wiederholt, erwogene Qoutenregulung wenig vom Gemeinschaftsgedanken. Eher heisst jeder soll sich helfen wie er kann.

  • 8G
    8545 (Profil gelöscht)

    "Tue Gutes und rede darüber" :)

     

    Außerdem kann das Eine gemacht werden(konkret helfen) ohne das Andere zu lassen(auf Staatsversagen hinweisen).

     

    Es eskalieren zu lassen um das Ausmaß der Miesere deutlich zu machen, entspringt einer menschenfeindlichen Logik.

     

    Die gleiche Logik steht auch hinter den Sanktionen gegen Russland. Dort soll ja auch die Bevölkerung leiden, um Druck gegen Putin aufzubauen.

  • Danke für dein genaues Beobachten. Du sprichst mir aus der Seele.

  • Natürlich muss man den Staat in die Pflicht nehmen! Wir sind nicht das Volk, wir sind der Staat!

    • @babakuk:

      Jetzt hab ich mich extra registrieren lassen, nur um auf diesen Kommentar zu antworten:

      Knapper und präzisierer kann man das nicht formulieren!!!

  • Der Beitrag ließe sich in 4 Worten zusammenfassen: „Weniger Staat – mehr Privatinitiative!“

    Kennen wir doch? Klar! Das hat uns die (inzwischen fast vergessene) F.D.P. immer und immer wieder gepredigt. Denen wird es eine (zu) späte Genugtuung sein!

     

    War diese Schlussfolgerung beabsichtigt?

  • Danke! Genauso ist es! Seit wochen frage ich mich, wie die lage für die flüchtlinge aussehen würde, wenn ehrenamtlich nichts wäre - dass der staat in dieser hinsicht nichts unternimmt: Eine schande ist das!