Debatte Flüchtlinge: Die Schwester der Ökobewegung
Es gibt wieder Lager in Deutschland – und Entsetzen darüber. Wie die neu Ankommenden neoliberale Gewissheiten untergraben.
S eit September kennt die mediale Öffentlichkeit nur noch ein Thema: die neu Ankommenden. Es wird und wird nicht abgelöst. Es bleibt einfach da.
Dabei passieren wegweisende Dinge in der Welt – wie der Klimagipfel in Paris, Regionalwahlen in Frankreich, auch der SPD-Parteitag ist ja nicht ganz unwichtig. Darüber wird auch berichtet, doch kaum oder nur lustlos debattiert. Die Kriege allerorten schaffen es ohnehin nicht auf die westliche Tagesordnung, obwohl nun auch deutsche Truppen dafür sorgen, Syrien weiter zu zerbomben.
Selbst der US-Wahlkampf zählt nicht wirklich. Hey, Deutschland interessiert sich nicht mehr für die USA, den großen Großbruder? Das ist Zäsur. Das ist wirklich 21. Jahrhundert. Eine Ordnung verändert sich.
So lautet die alles beherrschende Frage: Was machen wir Eingesessenen jetzt bloß mit all den Menschen, die das Mittelmeer überwinden und danach mithilfe von maps.me hierhergelaufen sind, obwohl niemand der hiesigen Entscheider_innen eine solche Bewegung auf dem Zettel hatte? Und ihnen ja auch gnadenlos die ganze Bandbreite der offiziellen und inoffiziellen Sicherheitsdienste auf den Hals hetzt. Die Überraschung ist uferlos.
Syrien ist ganz nah
Mit der exklusiven Trockenheit der Privilegierten stellt Angela Merkel im Interview mit der „Tagesschau“ fest: „Wir erleben zum ersten Mal die negativen Folgen der Globalisierung.“ Sie setzt sich ja neuerlich häufiger Journalistinnen gegenüber, um die Deutschen mit unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren. Im letzten Interview mit Anne Will konstatierte sie ähnlich bahnbrechend, dass Syrien gar nicht so weit weg sei, wie sie bislang gedacht habe.
Die Hoffnung, dieses Land irgendwo im Nirgendwo ausbluten zu lassen, war damit amtlich geplatzt. Natürlich hat Merkel Verständnis für den überrumpelten Vizeexportweltmeister. Der muss jetzt nicht nur in Sachen Geografie nachlernen, sondern vor allem sein eigenes Land kennenlernen. Das ist nicht schön, aber die Chance. Das satte, desinteressierte Deutschland kann sich jetzt erneuern!
Bisher bringt schon die Schwundidee von Humanität – ein bisschen Unterkunft – die hiesigen Innenverwaltungen zum Kollabieren. Die nämlich haben seit Jahrzehnten ihre EDV nicht erneuert. Versäumt wurde ebenfalls, die Behörden untereinander kommunikationsfähig zu machen. Deswegen müssen die hier neu ankommenden Menschen tagelang – in Berlin wochenlang – in der Kälte und im Regen Schlange stehen. Deswegen warten von privaten Sicherheitsdiensten in Schach gehaltene und zusammengepferchte Menschen jahrelang auf die Bescheidung ihres Asylantrags.
Nicht die Zahl der Ankommenden ist das Problem, gleichwohl der Innenminister das behauptet. Es sind die marode Infrastruktur und Denkhaltung einer Gesellschaft, die nicht mehr auf die Idee kommen wollte, von der Welt jenseits von Urlauben und Geschäftsreisen behelligt zu werden.
Bewegung mit Strahlkraft
Ähnlich wie Mitte der 1980er Jahre, als das Atomkraftwerk in Tschernobyl explodierte, ist jetzt das Undenkbare denkbar. Damals erkannte man: Wir brauchen alternative Energien. Es war der Beginn der Ökobewegung. Und die hat nun eine Schwester bekommen. Sie hat noch keinen Namen, aber Strahlkraft.
Dank des Entsetzens darüber, dass es wieder Lager in Deutschland gibt, entsteht eine Lebenspraxis, die neoliberale Glaubenssätze verabschiedet und Solidarität hochhält. Es ist eine Graswurzelbewegung, getragen vor allem von helfenden Frauen. Sie bringen das Nötigste in die Unterkünfte und scheuen sich nicht, Orte aufzusuchen, die in ihrer Erbärmlichkeit ins Fleisch schneiden. Wer einmal in der Massenunterkunft im Tempelhofer Flughafen war oder das von der Berliner Stadtverwaltung herbeigeführte Leiden vor dem Landesgesundheitsamt gesehen hat, schläft nicht mehr gut. Der geht dort wieder hin, um etwas gutzumachen.
Aber auch Teile der Industrie fordern nun eine funktionierende Verwaltung, also vor allem Jobcenter, die ihnen Leute vermitteln – und das Ende des Arbeitsverbots für die Vertriebenen.
Bundesweit wird wieder über sozialen Wohnungsbau diskutiert. Am Berliner Alexanderplatz soll ein Zentrum für Kreative und Vertriebene, mithin eine „gentrifizierungsfeste Insel“ entstehen. Rund tausend Wohnungen und zahlreiche Ateliers könnten entstehen. Die alternative Szene hat Berlin Weltruhm verschafft. Daran, so Bezirksbürgermeister Christian Hanke (SPD), müssen wir anknüpfen.
Natürlich sind die Gegner groß. In diesem Fall müsste die Senatsfinanzverwaltung auf ein Filetstück inmitten der Stadt verzichten. Aber noch vor einem Jahr wäre es undenkbar gewesen, für ein solches Projekt auch nur ernsthaft zu streiten. Jetzt hat sich ein kleines Möglichkeitsfenster geöffnet.
Geforderte Institutionen
Im nächsten Jahr werden noch mehr Institutionen positiv auf die unerwartete Migration reagieren. Die Planungen für 2016 sind jetzt abgeschlossen, die Gelder eingestellt, und so gut wie jedes Haus wird mit Projekten für Zwangsmigrierte aufwarten.
Das Thema wird die Gesellschaft also weiter prägen, selbst wenn die Medien der Geflohenen müde werden; andere Akteure sind endlich in den Startlöchern. Gleichzeitig hat die konservative Politik grausame Fakten geschaffen. Und so wird eine reanimierte Zivilgesellschaft auf ein weiter geschliffenes Asylrecht treffen, auf eine effiziente Abschiebepraxis in vermeintlich sichere Herkunftsländer – Stichwort Afghanistan –, und noch Tausende Menschen werden im Mittelmeer und an den europäischen und deutschen Außengrenzen sterben.
Es wird also die Aufgabe der Entneoliberalisierten sein, nicht nur die Verwaltung zum lösungsorientierten Arbeiten zu bewegen, sondern es gilt auch, eiligst verabschiedete Gesetze zurückzuholen und schließlich Polizei und Justiz dazu zu bringen, die weiter eskalierenden Straftaten gegen neu Ankommende auch zu verfolgen. Bislang wurde bei den bis November gezählten 1.600 Angriffen auf Asylunterkünfte nur in zwölf Fällen Anklage erhoben. Es bleibt also spannend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland